sehepunkte 13 (2013), Nr. 9

Gerlinde Huber-Rebenich (Hg.): Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation

Die historische Bildungsforschung und die ihr analog sich verhaltenden historischen Disziplinen der Bildungs-, Universitäts- und Schulgeschichte samt ihrer geistes- und ideengeschichtlichen Teilforschungen in nunmehr fast allen Disziplinen der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften arbeiten immer noch sehr unzureichend zusammen. Ein Forschungsparadigma zur Synthese fehlt ebenso wie interdisziplinäre, kohärente Fragestellungen. Eine Fülle an äußerst differenzierten Einzelforschungen steht einer zwar großen Zahl, freilich mit geringem Erkenntniswert veröffentlichter Zusammenschauen zur Geschichte der Universitäten in Europa, zur Geschichte der Schule in spezifisch ausgewählten Territorien und neuerdings im Kontext kulturwissenschaftlicher Problemstellungen zu Wissensordnungen, -systemen und -vermittlungen gegenüber. Angesichts der Fülle an höchst unterschiedlichen Forschungen, ungeklärter Methoden divergenter methodischer Ansätze und des Mangels einer gemeinsamen Fragestellung bzw. Verständigung über die heuristischen Differenzen drohen Sammelbände mit exzellenten Einzelbeiträgen, vor allem aber diese selbst, rasch in Vergessenheit zu geraten. Entweder werden die Beiträge aufgrund ihres hohen Spezialisierungsgrades nur noch kleinen, ohnehin miteinander vernetzten Forschergruppen bekannt oder aber die Bände werden im Blick auf die fehlende Zusammenschau marginalisiert und verschwinden im kollektiven Gedächtnis der Fachdisziplinen.

Die lateinische Philologin Gerlinde Huber-Rebenich, jetzt Bern, hat im Rahmen einer Tagung im Herbst des Jahres 2009 in der Forschungsbibliothek Gotha versucht, zumindest für das 16. Jahrhundert eine Zusammenschau unter dem Titel: "Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen" mit dem Fokus auf der methodischen Wissensvermittlung und ihrer Bedeutung innerhalb des sich unter dem Einfluss des Humanismus im Umbruch befindlichen spätmittelalterlichen Lern- und Lehrsystems zu wagen. Das ambitionierte Vorhaben verdankt sich der Einbindung in eine größere Ausstellung und einer Wissenschaftsreihe der Forschungsbibliothek zu Mutianus Rufus und dem Erfurter Humanismus. Den Referenten der Tagung stellte die Organisatorin "die Frage nach unterschiedlichen Formen der Bildungsvermittlung und des Bildungserwerbs - ausgehend von der Phase des Umbruchs, für die Mutianus Rufus und seine Gesinnungsgenossen stehen, bis hin zur Konsolidierung des Bildungswesens in postreformatorischer Zeit." (vii)

Weniger die vermittelten Inhalte als vielmehr die Methoden und die Funktion des Wissenstransfers stehen im Zentrum des Interesses. Frau Huber-Rebenich setzt damit bei einer höchst aktuellen Fragestellung der konfessionell immer noch geschiedenen Bildungsforschung ein, nämlich der Frage nach Bedeutung und Funktion des Humanismus vor allem im Blick auf den durch seine cisalpinen Vertreter vermittelten Methodenkanon. Neben der zumindest in den letzten Jahren fast schon konsensfähigen Behauptung des (Spät-)Humanismus als eines überkonfessionellen, unparteiischen Wissenschaftsansatzes, der geeignet gewesen wäre zumindest im akademischen und schulischen Bereich der höheren Bildung die Konfessionsgegensätze zu überwinden und die Energien im Blick auf das gemeinsame Ziel einer Reformation des Corpus Christianum im Alten Reich zu bündeln, werden in letzter Zeit vermehrt Stimmen laut, die zwar die vielseitige Einsatzfähigkeit und Anschlussoption späthumanistischer Grund- und Methodenbildung bestätigt, darin aber gerade auch die Möglichkeit der je unterschiedlichen, den einer virtuellen konfessionellen Homogenisierung dienenden Zwecken allerdings auch unterzuordnen. Es stellt sich mithin die Frage, ob der Späthumanismus das Dach darstellt, das die namengebende Differenzierung des konfessionellen Zeitalters überwölbt, oder aber den gemeinsamen Nährboden für die dann auf hohem Niveau um die Meinungsführerschaft kämpfenden konfessionellen Experten abgibt.

