sehepunkte 12 (2012), Nr. 5

Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert

Appellationen rufen bei Rechtshistorikern von je her großes Interesse hervor. Gilt dieses Rechtsmittel (als Vorläufer unserer heutigen Berufung) doch als offene Tür für die oberen Gerichte, die Entscheidungen unterer Gerichte zu überprüfen. Einem solchen Obergericht ist die von Stefan Andreas Stodolkowitz 2009/10 an der Juristischen Fakultät der Universität Passau eingereichte Dissertation gewidmet, die rechtzeitig zum 300. Jubiläum des Oberlandesgerichts Celle erschien.

Die Idee, das 1711 gegründete Oberappellationsgericht zu erforschen, ist nicht neu. Bereits 1986 legte Peter Jessen dazu eine Dissertation vor. [1] Was rechtfertigt also eine erneute Beschäftigung mit dem Celler Gericht? Während Jessen sein Erkenntnisinteresse primär auf den "Kampf" (Weitzel) um das unbeschränkte Appellationsprivileg sowie einen normativ basierten Vergleich von ober- und höchstrichterlichen Appellationsverfahren richtete, untersucht Stodolkowitz anhand der im Landesarchiv Schleswig-Holstein überlieferten Celler Prozessakten auch die Gerichts- und Rechtspraxis. Hier liegt das Novum der Arbeit.

Insgesamt geht der Autor dreigleisig vor. Eingangs konzentriert er sich auf die Einbettung des Gerichts in das Verfassungsgefüge des Alten Reiches sowie des braunschweig-lüneburgischen Kurstaates, um nach dem Grad der Abhängigkeit der Richter sowohl vom in London residierenden Landesherrn als auch von den im Kurfürstentum agierenden Ständen im Zeitalter der fehlenden Gewaltenteilung zu fragen. Damit zielt Stodolkowitz unter anderem auf die Frage nach dem Ausmaß des Staatsbildungsprozesses in Braunschweig-Lüneburg ab. Als Quellenbasis dienen ihm an dieser Stelle hauptsächlich normative Quellen sowie eine Auswahl zeitgenössischer Gelehrtenliteratur. Während er anhand der Vorrede der Celler Oberappellationsgerichtsordnung den Soll-Zustand beschreibt und anachronistischen Deutungen älterer rechtshistorischer Forschungen eine Absage erteilt, nutzt er die Besetzungsmodalitäten des Gerichts als ein besonderes Argument für dessen starke Position im Kurfürstentum. So seien aufgrund einer gerichtsinternen Eignungsprüfung, wie er betont, weder der Landesherr noch die Landstände in der Lage gewesen, ohne die Zustimmung des Gerichts Kandidaten durchzusetzen. Ferner hätten die Stände ein Präsentationsrecht für die Mehrzahl der Richter besessen, das jedoch an die Bestätigung des Landesherrn gebunden gewesen sei. Diese wiederum sei stets gewährt worden. Dem Postulat der älteren Forschung, aufgrund dessen sei das Gericht "einer Ständeversammlung nicht unähnlich" (92) gewesen, tritt Stodolkowitz entgegen. Als Argument führt er unter anderem an, die Richter seien vom Landesherrn ernannte und ihm mit Eid verbundene Staatsdiener gewesen. Folglich habe der Kurfürst theoretisch einen "nahezu schrankenlosen Einfluß auf die Besetzung des Gerichts" (95) besessen, den er aber praktisch nicht genutzt hätte. Fehlende Machtsprüche, der kurfürstliche Verzicht, Richter abzusetzen, sowie die geringe Bedeutung von landesherrlichen Kommissionen und Visitationen gelten ihm ebenfalls als Gewährspunkte für eine weitestgehende Eigenständigkeit sowie als Zeichen "einer unparteiischen und apolitischen Rechtspflege" (137), ohne aber einer womöglich "verfassungsrechtlich gesicherten Unabhängigkeit" (101, 140) das Wort zu reden.

Inwiefern die von Stodolkowitz ins Feld geführten Argumente einer Überprüfung der Gerichtstätigkeit in landespolitisch brisanten Konfliktfällen standhalten, muss offenbleiben; zumindest geben die vom Autor herangezogenen Quellen dazu nichts her. Vielmehr vermutet er, solche habe es aufgrund fehlender Nachrichten in der zeitgenössischen Literatur in der "politisch insgesamt ruhigen Zeit des 18. Jahrhunderts" nicht gegeben (97). Auch in diesem Zusammenhang wirkt sich der Kriegsverlust eines Großteils der Celler Akten besonders negativ aus.

Im zweiten Teil beschreibt der Autor den am Celler Gericht angewandten gemeinrechtlichen Appellationsprozess, wobei er sich auf 443 Prozessakten der Teilherrschaft Lauenburg für den Zeitraum von 1747 bis 1816, ausgewählte Geschäftsübersichten, die Gemeinen Bescheide des Oberappellationsgerichts sowie zeitgenössische und rechtshistorische Literatur stützt. Es ist das Verdienst des Autors, den Lauenburger Bestand, den sein Vorgänger Jessen nicht benutzte (wohl auch nicht kannte), nicht nur "entdeckt", sondern auch für moderne rechtshistorische Fragestellungen fruchtbar gemacht zu haben. Die Eckdaten 1747 und 1816 markieren hierbei sowohl rechtliche als auch politische Zäsuren, da 1747 für das Herzogtum Lauenburg ein unbeschränktes Appellationsprivileg gewährt wurde und 1816 die Abtretung des größten Teils des Territoriums an das Königreich Dänemark erfolgte.

