Rezension über:

Thomas Frenz: Abkürzungen. Die Abbreviaturen der Lateinischen Schrift von der Antike bis zur Gegenwart (= Bibliothek des Buchwesens; Bd. 21), Stuttgart: Anton Hiersemann 2010, IX + 217 S., ISBN 978-3-7772-1014-8, EUR 148,00
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Rezension von:
Martin Wagendorfer
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Martin Wagendorfer: Rezension von: Thomas Frenz: Abkürzungen. Die Abbreviaturen der Lateinischen Schrift von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Anton Hiersemann 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/04/19168.html


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Thomas Frenz: Abkürzungen

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Mit seiner Monographie über die Abkürzungen in der lateinischen Schrift von der Antike bis zur Gegenwart legt Thomas Frenz, Professor für Historische Hilfswissenschaften an der Universität Passau, die erste derart breit angelegte Studie über dieses Thema im deutschsprachigen Raum vor (vgl. die Literaturübersicht, 10). Die Gründe für das bisherige Fehlen eines solchen Überblicks liegen auf der Hand und sind schnell aufgezählt: Zunächst ist das umfangreiche und unüberschaubare Material an Schriftzeugnissen aller Art zu nennen, auf welches sich eine derartige Studie stützen muss. Des Weiteren kontrastiert die enorme Quellenfülle selbst dort, wo das Material wie in der Antike oder im Frühmittelalter wenigstens halbwegs erfassbar ist, mit der bisher absolut unzureichenden Form der Aufarbeitung, sei es in Form einer statistischen Erfassung oder auch nur von Abbildungen. Selbst die derzeit Hochkonjunktur erlebenden Digitalisierungsunternehmen von antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Schriftzeugnissen können angesichts der Quellenmassen hier nur bedingt Abhilfe schaffen. Drittens ist die zu den Schriftzeugnissen zeitnahe theoretische Literatur zum Thema "Abkürzungen" derart dürftig, dass eine Untersuchung sich immer wieder auf die Quellen selbst zurückgeworfen sieht. Umso anerkennenswerter ist das hier vorgelegte Unternehmen, dem laut Vorwort etwa 550 Werke der Sekundärliteratur und circa 5.300 Urkunden und Handschriften zugrunde liegen.

Frenz beginnt zunächst (Einleitung, 1-9) mit grundsätzlichen Überlegungen zur Nützlichkeit der Beschäftigung mit Abkürzungen (Entziffern von Texten; Datierung und Lokalisierung; Deutung von Korruptelen; Bestimmung des Text- beziehungsweise Handschriftenniveaus; allgemeine Fragestellungen der Geistes- und Kulturgeschichte) und skizziert dann (15f.) kurz die verschiedenen Abkürzungsarten (Suspension, Kontraktion, Abkürzung durch Hochstellung von Buchstaben und durch besondere Zeichen oder Buchstabenformen). Anschließend folgt ein chronologischer Durchlauf, dessen Schwergewicht auf der Antike (17-52) und dem Mittelalter (63-117, wiederum geteilt in Frühmittelalter und gotische Schrift) liegt, dazwischengeschaltet ist ein Kapitel zu den graphischen Formen der Abkürzung (53-62). In Zusammenhang mit den Abkürzungen der Neuzeit (128-143) und der Gegenwart (166-182) behandelt der Verfasser in eigenen Abschnitten die Abbreviaturen im Buchdruck (118-121), in volkssprachlichen Texten (122-127) sowie Zahlen und Symbole als Abkürzungen (144-165) und beschließt sein Werk mit einem Exkurs über die symbolische Bedeutung von Buchstaben und Zahlen (183-189) sowie einem Überblick über Hilfsmittel zur Auflösung von Abkürzungen (190-194).

Wie an dieser groben Skizze schon zu erkennen sein dürfte, bietet der Band eine derartige Fülle von Beobachtungen, dass diese im Rahmen einer Rezension nicht auch nur annähernd gewürdigt werden können. Frenz ist es insbesondere hoch anzurechnen, dass er seine Leserschaft durch Eingehen auf interessante Details wie Kuriosa und durch Selbstironie [1] immer wieder zu fesseln und aufs Neue für das Thema zu begeistern vermag, auch wenn dieses auf den ersten Blick sehr spröde wirkt und, wie Frenz selbst einleitend festhält (1), gern als "lästige Nebenaufgabe der Paläographie" angesehen wird. Auf diese Weise entwickelt Frenz entlang der Leitlinie seines Themas fast beiläufig eine kleine Kulturgeschichte (die im Kapitel über Abkürzungsmissbrauch und Umdeutungen einen kleinen Höhepunkt findet, 178-182): So etwa, wenn erwähnt wird, dass die Erlernung der Stenographie in der Spätantike ein derartiges Frustpotential barg, dass der heilige Cassian von seinen Schülern mit Schreibgriffeln erstochen wurde (49); wenn die satirische Auflösung von SPQR durch Hartmann Schedel ("stultus populus querit Romam", 178) angeführt wird; wenn die deutschen Autokennzeichen nach den Kriterien litterae singulares - zweibuchstabige Suspensionen - Kontraktionen - syllabare Suspensionen systematisiert werden (173f.); oder wenn die Herkunft alltäglich gewordener Begriffe wie Zeitungsente, Radar oder Pakistan erläutert wird (174f.); schließlich erfährt man bei Frenz auch, was die angeblich auf Einladungen in Frankfurt/Main nach der preußischen Okkupation von 1866 stehende Abkürzung k.P.a. zu besagen hatte (179) und wie die längste Abkürzung aller Zeiten - PWPGSJSISIACWPB (USA, 1942) - aufzulösen ist (180f.).

Über Details wird man bei einem derart umfassenden Überblickswerk, das räumlich, insbesondere im Kapitel über die Abkürzungen in volkssprachlichen Texten, praktisch ganz Europa abdeckt und über die eigentlichen Abkürzungen hinaus auch noch die Zahlzeichen abhandelt, immer streiten können: So etwa, ob die Trennung bei der Definition von Kontraktionskürzungen und Abkürzungen durch hochgestellte Buchstaben tatsächlich gerechtfertigt ist oder ob es sich bei letzteren nicht einfach um Kontraktionskürzungen handelt; oder auch über die Entscheidung, gänzlich auf Nachzeichnungen beziehungsweise Abbildungen aus Handschriften zu verzichten und sämtliche Beispiele mit (stark vergrößerten) herkömmlichen Drucktypen wiederzugeben: Natürlich hat der Verfasser Recht, wenn er der Meinung ist, dass für die Auflösung von Abkürzungen letztlich der Buchstabenbestand entscheidend ist; andererseits lassen sich bestimmte Elemente wie er-Haken und Kürzungsschlingen insbesondere der gotischen Schrift auf diese Weise kaum vermitteln. Dass trotz dieser sehr billigen graphischen Lösung der Verlag für den Band einen Preis verlangt, der mit "prohibitiv" eher euphemistisch umschrieben ist, geht nicht zu Lasten des Autors. Er hat zweifellos das maßgebliche Überblickswerk zum Thema vorgelegt, das in absehbarer Zeit wohl kaum Konkurrenz wird fürchten müssen.


Anmerkung:

[1] Vgl. etwa Seite 62 Anm. 266: "Erstaunlicherweise keine Angaben dazu bei Frenz, Papsturkunden." Ob auch die Definition von Jeep als "Merkzweckwagen" (175) hier einzureihen ist?

Martin Wagendorfer