sehepunkte 13 (2013), Nr. 5

Michael Hochedlinger: Österreichische Archivgeschichte

Archivgeschichte galt lange als Orchideenfach ohne weiterreichendes Analysepotential. Innovative Studien zur Rolle des deutschen Archivwesens im Nationalsozialismus konnten dieses Verdikt in den vergangenen Jahren zwar grundlegend erschüttern, doch ist der Weg zu einer umfassenden deutschen Archivgeschichte der Neuzeit noch immer sehr weit. Ein erheblicher Teil der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts - man denke lediglich an die Bedeutung von Archiven und Archivaren für die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft - ist somit weiterhin nur sehr unzureichend erforscht. Eine noch zu schreibende deutsche Archivgeschichte hätte zweifellos auch die Entwicklung der "Archivgroßmacht" (13) Österreich zu berücksichtigen. Zum einen bestanden zumindest bis 1945 enge persönliche und institutionelle Verflechtungen zwischen dem Archivwesen Deutschlands und Österreichs. Zum anderen hinterließen die von den Habsburgern über Jahrhunderte hinweg getragene Kaiserkrone des Alten Reiches und das durch Österreich ausgeübte Präsidium des Deutschen Bundes ein umfangreiches schriftliches Erbe, das zu den zentralen archivalischen Quellen deutscher Geschichte zählt. Die im Rahmen eines deutsch-österreichischen Kooperationsprojekts unter Federführung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen durchgeführte Erschließung der Akten des kaiserlichen Reichshofrats verdeutlicht das immense, bislang nur ansatzweise ausgeschöpfte Potential der Wiener Bestände für weite Teile der Forschung. [1]

Mit der vorliegenden Studie wendet sich Hochedlinger, der als Archivar am Österreichischen Staatsarchiv tätig ist, gegen einen wachsenden Abstand zwischen Archiven und universitärer Forschung und gegen eine zunehmende Verwässerung des klassischen Archivbegriffs durch die neuere Kulturgeschichte (Stichwort "Wissensspeicher"). In Anlehnung an Wolfgang Leesch definiert er das Archiv deshalb restriktiv als "Inbegriff von Schriftstücken und sonstigen Dokumenten, die bei physischen oder juristischen Personen aus deren geschäftlicher oder rechtlicher Tätigkeit erwachsen sind und als Quellen und Belege der Vergangenheit zur dauernden Aufbewahrung an einem gegebenen Ort bestimmt sind" (13).

Im ersten Abschnitt widmet sich der Autor der "Organisationsgeschichte des staatlichen Archivwesens" (21-257) und beschreibt die Entwicklung der Schriftgutproduzenten auf landesfürstlicher, landständischer und auf Reichsebene. Deutlich wird die Vielgestaltigkeit der österreichischen Archivlandschaft, deren Häuser sich im Laufe des 19. Jahrhunderts schrittweise von "Arsenalen der Macht" (23) zu "Quellenlagern der Geschichtswissenschaft" (71) entwickelten. Infolge der auf Landesebene bis 1918 maßgeblichen Verwaltungsstruktur von landesfürstlich-staatlichen und autonom-ständischen Behörden bildete sich vielerorts zunächst eine zweigleisige Archivorganisation heraus, die erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie zu eigentlichen Landesarchiven zusammengeführt wurde. Auf gesamtstaatlicher Ebene trat neben das 1749 gegründete Hausarchiv (spätere Nomenklatur: Haus-, Hof- und Staatsarchiv bzw. HHStA) eine wachsende Zahl eigenständiger Ministerialarchive. Pläne, die auf eine stärkere Zentralisierung und länderübergreifende Fachaufsicht (etwa nach dem Muster der Generaldirektion der preußischen Staatarchive) zielten, wurden nicht realisiert. 1894 kam es lediglich zur Einrichtung eines Archivrats als eines am Innenministerium angesiedelten Beratungsgremiums.

