sehepunkte 13 (2013), Nr. 11

Oliver Kase: Mit Worten sehen lernen

Der mittlerweile in die Jahre gekommene "iconic turn" hat von Anfang an die Bildbeschreibung zu einem seiner Lieblingsgegenstände erklärt, sichtbar schon an den beiden fast zeitgleich von Gottfried Boehm herausgegebenen Bänden Was ist ein Bild? und Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung, die seither als Diptychon die theoretische wie interdisziplinäre Ausrichtung bildwissenschaftlicher Fragestellungen verkörpern. Es ist daher umso erstaunlicher, dass sich erst jetzt eine Studie einer der Hochphasen der deutschsprachigen Bildbeschreibung in umfassender Form zuwendet. Zwar liegen zahlreiche Untersuchungen zu Autoren wie Winckelmann, Heinse, Lichtenberg oder Goethe vor, eine weit ausgreifende Darstellung zum 18. Jahrhundert, die zudem die erste Jahrhunderthälfte und gleichrangig die französische Kunstliteratur einbezieht, war bislang Desiderat. Etwas polemisch grenzt sich der Verfasser vom inflationär gebrauchten ekphrasis-Begriff und von der vorangegangenen Forschung ab, die sich nach seiner Ansicht bislang auf einen fiktionalen bzw. poetologischen Charakter von Bildbeschreibungen beschränkt habe (12). Dies ist in dieser Vereinfachung sicher nicht richtig. Doch bei aller Kritik, die manche mit Verve in den Raum gestellte Thesen hervorrufen mögen: Dieses Buch ist ein großer Wurf.

In einem ersten Schritt geht Kase zunächst von der Kunstliteratur des 17. Jahrhunderts aus, indem er Autoren wie Franciscus Junius und Roger de Piles um den im Jahr 1700 erschienenen und paradigmatisch behandelten Romführer Les Monumens de Rome des Kanonikers François Raguenet gruppiert. [1] Während sich bei Junius noch eine starke Orientierung an den Lebendigkeitstopoi der antiken Ekphrastik zeigt, zeichnet sich das Werk Raguenets als beispielhaft für Synästhesien und "Bildeintritte" aus, die wiederum aus den Meditationsübungen der mittelalterlichen compassio abgeleitet werden (53). In den gegen Ende des 17. Jahrhunderts sich häufenden Formeln des "je ne sais quoi" zeigt sich eine "Auflockerung der normativen Regelästhetik" (66), die wiederum die Trennung von Kunstproduktion und Kunstrezeption signalisiert.

Das 18. Jahrhundert erweist sich für Kase als das Jahrhundert der "indirekten Beschreibung", die in enger Verbindung mit dem Empfindsamkeitsdiskurs in der europäischen Kunstliteratur Konjunktur erlangt. Sie vermittelt nur einen indirekten Eindruck von Bildeinheit, indem die empathische Versenkung des Betrachters in Physiognomik, Mimik und Gestik der Figuren dominiert (113). Besonders hervorzuheben sind die Ausführungen zu Beschreibungen nach Werken von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Jean-Baptiste Greuze, anhand derer das Phänomen der "vermischten Empfindungen" als besondere Ausformung der physiognomischen Betrachtung zwischen 1760 und 1790 geltend gemacht wird. Hier gelingen besonders schlüssige Nachweise über den Zusammenhang von Bild- und Textinnovation, ohne dabei das eine gegen das andere auszuspielen. Die vorwiegend von Laien und Enthusiasten genutzten Beschreibungselemente grenzt Kase von dem technischen Vokabular der von Connoisseurs und Künstlern genutzten "analytischen" Bildkritik ab, was in der französischen wie deutschsprachigen Publizistik zu einer grundlegenden Dichotomie von "physiognomisch-expressive[r] Bildbeschreibung und kennerschaftlich-technische[r] Bildkritik" führe (160).