Um es vorweg zu nehmen: nach Lektüre des in seinen Einzelbeiträgen zweifellos anregenden und interessanten Bandes sind kaum Ansätze für eine Beantwortung der oben genannten Fragen zu finden. Das mag den Band auch überfordern, allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass auch die vorgegebene Fragestellung und damit die im Titel postulierte Kohärenz der Tagung zahlreichen Aufsätzen fehlt. Das hat die Herausgeberin wohl selbst bemerkt und ihrer Einleitung des apologetischen Hinweis beigefügt, dass der Wert der versammelten Aufsätze vielmehr "darin (liege), - vielfach anhand von bisher wenig oder gar nicht ausgewertetem Quellenmaterial - den Blick auf verschiedene Gesichtspunkte gelenkt zu haben, die es bei der Aufarbeitung des Gesamtkomplexes zu beachten gilt." (vii)

Der Band besteht aus 11 Einzelbeiträgen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft, die von einer knappen, das inhaltliche Profil der Tagung umreißenden Einleitung der Herausgeberin sowie vier Verzeichnissen zu den Autoren, Personen, Orten und Sachen abgerundet wird. Den Sammelband eröffnet als Vertreter der historischen Pädagogik Roelf Koerrenz (Jena) mit einer von gegenwartsorientiertem erkenntnisleitendem Interesse geprägten Analyse der programmatischen Schriften Martin Luthers zur Bildungsreform. Er trägt moderne Methoden der strukturanalytischen und -funktionalen Analyse vor und stellt die Frage nach der Kulturtradierungsfunktion von Schule. Als Ergebnis seines Beitrages kann festgehalten werden, dass Luther "die verantwortliche Ausgestaltung der Institution "Schule" im Sinne eines Kulturraumes als zentrale Herausforderung für die protestantische Gestaltung (s)einer Gegenwart" begreift (18). Den ob des methodischen wie erkenntnisleitenden Anachronismus irritierten Historiker mag beruhigen, dass trotz der zunächst sehr weit entfernten theoretischen Erörterung die Untersuchung im Großen und Ganzen die bisherige Forschung zum reformatorischen Bildungsreformansatz durchaus bestätigt. Und eben diese Spannung macht den Reiz der Lektüre des Beitrages aus: die bekannten Einsichten im Licht einer völlig anderen, teilweise fremden Fragestellung noch einmal zu überprüfen.

Die folgenden vier Beiträge des Mediävisten Harald Müller, Aachen, der Germanisten Michael Rupp, Chemnitz, und Michael Baldzuhn, Hamburg, und des Doyens der klassischen und neuen lateinischen Philologie aus Hamburg, Walter Ludwig, traktieren einzelne Schriften. Diese zählen fraglos zu dem "bisher wenig oder gar nicht ausgewerteten Quellenmaterial". Allerdings wird ihre Einordnung in das Gesamtthema der Tagung nicht immer nachvollziehbar erläutert. Müller analysiert die Studienanweisungen des Benediktiners Nikolaus Ellbog (1481-1543) aus Ottobeuren, eines typischen Vertreters des Klosterhumanismus. Das im Anhang notierte Briefverzeichnis des gelehrten Mönches ist beeindruckend, zeigt aber insgesamt "gemessen an Lehrplänen und Lehrmethoden der Zeit bescheidenes, wenig ausgefeiltes Spektrum von Bildungsanregungen more humanistico" (34). Gleichwohl lässt sich aus ihm die Anregung zur selbsttätigen Beschäftigung, mithin einer gewissen bildungsmäßig autonomen Wissensaneignung ableiten, die freilich aufgrund des abgeschiedenen Raumes der Klausur eines Konvents ihre eigenen Wege - und Grenzen - wahrzunehmen hat.

Die methodisch-didaktische Regel der imitatio analysiert Michael Rupp anhand von Schülergesprächsbüchern des Paul Schneevogel - latinisiert Paulus Niavis -, der als humanistischer Scholasticus in Halle und Chemnitz tätig war. Möglicherweise aus Rücksicht auf den Lernstand seiner Schüler zeugen die Beispielbücher, die im Blick auf andere zeitgenössische Lateinschriften durchaus als mangelhaft verstanden werden können, nur von einem teilweise reformierten Latein. Die für den Band entscheidende Frage nach der Funktion eines letztlich nur unzulänglichen Lehrbuches und seiner möglicherweise didaktischen Intentionen lässt der Autor leider offen.

Die weitverbreiteten opuscula aliquot des Erasmus von Rotterdam stellt Michael Baldzuhn vor und fragt nach Konzeption und Rezeption des Schulbuches. Die europaweite Verbreitung resultiert demnach aus der konzeptionellen Offenheit der frühneuzeitlichen Unterrichtsmaterialien und ihrer damit möglichen breiten Einsatz- und Verwendungsfähigkeit. Eine klarere Sicht auf die auf diesem Werk basierende höchst vielgestaltige Unterrichtspraxis dürfte sich aus einer weitergehenden Analyse der Text- und Überlieferungsgeschichte ergeben.

Dies dürfte auch auf das Physik-Lehrbuch Philipp Melanchthons zutreffen, dem sich Walther Ludwig widmet. Dem häufig zitierten Urteil des Melanchthon-Schülers David Chyträus folgend erweist sich der Wert des Werkes von Melanchthon an dessen Interessen weckender und leicht fasslicher Weise der Darbietung. Freilich setzt sich der praeceptor Germaniae auch selbst enge Grenzen: die klare, leicht einsehbare und rational-kasuellen Regeln genügende Darstellung lässt keinen Raum zum Widerspruch und verstellt somit den Blick auf die mit der kopernikanischen Wende verbundenen Einsichten der frühmodernen Naturwissenschaft.

