sehepunkte 13 (2013), Nr. 1

Julian Krüger: Nero

In seinem Vorwort zu Julian Krügers Nero-Biographie hebt Alexander Demandt hervor, dass das Buch "alle älteren einschlägigen Werke an Ausführlichkeit übertrifft." (8) Tatsächlich legt Krüger mit seinem 654-Seiten-Werk eine Lebensbeschreibung des letzten iulisch-claudischen Kaisers vor, die sich in Sachen Detailreichtum keinesfalls hinter anderen in den letzten Jahren erschienenen Biographien zu Nero verstecken muss. [1] Aus dieser Ausführlichkeit ergeben sich sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Buches.

Der Aufbau ist streng chronologisch gegliedert: Nach einer im Vergleich zu den anderen Teilen relativ kurzen Einleitung, in der Krüger sich der Jugend Neros und der Zeit bis zu seiner Thronbesteigung widmet, beschreibt er Jahr für Jahr die Ereignisse in Rom, Italien und den Provinzen von 54 bis 68 nach Christus. Den Abschluss bildet ein thematisch angelegter Überblick über "Gesellschaft und Politik in neronischer Zeit". (489) Der ausführliche Anhang bietet unter anderem einen prosopographischen Überblick über die Inhaber des Konsulats in neronischer Zeit sowie ein Register und ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, über die sich das Werk erschließen lässt.

Besonderen Wert legt Krüger auf die antiken Textquellen zu Nero, insbesondere auf die Lebensbeschreibung des römischen Autors Sueton sowie auf die die Regierungszeit Neros betreffenden Abschnitte in den Geschichtswerken des Tacitus und des Cassius Dio. Zudem zieht der Autor für die Aufarbeitung des Jüdischen Krieges, der er einen großen Teil des Buches widmet, die Werke des jüdischen Historiographen Flavius Josephus heran. Krüger orientiert sich in seiner eigenen Herangehensweise äußerst eng an den Angaben dieser Zeugnisse und zeichnet die Regierungszeit Neros hauptsächlich anhand der Aussagen antiker Schriftsteller nach. Auf diese Weise bietet er dem Leser zwar eine Zusammenschau der antiken literarischen Tradition zu Nero. Auf der anderen Seite bringt dieser zentrale Charakterzug der Biographie jedoch mehrere Probleme mit sich, die hier angesprochen werden müssen.

So ist zunächst zu konstatieren, dass gerade bei einem solchen Fokus auf die literarischen Texte zwingend eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Quellen stattfinden muss - handelt es sich doch sowohl bei biographischen wie historiographischen Werken um literarische Texte, die nicht lediglich Ereignisse wiedergeben, sondern ihren Stoff mit einer bestimmten Intention auswählen, anordnen und interpretieren. Krüger beschränkt sich leider an vielen Stellen darauf, die Aussagen der antiken Autoren zu paraphrasieren, ohne dabei eine Analyse vorzunehmen (exemplarisch 146f.). Als Beispiel sei die bei Tacitus überlieferte Rede des Vindex vor den sich gegen Nero auflehnenden Truppen in Gallien angeführt. Gerade die Form der Rede diente in historiographischen Werken nicht der reinen Ereigniswiedergabe, sondern wurde vielmehr interpretierend eingesetzt. Wenn Krüger die Äußerungen des Vindex unter anderem dem "schlichte[n] Gemüt des Senators aus der gallischen Provinz" (455) zuschreibt, lässt dies die gebotene kritische Distanz zu den Quellen vermissen. Um eine systematische Einordnung der literarischen Quellen vornehmen zu können, wäre zudem vielfach der Rekurs auf epigraphische, numismatische oder archäologische Zeugnisse vonnöten, auf den Krüger jedoch oftmals verzichtet.

