Rezension über:

Elke Stein-Hölkeskamp / Karl-Joachim Hölkeskamp (Hgg.): Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München: C.H.Beck 2010, 688 S., 111 Abb., 5 Karten, ISBN 978-3-406-60496-6, EUR 38,00
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Rezension von:
Jörg Fündling
Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Fündling: Rezension von: Elke Stein-Hölkeskamp / Karl-Joachim Hölkeskamp (Hgg.): Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/18493.html


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Elke Stein-Hölkeskamp / Karl-Joachim Hölkeskamp (Hgg.): Die griechische Welt

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Die erfolgreiche Adaption eines Buchformats, das wie kein zweites den "mnemonic turn" der letzten zwei Jahrzehnte markiert, an die Bedingungen der klassischen Antike ist keine Selbstverständlichkeit. Es trifft sich glücklich, dass der griechische verbunden mit dem römischen Flügel dieses Erinnerungsbaus [1] unter der Ägide eines Ehepaares entstand, das seit langem in der Erforschung des Symbolisch-Gemeinschaftsstiftenden zuhause ist.

Der Blick auf den Griechenland-Band legt nahe, gleichzeitig auf das Experiment von zusammen 1500 Seiten auch als Ganzes zurückzublicken, wird es die öffentliche Wahrnehmung der klassischen Altertumswissenschaften und ihres Themenfeldes doch auf Jahre hinaus mitbestimmen. Immerhin hat die Antike für den Begriff des locus memoriae Patin gestanden und schließt ihn, redetechnisch verstanden, auf: Erst wer den Einzelort mit Bedeutungen belegt und sich gedanklich von Ort zu Ort bewegt, kann von und über Geschichte sprechen...

Gesucht werden unter der Bezeichnung "Erinnerungsorte" - wenn wir den Standortbestimmungen folgen, die Etienne François und Hagen Schulze vornahmen - Knotenpunkte in "ein[em] Netz von materiellen und immateriellen Erinnerungsfäden", die "einen Überschuss an symbolischer Bedeutung besitzen", von der mit "einer Art von legitimer Deutungshoheit" ausgestatteten (zeit-)historischen Forschung angeboten als "Einladung zu einer 'Arbeit an der Erinnerung' als Akt der Selbstbestimmung." [2]

Das klassische Altertum insgesamt hat in den deutschsprachigen Ländern heute sicher nicht die Rolle eines für Selbstsicht und -deutung vitalen Sinnreservoirs. Es war einmal anders, und es gibt Restbereiche, in denen Konzepte mit antiken Wurzeln nachwirken oder antike Phänomene verschwommen als Denkfiguren präsent sind ("spätrömische Dekadenz"). Überdies lassen sich natürlich innerhalb der griechisch-römischen Geschichte Netze aus erinnerten Symbolfiguren, zentralen Orten, Ereignissen und Vorstellungen rekonstruieren.

All diese Lösungswege bieten sich für das Interpretieren der Aufgabe "Erinnerungsorte der Antike" prinzipiell an. Einmal Bausteine aus dem kulturellen Gedächtnis 'der Antike' zu sammeln - notgedrungen zeitloser, als das real der Fall war. Zweitens könnte man antik gefärbte "Erinnerungsspuren" von heute aufdecken, trivial wie hochkulturell; drittens gäbe es den so attraktiven wie problematischen Ansatz "Deutsche Erinnerungsorte der Antike" - es hätte dann etwa um Tacitus' Germania oder Olympia als Stützpunkt wilhelminischer Antikenaneignung zu gehen. Viertens bestand natürlich die Option, den Auftrag des Buchtitels heimlich umzudeuten und tatsächlich antike Rezeptionsgeschichte zu treiben, mit einem weiten Herzen für wissenschaftliche Sternstunden. Kurz: Es war nicht vorgezeichnet, welche Endform das Werk annehmen würde.

Das Ehepaar Hölkeskamp hat Freunden und Kollegen - nicht ganz ein Drittel davon bereits im Rom-Band präsent - wörtlich dieselbe Vorgabe wie schon 2006 gesetzt: "die Rolle 'ihres' Erinnerungsortes im heutigen kulturellen Gedächtnis" herauszuarbeiten (9). Stärker noch als sein Vorgänger ist "Die griechische Welt" in Ausnutzung dieser Freiheit eine Überlagerung aller in Frage kommender Zugangsweisen geworden. Es ist kein Zufall, wenn über den einzelnen Essays nach dem Stichwort lange, erläuternde Untertitel stehen. Die antiken Zwillingsbände setzen ein mit der Problematisierung statt mit dem Impuls zum Erinnern; das ist Selbstaussage und vielleicht auch Selbstdiagnose.

Auf manche Weise ist das Innenleben ein gutes Stück 'akademischer' als die "Deutschen Erinnerungsorte". Essayistische Bravourstücke sind bei aller sprachlichen Zugänglichkeit nicht darunter, wohl aber mustergültiges Anschauungsmaterial für künftige Seminare; die Brillanz liegt im Methodischen. Fast durchweg ist es unterblieben, getarnt als Publikumsaufsatz fachliches Selbstgespräch zu betreiben: Wir haben es in erster Linie mit einer Leistungsschau der klassischen Altertumswissenschaften und ihrer Nachbardisziplinen zu tun.