Der Tübinger Kirchen- und Theologiehistoriker Volker Leppin erläutert in vier Thesen Bedeutung und Funktion der akademischen Disputation und ihrer politischen Verwendung zur Durchsetzung der Reformation im oberdeutschen Bereich. Dass diese Lehr- und Examensform in den öffentlichen Raum des politischen Diskurses überführt wird, impliziert eine erhebliche Transformationen im Blick auf Inhalte wie auch formale Gestaltung. Am Beispiel der Zürcher Disputation akzentuiert Leppin vier Aspekte eines zukünftigen Forschungsprojekts zur Erschließung und Interpretation dieses Quellenbestandes: Zunächst ist es die affirmative Lehrmitteilung, sodann die Entscheidung über die fragliche Wahrheit, die - öffentliche - Propagierung und die demonstrative Durchsetzung, welche das Medium Disputation für die Zwecke der Verbreitung des reformatorischen Gedankengutes als geeignet erscheinen lassen. Der Aufsatz ist viel zu knapp, um daran eine Diskussion anzuschließen. Die sollte sich vielmehr an die Veröffentlichungen der Umsetzung dieses ambitionierten Ansatzes knüpfen.

Der durch einige Studien zum frühneuzeitlichen Universitäts- und Bildungswesen bereits ausgewiesene Historiker Thomas Töpfer untersucht die Loci communes Philipp Melanchthons auf ihre Bedeutung und Funktion innerhalb des reformatorischen Vermittlungsbemühens zwischen Humanismus, Reformation und Konfessionspolitik. Die Bedeutung dieses vielfach nachgedruckten und methodisch hoch einflussreichen Kompendiums steht in zahlreichen Referenzwerken zweifelsfrei fest. Gleichwohl analysiert Töpfer höchst differenziert die Bedeutung und Funktion der Loci als Bekenntnis und grundlegendes Kompendium, die mit dem schwindenden Ansehen seines Verfassers ebenfalls in Misskredit gerieten. Damit wird die Hochschätzung des Werkes nicht minimiert, aber einer undifferenzierten Melanchthonverehrung wohltuend der historische Filter konkreter Anwendung vorgehalten.

Daniel Gehrt, Mitarbeiter in Gotha, Franz Körndle, Musikwissenschaftler aus Augsburg und Christel Meier, lateinische Philologin aus Münster stellen disziplinengemäß Lehrbücher des ausgehenden 16. Jahrhunderts vor. Dabei zeigt sich die zunehmende Vereinnahmung der Lehrwerke im Kontext konfessionalisierender Hochschul- und Bildungspolitik und eine weiterreichende Differenzierung der lutherischen Konfession unter dem Einfluss der innerprotestantischen Lehrstreitigkeiten. In seinen zwei Beiträgen öffnet der Musikhistoriker Körndle bisher weitgehend unbekannte Kompendien zum Musikunterricht im ausgehenden Spätmittelalter und der beginnenden Konfessionalisierung. Zunächst untersucht er Vokabularien für den Musikunterricht und sodann die Bedeutung von Musik im pädagogischen Theater der Jesuiten und ihrer schulisch basierten katholischen Reform. Dem Theater widmet sich abschließend auch Christel Maier in einer bemerkenswerten Studie zum Bildcharakter des frühneuzeitlichen Theaters. Ihr Beitrag ist durchaus als Projektbeschreibung auf das Gesamtthema der Tagung hin ausgerichtet und leistet theoretisch wie am konkreten Beispiel entscheidende Hinweise auf Funktion, Gestalt und Diversität der Theaterinszenierungen und des in ihnen verwendeten Bildmaterials im Blick auf deren exemplarische, aktionale, emblematische und affektbezogene Qualität. Sie öffnet dabei zugleich den fachdisziplinären Diskurs für verschiedene Ansätze der Medienforschung, der Kulturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der klassischen Disziplinen von Theologie, Philosophie und Geschichte.

Der Rezensent legt das Buch mit dem ambivalenten Gefühl aus der Hand, etliches gelernt zu haben, von vielem angeregt und auf neue Phänomene hingewiesen worden zu sein. Freilich fehlt die innere Kohärenz der Beiträge und eine zur Synthese verhelfende Gesamtperspektive, die zumindest im Bandtitel erwähnt worden ist. Insofern sollte der Band noch weitere Forschungen anregen und nicht nur in Bibliotheken um der Vollständigkeit des Sammelschwerpunktes willen inkorporiert werden.

Rezension über:

Gerlinde Huber-Rebenich (Hg.): Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 68), Tübingen: Mohr Siebeck 2012, XI + 263 S., ISBN 978-3-16-151973-4, EUR 89,00

Rezension von:
Markus Wriedt
Fachbereich Evangelische Theologie, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Markus Wriedt: Rezension von: Gerlinde Huber-Rebenich (Hg.): Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/09/22434.html


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