Krüger gibt einleitend an, insbesondere anhand "der Handbücher, verschiedener Einzelarbeiten und Monographien" (13) die Literaturlage aufarbeiten zu wollen. Es ist jedoch auffallend, dass sich die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur insbesondere in den systematischeren Abschnitten oftmals auf Werke vom Ende des vorletzten oder vom Anfang des letzten Jahrhunderts beschränkt. Es finden sich zahlreiche Fußnoten, die auf die Untersuchung der Regierungszeit Neros von Herman Schiller verweisen, ohne ausreichend deutlich zu machen, dass dieses Werk bereits aus dem Jahr 1872 stammt. [2] Auch im Abschnitt zur allgemeinen Geschichte des frühen Christentums (259-272) setzt sich Krüger hauptsächlich mit Thesen Eduard Meyers oder Theodor Keims auseinander [3], obwohl auf diesem Gebiet gerade in den letzten Jahren einige grundlegende Werke erschienen sind. [4] Die Einordnung des Nero-Bildes in die altertumswissenschaftliche Forschungstradition (566-572) beschränkt sich auf eine knappe Zusammenschau verschiedener Werke von Schiller bis Christ. [5] In den Anmerkungen versäumt es Krüger zudem oftmals, sich argumentativ mit den Thesen der Sekundärliteratur auseinanderzusetzen (exemplarisch 26, Anmerkung 96).

Zwar ist Krüger offenbar bemüht, wirklich jedes Ereignis der Regierungszeit Neros zu erfassen. Dabei drängt sich jedoch zuweilen die Frage auf, weshalb man beispielsweise auf die Erwähnung des Todes zweier "berühmte[r] Männer" (127), der weder für die systematische Analyse noch für die Ereignisgeschichte von Belang war, nicht hätte verzichten können. Bezeichnenderweise werden solche Begebenheiten wiederholt unter Überschriften wie "Weitere Ereignisse" (126) oder "Verschiedenes" (203) zusammengefasst. Die streng chronologische Gliederung des Buches führt mitunter zu unklaren Gewichtungen und strukturellen Sprüngen, insbesondere im systematischer angelegten Teil V: Krüger beschäftigt sich ausführlich mit der Beschreibung des römischen Gastmahles (501-511), um im nächsten Abschnitt (noch immer unter der Überschrift "Gastmähler") ansatzlos über Neros Grausamkeit zu berichten. Ein Übergang, der erkenntlich machen würde, wie sich diese beiden Teile zueinander verhalten, fehlt (511: "Zurück zu Nero."). Andere Themenkomplexe, die für eine Untersuchung des neronischen Herrschaftsverständnisses von zentraler Bedeutung wären, werden dagegen nur summarisch abgehandelt: So nehmen die Äußerungen zu Nero und dem Militär lediglich eine halbe Seite ein. (553) Eher an das Genre der antiken Biographie erinnern zudem Abschnitte wie "Äußeres und Gesundheit" (490) und "Bemerkungen zu Neros Persönlichkeit" (491).

Krügers Nero-Biographie bietet dem Leser einen unverstellten und sehr detaillierten Blick auf die antiken literarischen Zeugnisse. Ein systematischer Zugang zur Regierungszeit des Kaisers wird dadurch allerdings eher erschwert.


Anmerkungen:

[1] Zu nennen sind hier unter anderem S. Elbern: Nero. Kaiser, Künstler, Antichrist, Mainz 2010; G. Waldherr: Nero. Eine Biographie, Regensburg 2005; sowie E. Champlin: Nero, Cambridge/Mass. [u.a.] 2003.

[2] H. Schiller: Geschichte des Römischen Kaiserreichs unter der Regierung des Nero, Berlin 1872.

[3] E. Meyer: Ursprung und Anfänge des Christentums. 3 Bd. Stuttgart/Berlin 1921-1923; T. Keim: Rom und das Christenthum, Berlin 1881.

[4] Verwiesen sei hier nur auf die Beiträge in S. Harvey / D. Hunter (eds.): The Oxford Handbook of Early Christian Studies, Oxford 2008.

[5] Hierzu jetzt C. Ronning: Zwischen ratio und Wahn. Caligula, Claudius und Nero in der altertumswissenschaftlichen Forschung, in: A. Winterling (Hg.): Zwischen Strukturgeschichte und Biographie, München 2011, 252-276.

Rezension über:

Julian Krüger: Nero. Der römische Kaiser und seine Zeit. Mit einem Geleitwort von Alexander Demandt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 656 S., 5 Karten, ISBN 978-3-412-20899-8, EUR 49,90

Rezension von:
Wolfgang Havener
EXC 16 Kulturelle Grundlagen von Integration / FB Geschichte & Soziologie, Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Havener: Rezension von: Julian Krüger: Nero. Der römische Kaiser und seine Zeit. Mit einem Geleitwort von Alexander Demandt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/01/22107.html


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