Rezension über:

Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen (= UTB; 3297), Stuttgart: UTB 2010, 237 S., ISBN 978-3-8252-3297-9, EUR 16,90
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Rezension von:
Veronika Heyde
München
Empfohlene Zitierweise:
Veronika Heyde: Rezension von: Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Stuttgart: UTB 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/20592.html


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Guido Thiemeyer: Europäische Integration

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Guido Thiemeyer liefert mit seinem Band sowohl einen Überblick über die Entwicklung der Europaidee und die wichtigsten Etappen der europäischen Einigung als auch eine Zusammenfassung aktueller politik- und geschichtswissenschaftlichen Forschungstendenzen. Während die Fakten nur kurz referiert werden, widmet sich das Buch vor allem den sogenannten forces profondes der europäischen Integrationsgeschichte, also den langfristigen Motiven und Triebkräften des europäischen Einigungsprozesses. Dabei stellt der Autor die These auf, dass die europäische Integration nicht erst 1945 begonnen habe, sondern dass die politische, gesellschaftliche und kulturelle Integration ein Phänomen sei, das tiefe historische Wurzeln habe. Damit baut Thiemeyer auf dem von Wilfried Loth entwickelten Modell der "Vier Antriebskräfte" auf, welches besagt, dass es bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts politische, gesellschaftliche und kulturelle Motive und Kräfte gegeben habe, die die europäische Integration vorangetrieben hätten. [1] Erklärtes Ziel des Buches ist es, diesen Ansatz zu erweitern.

Nach einem Forschungsbericht, in dem die Etappen der politik- und geschichtswissenschaftlichen Analyse seit 1945 zusammengefasst werden, folgt ein historischer Überblick ab dem Jahr 1815. Bereits hier bleibt Thiemeyer nicht bei einer chronologischen Darstellung der Etappen des Einigungsprozesses stehen, sondern arbeitet heraus, wie die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren die Geschichte der Einigung in ihrer Verflechtung prägten. Gleichzeitig reflektiert er den Forschungsstand und geht auf Desiderate ein, wie zum Beispiel die Analyse der Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung Westeuropas und der politischen Einigung des Kontinents.

Im Hauptteil des Buches werden die einzelnen Motivstränge behandelt, die den Integrationsprozess begründeten. Dabei ergeben sich zwar leichte Redundanzen, da stets von neuem die Chronologie berücksichtigt werden muss, doch können auf diese Weise die aktuellen Diskussionen sehr gut miteinbezogen werden. Als für die politische Integration relevant werden das Friedensmotiv, die Lösung der deutschen Frage, die europäische Selbstbehauptung in der Welt sowie nationale Interessen genannt. Dabei betont Thiemeyer, dass in einigen Fällen die Aufgabe von Souveränitätsrechten im Rahmen der supranationalen Integration der politischen Stärkung des eigenen Staatswesens diente. Besonders Italien, die Bundesrepublik, Spanien, Portugal, Irland sowie die osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts nutzten zu einem jeweils anderen Zeitpunkt die Chance, dadurch internationale Anerkennung zu gewinnen, dass sie sich in den europäischen Integrationsprozess eingliederten und ihre demokratische Gesinnung unter Beweis stellten. Diese doch etwas kühne Gleichsetzung der Bundesrepublik mit Ländern wie Portugal oder den osteuropäischen Staaten wurde bereits von Wilfried Loth mit der Begründung kritisiert, dass das Motiv der nationalen Selbstbehauptung im Grunde nur auf die Emanzipation der jungen Bundesrepublik Deutschland von der Besatzungsherrschaft zutreffe. Bei den anderen Staaten sei es vornehmlich um Unterstützung und Absicherung der Demokratisierung gegangen. [2]

Die ökonomischen Antriebskräfte untergliedert Thiemeyer in rein wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Faktoren. Dabei hält er fest, dass die Verbindung der europäischen Märkte für Güter, Kapital und Arbeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, so dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf bereits bestehende Austauschmechanismen zurückgegriffen werden konnte. Insgesamt stellt er die wirtschaftlichen Faktoren als wesentliche Antriebskräfte für die Integration heraus und betont, dass Integration hierbei kein Ziel an sich war, sondern die Folge sich dynamisch entwickelnder und deswegen grenzüberschreitender Märkte. Bei der wirtschaftspolitischen Integration waren es meist die Nationalstaaten, die bewusst eine wirtschaftliche Verflechtung vorantrieben, um sich selbst zu entlasten. Hier führt Thiemeyer die Thesen Alan Milwards und Andrew Moravcsiks an, die beide betonten, dass die in den Nationalstaaten formulierten wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen ein wichtiger Motor für die wirtschaftspolitische Integration Europas waren und sind.

Als kulturelle Antriebsfaktoren der europäischen Integration, die auch mit dem Begriff "Legitimationsquellen" umschrieben werden (216), diskutiert Thiemeyer schließlich den "essentialistischen" Identitätsbegriff, der das Wesen Europas definiert, also die Attribute, die Kultur und Bevölkerung Europas prägen. Zweitens geht er auf den "konstruktivistischen" Identitätsbegriff ein, der Identität als eine diskursiv und sozial konstruierte Realität versteht (198). Drittens analysiert er die Frage nach der europäischen Öffentlichkeit und weist darauf hin, wie sehr die europäische Öffentlichkeit eine Eliten-Öffentlichkeit ist, die getragen wird von Journalisten, Wissenschaftlern und Entscheidern, also noch immer keine Massenöffentlichkeit ist.

Thiemeyers Band ist eine sehr lesenswerte und moderne Ergänzung der Forschungsliteratur über die europäische Integration. Sein Mehrwert besteht vor allem darin, dass sich das Buch nicht darauf beschränkt, erneut die wichtigsten Einigungsschritte zusammenzufassen, sondern dass es einen kritisch reflektierten Überblick über die bestehenden Forschungen und neuen Tendenzen bietet. Durch seine Gliederung in die drei Einflussfaktoren Politik, Wirtschaft und Kultur sowie die Analyse der tieferen Antriebskräfte ist Thiemeyer in knapper Form ein Werk gelungen, das die Geschichte der europäischen Integration in einen weiteren Bezugsrahmen einordnet und es erlaubt, die Motive des Einigungsprozesse im historischen Prozess zu betrachten. Besonders die Frage nach der Verflechtung von gesellschaftlichen und politischen Faktoren beinhaltet dabei weiterführende Perspektiven.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Wilfried Loth: Der Prozess der europäischen Integration. Antriebskräfte, Entscheidungen, Perspektiven, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 46 (1995), 703-714; Ders.: Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integration. In: Ders. / Wolfgang Wessels (Hgg.): Theorien europäischer Integration. Opladen 2001, 87-106.

[2] Vgl. Wilfried Loth über Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive - Prozesse - Strukturen, Köln 2010. In: H-Soz-u-Kult; 11.08.2011.

Veronika Heyde