Wie Hochedlinger anhand der Propagandatätigkeit des Kriegsarchivs und der archivischen Beutezüge in Serbien aufzeigt, war das österreichische Archivwesen auf vielfältige Weise in den Ersten Weltkrieg eingebunden. Das Jahr 1918 brachte freilich nicht nur das Ende des Vielvölkerstaates, sondern auch "den bis dahin größten Fall einer Aufteilung archivalischer Erbstücke unter Nachfolgestaaten" (169). Die Bilanz der Zwischenkriegszeit fällt zwiespältig aus. Zwar erwarb sich eine neue Generation von am Institut für Österreichische Geschichtsforschung ausgebildeten Archivaren um Ludwig Bittner und Lothar Groß (beide wirkten am HHStA) mit viel Fachverstand und Arbeitsethos bleibende Verdienste um die Erschließung und Erforschung der Bestände. Die Kehrseite dieser Entwicklung bestand jedoch in einer ausgesprochenen Nähe zum Nationalsozialismus, die bereits vor 1938 zu zahlreichen Kontakten zu Forschungsinstitutionen des "Dritten Reiches" führte. Die mit dem "Anschluss" verbundene Hoffnung auf Zentralisierung des weiterhin zersplitterten österreichischen Archivwesens erfüllte sich hingegen nur bedingt. Die Wiener Zentralarchive wurden zwar mit Ausnahme des Kriegs- und des Verkehrsarchivs 1940 zum Reichsarchiv Wien zusammengefasst, doch entzogen sich die ostmärkischen Gauarchive einer Fachaufsicht durch das Reichsarchiv, und auf Reichsebene gab bald Ernst Zipfel als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive den Ton an.

Gleichwohl blieb die Haltung gegenüber dem Regime auch in der "Ostmark" von einer "diensteifrigen Kooperationsbereitschaft" (221) geprägt, die auf zahlreichen Feldern zu einer tiefen Verstrickung des Archivwesens in die nationalsozialistische Gewaltpolitik führte. Genannt seien an dieser Stelle lediglich die Stichworte "Südostforschung", Ariernachweise, Unterstützung antisemitischer Agitation, Ausschluss jüdischer oder ausländischer Benutzer und der Archivalienraub in den besetzten Gebieten. Spätestens seit 1943/44 prägten im Zeichen des sich verstärkenden Bombenkrieges der Archivalienschutz und die Auslagerung umfangreicher Bestände den archivischen Alltag. [2] Eine "Stunde Null" bedeutete das Jahr 1945 auch in Österreich keineswegs, doch war hier der fachliche Traditionsbruch zweifellos stärker ausgeprägt als in Deutschland. Die Entlassung zahlreicher belasteter Archivare führte nicht nur im Österreichischen Staatsarchiv, das 1945 an die Stelle des Reichsarchivs trat, zu einem erheblichen personellen Aderlass, der die Beibehaltung des hohen fachlichen Niveaus der Zwischenkriegszeit erschwerte.

Im zweiten Abschnitt (259-332) richtet Hochedlinger den Blick auf "andere Archivtypen" und würdigt die reichhaltige Überlieferung der Kirchen- und Klosterarchive sowie anderer Religionsgemeinschaften wie der Juden. Zudem bietet er einen Überblick über die Situation im kommunalen Bereich. Da derzeit nur rund ein Drittel der 178 Städte Österreichs ein eigenes Archiv unterhält und beispielsweise im Bundesland Kärnten (Stand 1998) kein einziger hauptamtlicher Kommunalarchivar tätig ist, kommt der durch die Landesarchive wahrgenommenen Archivpflege besondere Bedeutung zu. Kapitel zu Adels-, Universitäts-, Wirtschafts-, Parlaments-, Parteien- und Medienarchiven schließen sich an.

