sehepunkte 12 (2012), Nr. 11

Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus

Polen in der Zwischenkriegszeit, das ist die Geschichte eines Staates, der sich neu erfinden musste - als gemeinsames Wirtschaftsgebiet, aber auch als politischer Diskursraum. Nach weit mehr als einem Jahrhundert ohne Selbstständigkeit stand das wieder entstandene Gemeinwesen somit vor einer Fülle unterschiedlichster Probleme, von denen eines der wichtigsten die Frage war, was wohl die innerhalb der Grenzen lebenden Menschen einen könnte, konkret die Frage nach der Staatsidee, nach der Bedeutung von Nation. Stephanie Zloch geht es in ihrer an der Humboldt-Universität entstandenen Dissertation genau darum, zu analysieren, welche politischen und gesellschaftlichen Diskurse zwischen 1918 und 1939 gesamtstaatliche Identitätsrelevanz erhielten und mit welchen Vorstellungen von "Nationalismus" Polen sich als Nation neu konstituierte. Da die Staatswerdung am Ende des Ersten Weltkriegs einigermaßen unverhofft kam und sich die geopolitische Großwetterlage geradezu grundstürzend änderte, waren in kurzer Zeit neue gemeinschaftsstiftende Elemente vonnöten. Dabei stellte sich bald heraus, was Zloch eingangs ihres Buchs ganz zu Recht deutlich macht: "Eine zwangsläufige und logische Konsequenz der polnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts war die Staatsgründung nicht." (14)

Wenn sich Polen also neu erfinden musste, wie ging seine Gesellschaft dabei vor? Und welche Auswirkungen hatte das "inventing of tradition" (Hobsbawm) auf die Gesellschaft? Um auf diese Frage Antworten zu finden, legt Zloch ein speziell zugeschnittenes Analyseraster über die 21 Untersuchungsjahre. Sie fokussiert ihr Interesse auf politische Partizipationsmöglichkeiten, den gesellschaftlichen Wandel und die immer stärkere Beachtung von Ethnizität. Dies tut sie anhand einiger konkreter Untersuchungsfelder: "Wahlkämpfe und Wahlen, politische Feste, Schule, kommunale Selbstverwaltung sowie Nation und Krieg" (27). Schließlich stehen drei Zeitabschnitte im Zentrum - der Beginn der Zweiten Republik (1919 bis 1922), der Übergang von der Demokratie zum Autoritarismus (Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre) und die letzten Jahre des polnischen Staates zwischen 1935 und 1939.

Dieses gewaltige Forschungsprogramm arbeitet Zloch in drei an ihren zeitlichen Querschnitten orientierten Kapiteln in einer Fülle kleiner Schritte ab. Auf breiter Literaturbasis und grundiert durch wichtige Arbeiten der Nationalismusforschung dringt Zloch tief in die politische Kultur, in Staats- und Gesellschaftsentwürfe ein und kann so immer wieder spannende Einzelaspekte herausarbeiten, zum Beispiel den Beginn der Erinnerungsgeschichte an die gewonnene Schlacht gegen die sowjetrussische Armee, das "Wunder an der Weichsel", Raumvorstellungen in der Staatsgründungsphase (gut die kritische Betrachtung zur vermeintlich klaren Dichotomie von "jagiellonischer" und "piastischer" Idee, 123 ff.) oder die facettenreiche Faschismusrezeption, auch die Geschichte staatlicher Inszenierung und Festkultur. Dabei wird deutlich, wie radikal zerrissen Politik und Öffentlichkeit in Polen waren und wie sich die Vorstellungen von Staat und Nation oft unversöhnlich gegenüberstanden.

Der Versuch, die Politik- und Sozialgeschichte der Zweiten Republik methodisch innovativ zu durchpflügen, führt jedoch zwangsläufig auch zu einer Reihe von Einschränkungen. So steht der im Untertitel der Arbeit formulierte Anspruch, "Politik und Gesellschaft" umfassend zu schildern, im Widerspruch zu der zwar facettenreichen, aber auch recht heterogenen und keineswegs geschlossenen Darstellung. Auch einen weiteren Anspruch kann sie nicht einlösen, nämlich "perspektivisch [...] die Gesamtgesellschaft Polens" in den Blick zu nehmen. Sie ist als Hintergrundfolie zwar vorhanden, doch stets im Lichte der von Zloch ausgewerteten Quellenbestände aus Warschau (Staats- und Woiwodschaftsverwaltung) und Umgebung. Die analysierten parteinahen Zeitungen und Verbandszeitschriften sind ebenfalls fast durchweg in der Hauptstadt erschienen. Die Perspektive des Buchs ist deshalb weitgehend eine Warschauer, während die komplexen Prozesse des Zusammenwachsens eines aus verschiedenen Bestandteilen gefügten Staates mit je unterschiedlichen Traditionen, Prägungen, Ethnien und Nationsvorstellungen zu kurz kommen. Außerdem verlässt die Autorin sich bei der Beschreibung zahlreicher Einzelaspekte jeweils auf eine maßgebliche Informationsquelle - für das Schulwesen ist das zum Beispiel eine Lehrerzeitung (S. 209-232 - von den 105 Fußnoten dieses Abschnitts zur Neuordnung des Schulwesens nach 1918 beziehen sich 64 auf diese eine Quelle, weitere 14 auf eine Zeitschrift für Gutsbesitzerinnen; in den weiteren Passagen zur Schule verhält es sich ähnlich), für die "umkämpften Feiertage" seit 1935 sind es weitgehend zwei Zeitungen, je eine der Linken und der Nationaldemokraten (414 ff.). Dies schränkt die Aussagekraft vieler Passagen ein, wobei skeptisch stimmt, dass auch die ereignisgeschichtliche Schilderung oft auf diesen Quellen basiert.

Schließlich verspricht der Haupttitel eine Überblicksdarstellung zu "Nationalismus in Polen". Auch dieses Versprechen kann Zloch nicht einlösen, denn es fehlen für das Thema zentrale Aspekte wie etwa der große Bereich von Ästhetik und Fiktion, also die Imagination oder Legitimierung von Nation in Literatur, Kunst oder Musik. Ohne dies lässt sich eine Geschichte des Nationalismus in Polen eigentlich nicht schreiben, und so wäre ein besserer Titel für das Buch: "Aspekte von Nationalismus in Polen".

Zahlreiche derartige Aspekte aufzuzeigen, ist sicherlich die Stärke der Arbeit: Sie demonstriert an vielen Beispielen sehr plastisch die Praktiken symbolischer Politik und wirft Schlaglichter auf die zerklüfteten Landschaften von Politik und Gesellschaft im Polen der Zwischenkriegszeit, wie dies in der deutschsprachigen Forschung in dieser Tiefe bislang kaum geschehen ist. Besonders hervorzuheben sind im Übrigen die begriffliche Präzision und sprachliche Souveränität der Autorin, deren Werk nicht zuletzt auch Anregungen für die polnische Geschichtswissenschaft liefert, die der Zweiten Republik in den letzten Jahren nicht sehr viel Beachtung geschenkt hat.

Rezension über:

Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 78), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 631 S., ISBN 978-3-412-20543-0, EUR 64,90

Rezension von:
Peter Oliver Loew
Deutsches Polen-Institut, Darmstadt
Empfohlene Zitierweise:
Peter Oliver Loew: Rezension von: Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/11/18446.html


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