Die Nicht-Fachleute kommen auf ihre Kosten - nur wird ihnen viel Eigenarbeit abverlangt, gerade wenn es um den Überblick, das große Ganze geht. Das beginnt mit der kurzen Einleitung (11-16) - einer Rekapitulation der gedächtnishistorischen 'Summen' seit Pierre Nora [3] folgt ein Abschnitt über die Vielfalt griechischer Identitäten und Dissonanzen, gekrönt vom (zeitlosen) Problem, eine Einheit immer neu herzustellen oder doch abzulesen. Ein in Worte gegossenes Programm des Bandes jedoch wird nicht formuliert; seine Stelle vertritt das polyphone Zugreifen der modernen Forschung auf den Klangraum der antiken Stimmen, und am Ganzen ist dann - gewissermaßen hologrammartig - ein Gesamtbegriff zu erahnen. Auf die Spitze treibt diese 'Verweigerung' der Schlussessay von Hans-Joachim Gehrke zum Thema Klassik (584-600) - statt zu umreißen, was als klassisch(-antik) einst gegolten habe oder heute gelten könne, zeichnet er nach, wie die Griechen selbst sich an der Frage der Auswahl und des Vorbildlichen abgearbeitet haben. Die Anwendung aufs Grundsätzliche wird hier wie anderswo konsequent - und beinahe gefährlich anspruchsvoll - in den lesenden Verstand ausgelagert.

Sechs Rubriken gliedern den Band - Lokalitäten; "Monumente und andere Medien der Memoria" von der Skulptur zur Vase (darunter Susanne Muths unaufdringlich lehrreiche Leseanleitung für die Ikonographie attischer Luxusgefäße); drittens "Mythen, Feste, Rituale" als wiederkehrende Selbstvergewisserung; "Kanonische Texte" von Homer bis zu den großen Philosophen; "Konzepte, Ideen und Ideale" (leider ohne die Kalokagathie oder die Funktion der Paideia in der hellenistischen Städtewelt); schließlich "(Re-)Konstruktionen - das antike Griechenland in der Moderne" mit rezeptionsgeschichtlichen Essays.

Lange Wunschlisten gegen die Auswahl der 32 Beiträge zu stellen wäre unsinnig; viel Wesentliches ist präsent, teils in glänzender Weise. Ein wirkungsgeschichtlicher Beitrag "Hellenismus" hätte sowohl 'Entdeckung' und Durchsetzung einer Epoche als Wissenschaftskategorie wie auch deren Nutzung als Spiegel eigener Zeitfragen schildern können. Vielleicht noch schmerzhafter fehlt ein Essay "Gymnasium", der einen Kernbereich deutscher Selbstdeutung als neues Hellas erfassen könnte, als Seitenstück zu Raimund Wünsches blickscharfer Würdigung der Münchener Glyptothek; so bleibt es bei wichtigen Andeutungen in Johann Schloemanns "Winckelmann", einer Kurzeinführung in den Klassizismus (532f.).

Die Erinnerung als Thema und Problem ist erfreulich präsent; stellvertretend genannt sei Justus Cobets Darstellung der prekären Beziehung zwischen Homers Troia, den Ruinen von Ilion und beider Interpreten oder Fernande Hölschers Portrait der Tyrannenmörder als Bildchiffre für Tatkraft bis in die totalitäre Moderne. Nicht in allen Fällen öffnet sich die Wirkungsgeschichte allerdings den nachantiken Jahrhunderten - oder werden Brücken zur Leserschaft gebaut: Das Auftauchen von Theseus ist für Athener selbstverständlich, aber die Buchkäuferin kennt den Namen am ehesten aus Shakespeare und möchte hören, was daran so wichtig ist, ein Problem, das die mustergültigen Beiträge von Elke Stein-Hölkeskamp über einen politischen Tag in Athen oder Peter Funke zur Frage, wer überhaupt mitsprachefähiger Bürger ist, von vornherein nicht haben. Am Einladenden, an Vermittlungsakten fehlt es des Öfteren - angeboten, ja gesucht wird eine Diskussion, aber die Affinität des Lesepublikums zum Thema ist vielfach Vorbedingung; es fehlt an der Hoffnung, sie erst selber zu schaffen.

Es wäre ungerecht, als Schwäche anzurechnen, was die Befindlichkeit der Antikeforschung als Ganzes spiegelt. Das hohe Niveau der Beteiligten wie der vertretenen Wissenschaften steht zu keiner Zeit in Frage, und "Die griechische Welt" ist völlig dazu angetan, ihren Gegenstand als um seiner selbst willen interessant zu bestätigen. Was oft zu verhalten ausfällt, ist das Vertrauen in die Alltagspräsenz, das Potential der Antike, die Gegenwart mitzuformen und ihr zu denken zu geben - in ihre Relevanz. Unterschwellig verfolgt uns alle die Angst, zu einer größeren Schwester der Ägyptologie mutiert zu sein, und man wendet unwillkürlich die Blickrichtung beim Sprechen, auch in die große Öffentlichkeit, zu sehr nach 'innen'. Vielleicht wächst bis zum nächsten großen Wurf dieser Art der Wille zur Wirksamkeit. Nicht das kleinste Verdienst des vorliegenden Werks ist es ja, reichlich Gründe für die Überzeugung zu liefern, dass Epoche und Interpreten zum eingangs zitierten "Akt der Selbstbestimmung" dazugehören.


Anmerkungen:

[1] E. Stein-Hölkeskamp / K.-J. Hölkeskamp (Hgg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, München 2006.

[2] E. François / H. Schulze, Einleitung, in: dies. (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte. (3 Bde.), München 2001, Bd. 1, 16; 12; 24.

[3] P. Nora (Hg.) : Les lieux de mémoire. (3 Teile in 7 Bden.) 1: La République, Paris 1984; 2: La Nation. (3 Bde.), Paris 1986; 3: Les France. (3 Bde.), Paris 1992.

Jörg Fündling