Der Abschnitt "Querschnitte" (333-452) enthält Ausführungen zum Sozialprofil der österreichischen Archivare und zu zentralen archivischen Tätigkeitsfeldern. Behandelt werden unter anderem das Curriculum am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (wo seit 2008 ein fünfsemestriges Masterstudium "Archivwissenschaft und Medienarchive" angeboten wird), Fragen der Überlieferungsbildung, des Archivbaus, der Bestandserhaltung und der gesetzlichen Grundlagen der Benutzung, die im Staatsarchiv seit 2004 übrigens kostenpflichtig ist. Um deutliche Worte ist Hochedlinger nicht verlegen. Gezeichnet wird das Bild einer österreichischen Archivwissenschaft, die den Anschluss an internationale Standards nach 1945 auf vielen Feldern verloren hat. Der Autor kritisiert beispielsweise eine "im Vergleich mit anderen Archivtraditionen sehr weitgehende Abwesenheit von öffentlicher und transparenter Verzeichnungsleistung überhaupt" (382), eine "erschreckende Unbedarftheit und fachsprachliche Unbeholfenheit selbst führender österreichischer Archivare" (386), mangelnde Einflussnahme auf die Entwicklung von Dokumentenmanagementsystemen in der Verwaltung oder eine "sehr schwache Leistungsbilanz" der Archivpflege (419).

Eine thematisch gegliederte Auswahlbibliographie und ein Register runden das reich illustrierte Handbuch, das leider über keinen Anmerkungsapparat verfügt, ab. Damit liegt eine verdienstvolle Syntheseleistung vor, die Maßstäbe setzt und zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Forschungen bietet. Ohne einer polemischen Gegenüberstellung von Historikerarchivaren und Recordsmanagern das Wort zu reden, bleibt allerdings fraglich, inwiefern der von Hochedlinger präferierte Typus des selbst forschenden Archivars weiterhin als allgemeingültiges archivarisches Berufsbild angesehen werden kann. Es sei zwar zugestanden, dass der Stellenwert des Auswertungsauftrages archivspartenspezifisch stark variiert und auf kommunalarchivischer Ebene in der Regel besonders stark ins Gewicht fällt. Bei der Lektüre des Bandes drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass die von Hochedlinger diagnostizierte Krise der österreichischen Archivwissenschaft in erster Linie mit auch anderen Orts bestehenden Defiziten in den Bereichen Behördenbetreuung, Überlieferungsbildung, Erschließung und Bestandserhaltung zusammenhängt. Bei der gewissenhaften Erledigung dieser den öffentlichen Archiven gesetzlich aufgetragenen Tätigkeiten leistet die Geschichtswissenschaft letztlich nicht mehr (aber auch nicht weniger!) als notwendige hilfswissenschaftliche Dienste.

Gegenüber Universitäten, Museen und Bibliotheken definieren die genannten Felder zugleich das Alleinstellungsmerkmal des Archivwesens in der Wissensgesellschaft. Eine konsequente Pflege dieses Merkmals dürfte in Verbindung mit einer offensiven Netzpolitik der Aufzucht "archivarischer Mauerblümchen" (448) wirksam entgegenwirken. Das Papierzeitalter, das den Gegenstand des vorliegenden Handbuches bildet, nähert sich seinem Ende. Vor dem Internetzeitalter muss dem Archivwesen nicht bange sein - sofern es den technologischen Wandel nicht nur leidend erduldet, sondern aktiv mitgestaltet.


Anmerkungen:

[1] Siehe http://www.reichshofratsakten.de

[2] Vgl. Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hg.): Österreichs Archive unter dem Hakenkreuz, Innsbruck 2010, Rezension in sehepunkte 11 (2011); URL: http://www.sehepunkte.de/2011/01/19015.html. (3.5.2013)

Rezension über:

Michael Hochedlinger: Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters (= Historische Hilfswissenschaften; Bd. 5), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 522 S., 281 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-71960-4, EUR 39,80

Rezension von:
Tobias Schenk
Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Schenk: Rezension von: Michael Hochedlinger: Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 5 [15.05.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/05/23253.html


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