Letzterer, auch als "analytisch", "didaktisch" und "deiktisch" bezeichneten Beschreibungsform wendet sich das zweite Großkapitel zu. Während mit der prominenten Ausnahme der kennerschaftlichen Schriften von Jonathan Richardson sich stilkritische Diskussionen der ersten Jahrhunderthälfte allein auf die Kommentierung von Reproduktionsgrafik beschränken, etabliert sich ab 1750 das ausschnitthafte Hervorheben von Details (Deixis) als zentrales Moment in den neuen Textsorten des Galerieführers und Galeriebriefs. Ausgehend von Christian Adolf Klotz zeichnet Kase eine pädagogische Traditionslinie nach, die in den Anweisungen an den Laien den klassizistischen bzw. popularphilosophischen Programmen verpflichtet ist. Vor allem Kunstpädagogen und Zeichenmeister wie Christian Friedrich Prange in Halle oder Ernst Kämmerer in Rudolstadt stellen dem durch Winckelmann im deutschsprachigen Raum etablierten enthusiastischen Verfahren eher nüchterne und an Form und Technik orientierte Beschreibungen entgegen, in denen Kase "eine Vorstufe der kunstwissenschaftlichen Beschreibung" sieht (195). Mit den Beiträgen des Dorpater Philologen Karl Morgenstern erreicht die Bildbeschreibung nach 1800 mehr denn je den Status von Textautonomie, in der Elemente der figürlichen Ausdrucksbeschreibung und der formanalytischen Deixis auch in Hinblick auf eine Vorlesungstätigkeit vereinigt werden (262, 265). Das Kapitel schließt mit einem nicht ganz überzeugenden Ausblick auf den Status der Bildbeschreibung im späten 19. Jahrhundert, in dem wenig überraschend auf ihre Entwertung durch die Fotografie hingewiesen wird. Dass hierbei prominente Gegenbeispiele der universitär geprägten Kunstliteratur sowie ihre Vorläufer seit der Romantik nicht beachtet werden, liegt in der von Kase gelegten didaktischen Spur begründet, die den Einfluss geschichtsphilosophischer und hermeneutischer Konzepte ebenso umgehen kann wie dezidiert rhetorische Elemente in der Kunstgeschichtsschreibung des Historismus.

Mit Mut zur Akzentsetzung ordnet der Verfasser ein kaum erschlossenes Feld der Kunstpublizistik im 18. Jahrhundert, zu dem allerdings mit der gleichzeitig erschienenen Arbeit von Margrit Vogt ein ebenso quellenintensiver wie eigenständig argumentierender Beitrag vorliegt. [2] Zahlreiche Exkurse, etwa zur französischen Salonkritik, zum Raffael-Kult, zur Rezeption des Einfigurenbildes oder zum Galeriebrief, wie auch die abschließenden Überlegungen zur Parallelität von Betrachtungs- und Lektüreverständnis zeugen perspektivenreich von der souveränen Handhabe des Gegenstands. Ein umfangreicher Anhang mit ausschnitthaft wiedergegebenen Quellentexten flankiert die Studie zusätzlich. Das ist auch notwendig: Es erschließt sich dem Leser nicht immer gleich, inwieweit hervorgehobene Einzelmerkmale den jeweiligen Gesamttext determinieren, zum näheren Verständnis ist der Leser auf die nachbereitende Lektüre der Quelle angewiesen. Kompensiert wird diese Tendenz durch die zahlreichen im Satz integrierten Schwarzweiß-Abbildungen, von denen etliche - wie etwa Raffaels Transfiguration oder Davids Schwur der Horatier - im Anhang in Farbe wiederholt werden.

Die eloquent und mit analytischer Brillanz geschriebene, auf exzellenter Quellenkenntnis fußende Arbeit ist eine Geschichte der Kunstbeschreibung "von unten", die sich in zwei gleich starken Strängen - der figürlichen Ausdrucksbeschreibung der Laien und Enthusiasten einerseits und der analytisch-deiktischen Bildoberflächenbeschreibung der Connoisseurs, Künstler und Didaktiker andererseits - um die Neubewertung von meist vernachlässigten Autoren bemüht. Dass diese polare Konzeption nur in einer solchen Auswahl aufgeht und die Grenzen zwischen beiden Beschreibungstypen fließend sind, wird nur ansatzweise deutlich. Es ist daher bezeichnend, dass ausgerechnet das berühmte Winckelmann-Porträt von Anton von Maron den Einband ziert: Stellt sich doch gerade bei diesem Autor die Frage, inwieweit ein "enthusiastisches" Beschreibungsverfahren auch unter dem Diktat der Wissenschaftlichkeit und Didaxe steht, ganz besonders.


Anmerkungen:

[1] Hier hätte sich ein Vergleich mit einem einflussreichen Romführer von Filippo Titi angeboten: Studio di pittura, scultura, & architettura, nelle chiese di Roma, Rom 1674/5, erweiterte Neuauflage u. d. Titel: Descrizione delle pitture, sculture e architetture esposte al pubblico in Roma, Rom 1763 (Reprint Florenz 1978).

[2] Margrit Vogt: Von Kunstworten und -werten. Die Entstehung der deutschen Kunstkritik in Periodika der Aufklärung, Berlin / New York 2010.

Rezension über:

Oliver Kase: Mit Worten sehen lernen. Bildbeschreibung im 18. Jahrhundert (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 81), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010, 504 S., 38 Farb-, 188 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-489-9, EUR 69,00

Rezension von:
Johannes Rößler
Bern
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Rößler: Rezension von: Oliver Kase: Mit Worten sehen lernen. Bildbeschreibung im 18. Jahrhundert, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/11/19065.html


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