Als zentrales Ergebnis dieses Untersuchungsabschnittes ist die häufige Beendigung der Prozesse ohne Anhörung der Rechtsmittelgegner hervorzuheben. Das Celler Gericht verzichtete mit dem Ziel einer Verfahrensbeschleunigung weitestgehend auf einen förmlichen Plenarprozess, der langwierig und für das Gericht angesichts der anzufertigenden Relationen arbeitsintensiv werden konnte. Vielmehr entschied es in ca. 90 % der untersuchten Lauenburger Verfahren durch einfaches Dekret oder Reskript bereits extrajudizial endgültig. Die These, dass die häufige Anwendung des so genannten Reskriptprozesses von der Praxis des Reichskammergerichts abwich (273), ist insofern problematisch, als reichskammergerichtliche Extrajudizialakten nur in geringem Maße überliefert sind. Aufschlussreicher wäre hier ein Vergleich mit dem Reichshofrat in Wien gewesen, der diese Akten anlegte und aufbewahrte. Da aber die archivaliengestützte Erforschung von reichshofrätlichen Appellationsverfahren erst in jüngerer Zeit das Interesse der Forschung findet [2], konnte der Autor hier nicht auf Vorarbeiten zurückgreifen. So stellen die von Jessen bereits 1986 dargelegten Parallelen zum Reichshofrat sowie dessen vermutete Einflüsse auf das Celler Verfahren weiterhin ein an den Akten zu prüfendes Forschungsdesiderat dar.

Im letzten Drittel der Untersuchung wertet Stodolkowitz den Lauenburger Bestand quantitativ-statistisch aus. Als Untersuchungsfelder wählt er unter anderem das Prozessaufkommen, die Vorinstanzen, die Rechtsnatur der Parteien, deren geographische Herkunft und soziale Schichtung sowie den Streitgegenstand. Die für eine statistische Analyse unabdingbare Kategorienbildung orientiert sich an der Reichskammergerichtsforschung. Dem Autor dienen die von Filippo Ranieri zur Analyse von Reichskammergerichtsprozessen entwickelten und sowohl von Anette Baumann als auch von Nils Jörn benutzten Klassifizierungen dazu, sich eine zum Vergleich geeignete Analysebasis zu schaffen. Damit gelingt es ihm, seine Ergebnisse in die aktuellen Forschungen zum Reichskammergericht und zum Wismarer Tribunal einzubetten. So kann er auf interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinweisen, von denen an dieser Stelle nur wenige herausgegriffen werden können.

Mit Blick auf die Streitgegenstände arbeitet der Autor für die Zeit nach 1787 einen signifikanten Anstieg der Untertanenprozesse heraus, der offenbar im Zusammenhang mit den sozialen und ständischen Verwerfungen am Ende des 18. Jahrhunderts steht. So lässt sich das für das Reichskammergericht gezeichnete Bild auch durch den Lauenburger Befund bestätigen. Da ein Gericht stets Spiegel des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes ist, aus dem heraus es angerufen wird, gewährt der Lauenburger Bestand Einblicke in die vormodernen agrarischen Verhältnisse des Teilterritoriums. Die Verfahren wurden zumeist von der Landbevölkerung eingebracht; Juden und Geistliche waren als Prozessparteien hingegen am wenigsten vertreten. Im Gegensatz zum Wismarer Tribunal, in dessen Gerichtssprengel Hansestädte lagen, sind im untersuchten Bestand größere Handels- oder Städtekonflikte unterrepräsentiert. Bei den Streitgegenständen überwogen insgesamt Streitigkeiten aus dem Bereich der Geldwirtschaft, wobei insbesondere in Schuldforderungsprozessen die Parteien den Weg nach Celle einschlugen.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass es Stefan Andreas Stodolkowitz mit dem vorliegenden Band gelungen ist, den Forschungen zum Wismarer Tribunal eine neue und solide erarbeitete sowie präzise formulierte Vergleichsbasis zur Erforschung territorialer Obergerichte an die Seite zu stellen. Daran kann nicht nur die Forschung zu territorialen Obergerichten, sondern auch die Höchstgerichtsforschung zum Alten Reich anknüpfen. Ein Personen- sowie ein Sachregister beschließen den Band, dem über das Jubiläumsjahr 2011 hinaus breite Aufmerksamkeit zu wünschen ist.


Anmerkungen:

[1] Peter Jessen: Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte; Neue Folge 27), Aalen 1986.

[2] Es ist auf die Arbeit von Verena Kasper-Marienberg zu verweisen: "vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron": Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765-1790) (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien; 19), Innsbruck / Wien / Bozen 2012. Ferner wird derzeit in einem vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projekt "Appellationen an den Reichshofrat 1519-1740" in Wien (http://www.rechtsgeschichte.at/reichshofrat-appellationen.html) auch das Verfahren erforscht.

Rezension über:

Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 59), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, XVI + 346 S., ISBN 978-3-412-20792-2, EUR 47,90

Rezension von:
Ellen Franke
Wien
Empfohlene Zitierweise:
Ellen Franke: Rezension von: Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de/2012/05/20815.html


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