sehepunkte 12 (2012), Nr. 5

Udo Sautter: Als die Franzosen Amerika entdeckten

Udo Sautters schmale Darstellung greift ein im deutschen Sprachraum selten behandeltes Thema auf. [1] In deren Mittelpunkt steht die französische Exploration Nordamerikas seit den Entdeckungsfahrten von Jacques Cartier und die um 1608 einsetzende Koloniebildung am Sankt-Lorenz-Strom im heutigen Kanada. Selbst vielen Historikern ist nicht bewusst, dass sich Neufrankreich ("Nouvelle-France") um 1750 - zumindest dem Anspruch nach - über zwei Drittel des nordamerikanischen Kontinents erstreckte: von Québec im Norden bis Nouvelle-Orléans am Golf von Mexiko, vom Kamm der Appalachen bis weit in die nördlichen Plains hinein, die 1731 von Pierre Gaultier de Varennes, sieur de La Vérendrye und seinen Söhnen für König Ludwig XV. in Besitz genommen worden waren.

Im Unterschied zu Neuengland stellte Neufrankreich eine Handelskolonie dar, mit vielen Forts entlang der grossen Wasserstrassen, aber ohne starke Präsenz von Siedlern. Anders als die englischen Kolonisten an der Atlantikküste setzten die französischen Waldläufer ("coureurs des bois") und Pelzhändler auf freundliche Beziehungen zu den First Peoples und Native Americans und nicht auf deren Verdrängung. Lange Zeit spielten Indianer im Pelzhandel eine wichtige Rolle als Zwischenhändler. In diesem Zusammenhang wird in der Forschung von einer "frontier of inclusion" gesprochen. [2] Dies bedeutet jedoch nicht, dass das französische Vordringen in die Weiten des Kontinents keine Folgen für die indianischen Nationen und ihre Kulturen gezeitigt hätte. So wurden die mit den Franzosen verbündeten Wyandot (auch Huronen genannt) innerhalb weniger Jahrzehnte durch eingeschleppte Seuchen und die von der Irokesenföderation aufgezwungenen Biberkriege fast ausgelöscht. Und auch ihre Feinde erlebten einen schweren Bevölkerungseinbruch. Hatten die Irokesen 1630 noch 22.000 Menschen gezählt, waren 1700 nur noch 6.000 von ihnen übrig - und dies, obwohl sie viele gefangen genommene Wyandots in ihre Gemeinschaften adaptierten, um ihre eigenen Opfer zu kompensieren. [3]

Wer sich von Sautters gut lesbarer, ganz auf Anmerkungen verzichtende Darstellung eine problemorientierte Geschichte der Nouvelle-France und näheren Aufschluss über die hier skizzierten Probleme erhofft, wird enttäuscht. In seiner Darstellung beschränkt sich der emeritierte Tübinger Historiker, der zuvor dreissig Jahre lang an kanadischen Universitäten lehrte, auf eine Entdeckungsgeschichte traditionellen Stils. Von Ferne erinnert diese an Urs Bitterlis gelehrtes Buch Die Entdeckung Amerikas von 1991. [4] Die zahlreichen Erkundungen der "unbekannten Wildnis" (10) werden darin kenntnisreich, aber ganz aus europäischer Perspektive nacherzählt. So erfährt man Einiges über zentrale Figuren wie Samuel de Champlain, den später als "Vater von Französisch-Kanada" verehrten Kolonisator, oder über den Eroberer Robert Cavalier de La Salle, der 1682 über die Großen Seen bis an die Mündung des Mississippi vorstiess. Ganz nach der Logik der Entdeckerdoktrin verleibte La Salle die von ihm und seiner Mannschaft durchquerten Territorien unter dem Namen "Louisiana" der französischen Krone ein. Auch weniger bekannte Abenteurer wie Etienne Brûlé (1592-1633), der als Prototyp des Waldläufer ("coureurs des bois") vorgestellt wird, kommen in der Darstellung zu ihren Ehren. Sautter betont zu Recht, dass die wagemutigen Erkundungen ohne indianische Hilfe und Kulturprodukte (wie Birkenrindenkanu, Schneeschuhe, Toboggans, Beinkleider, Mokassins) zum Scheitern verurteilt gewesen wären.

Freilich bereiteten diese Explorationen stets die Landnahme vor. Letztlich dienten sie kommerziellen und politischen Zielen, aber auch der Mission. Umso schmerzlicher vermisst der Leser fundierte Ausführungen zur franko-indianischen Gesellschaft und zu den ebenso brutalen wie verlustreichen Konflikten mit den Irokesen. Stellenweise irritiert die Darstellung durch ihre veraltete, zum Teil auch problematische Begrifflichkeit, so etwa wenn vom "grossem Wagnis" Neufrankreichs, von "Ureinwohnern" und "Rassen", aber auch von "Irokesenproblem", "wilder Attacke" oder "teuflischem Mummenschanz" die Rede ist. Überholt ist es, wenn der Verfasser das Mit- und Gegeneinander der indianischen Nationen im 17. Jahrhundert als "reine Anarchie" (14) deutet, die schliesslich ihren Niedergang herbeigeführt habe. Und als schlicht unzeitgemäss muss seine Konklusion bezeichnet werden, in der er festhält: "So blieb das französische Unterfangen in Nordamerika letztlich doch Stückwerk, aber als solches in Anbetracht der geringen eingesetzten Ressourcen eine eminent bewundernswerte, den Grosstaten anderer Völker würdig zur Seite stehende Leistung." (146f.) Mit Sicherheit sehen dies die Nachfahren der Kolonisierten anders. Wer sich für eine kritisch-nuancierte Auseinandersetzung mit dem Thema interessiert, sollte den grossartigen Roman Black Robe (London 1987) des kanadischen Schriftstellers Brian Moore lesen oder zur fundierten Gesamtdarstellung Histoire de l'Amérique française (Paris 2008) der Pariser Historiker Gilles Havard und Cécil Vidal greifen.


Anmerkungen:

[1] Eine jüngere Ausnahme bildet Stephan Maninger: Die verlorene Wildnis. Die Eroberung des amerikanischen Nordostens im 17. Jahrhundert, Wyk auf Foehr 2009, 159-193.

[2] Robert V. Hine / John Mack Faragher: Frontiers. A Short History of the American West, New Haven / London 2007, 16.

[3] José Antonio Brandao: "Your Fyre Shall Burn No More." Iroquois Policy Towards New France and its Native Allies to 1701, Lincoln 1997.

[4] Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München 1991.

Rezension über:

Udo Sautter: Als die Franzosen Amerika entdeckten, Darmstadt: Primus Verlag 2012, 160 S., ISBN 978-3-86312-009-2, EUR 19,90

Rezension von:
Aram Mattioli
Historisches Seminar, Universität Luzern
Empfohlene Zitierweise:
Aram Mattioli: Rezension von: Udo Sautter: Als die Franzosen Amerika entdeckten, Darmstadt: Primus Verlag 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/05/21513.html


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