sehepunkte 11 (2011), Nr. 11

Ralph Johannes (Hg.): Entwerfen

Einen historischen Abriss über die Architektenausbildung im Entwerfen zu geben, dies ist das erklärte Ziel des hier zu besprechenden, fast 900 Seiten umfassenden Sammelbandes. Ein hochgestecktes Ziel, führt es doch nicht nur in das Feld vieler kleinerer und größerer Forschungsdesiderate die Praxis der Architektenausbildung betreffend hinein, sondern gilt es damit auch, das methodisch und begrifflich nicht leicht zu fassende Problem des architektonischen respektive künstlerischen Entwurfs, zumal in seiner historischen Varianz, zu bewältigen.

Doch damit des Vorhabens nicht genug: Wie Ralph Johannes in seiner knappen Einleitung erläutert, sei eine chronologische Ordnung zugunsten einer systematischen Gliederung aufgegeben worden, die nunmehr im ersten Abschnitt den Berufsstand und das Berufsbild des Architekten ("Architektenberuf und soziale Ordnung") behandle, im zweiten Kapitel die "Ausbildung zum Architekten im Allgemeinen und zur Lehre im Entwerfen im Speziellen" ("Berufsbildung und Entwurfslehre") und drittens die Institutionalisierung der Architektenausbildung ("Ausbildung in Europa - Entwerfen lehren und lernen") zur Darstellung brächte. Ergänzt wird der Band, viertens, mit einem etwa 150 Seiten umfassenden, nach Epochen gegliederten Abriss über die Kulturgeschichte von der Antike bis 1945 ("Das historische und kulturelle Umfeld").

Der Anspruch, dem vorhandenen Forschungsbedarf mit einem in sich geschlossen, umfassenden Kompendium, mit einem Standardwerk, zu begegnen, ist unverkennbar. Der Herausgeber dämpft allerdings die Erwartungen: Denn da den Autoren nur Rahmen und Intention des Bandes vermittelt worden seien, versammle dieser der Form und dem Inhalt nach sehr unterschiedliche Beiträge. Tatsächlich differieren die insgesamt 41 Artikel von 39 Autoren, darunter zwei historische Texte (ein Beitrag von Rudolf Redtenbacher von 1879 zur Reform der Architektenausbildung und ein Auszug aus der Autobiografie von Julius Posener) nicht nur im Umfang und in der Herangehensweise an das Material, sondern auch hinsichtlich des Grades wissenschaftlicher Reflexion. Das dabei offenbar auf ein Minimum reduzierte redaktionelle Eingreifen spiegelt sich in teilweise markanten inhaltlichen Widersprüchen zwischen den Beiträgen. Diese mögen zwar dem eingeweihten Architekturhistoriker interessante Einblicke in den aktuellen Forschungsdiskurs bieten, für die mit dem Buch explizit angesprochene Leserschaft der angehenden und gestandenen Architekten sowie der interessierten Laien wäre eine Kommentierung selbiger gewiss hilfreich gewesen. Die Differenz zwischen den Beiträgen setzt sich schließlich formal in einer störend uneinheitlichen Handhabung von Zitaten, Nachweisen und Literaturverweisen bzw. -listen fort.

Gleichwohl bietet der Band eine ganze Reihe von lesenswerten bis hervorragenden Beiträgen, so etwa Abhandlungen grundlegend einführenden Charakters zu Mittelalter, Renaissance und Barock, in denen in übersichtlicher Art das jeweilige gesellschaftliche Feld, in welchem der Architekt agierte, seine Ausbildung und sein Aufgabenspektrum sowie die organisatorischen, handwerklichen und intellektuellen Mittel, die zur Bewältigung dieser Aufgaben genutzt wurden, vorgestellt werden. Ähnlich aufschlussreich erweisen sich die Fallstudien im dritten Teil des Bandes zu einzelnen Ausbildungseinrichtungen, etwa zur Accademia et Compagnia dell'Arte del Disegno in Florenz, zur École Polytechnique und École des Beaux-Arts in Paris, zum Bauhaus oder aber zu den WCHUTEMAS in Moskau, um nur einige zu nennen.

Die Wahl der Themen folgt dabei in ihrer Hauptlinie einer konventionellen Vorstellung europäischer Architekturentwicklung. Deren Auftakt wird im vorliegenden Band mit der Architekturlehre Vitruvs geschlagen, der als "Vater der Architektur und Entwurfslehre" mit mehreren Artikeln geradezu zelebriert wird. Das Mittelalter wird mit zwei Beiträgen besprochen, um anschließend die italienische Renaissance ausführlich als Epoche, die den Architekten als entwerfenden Künstler und entsprechende Formen der Ausbildung hervorgebracht habe, zu präsentieren. Von hier aus verlagert sich der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit nach Deutschland und Frankreich und damit auf die staatlich dirigierte, institutionelle Etablierung der Architektenausbildung im Wechselverhältnis zu Bauverwaltung und Ingenieurwesen. Dieser Linie folgend hätte man nun eine Darstellung der Architektenausbildung und der Diskussion um deren Reform an den Technischen Hochschulen in Deutschland (nicht nur) erwartet. Die beiden anstelle dessen eingefügten, oben genannten historischen Beiträge, so aufschlussreich sie sind, können nur bedingt einen Ersatz hierfür liefern. Das Ringen um die Ablösung der Architektenausbildung des Historismus wird somit vergleichsweise knapp abgehandelt. Der Weg in die Moderne führt schließlich zum Bauhaus und zu den sowjetischen Konstruktivisten. Es ist dabei ein Verdienst des Bandes, neben diesem, einer konventionellen Architekturgeschichtsschreibung folgenden Entwicklungsstrang, mit mehreren Beiträgen auf die Diversität der Wege zur Erlangung architektonischen Wissens wie auch dessen Bedeutung in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu verweisen.

Es spinnt sich so durchaus ein roter Faden durch den Band, für den man sich gewünscht hätte, dass er vom Herausgeber fester gefasst und dem Band stringenter zugrunde gelegt worden wäre. Vor allem erweist sich die von Johannes vorgeschlagene Gliederung als wenig schlüssig, die Trennung von Lehre und Ausbildung von ihrer Institutionalisierung als wenig praktikabel und in den Beiträgen selber auch nicht praktiziert, was zu vielen unnötigen, störenden Redundanzen führt. Nur bedingt und unter der Setzung, dass mit Institutionalisierung die Einrichtung einer vom Baubetrieb unabhängigen Schule gemeint sei, lässt sich dabei die Verlagerung der Behandlung der Architektenausbildung der Antike und des Mittelalters in das zweite Kapitel nachvollziehen.

Mit dem vorliegenden Material hätte bei strengerer redaktioneller Konsequenz und Systematik und mit einigen gezielten Ergänzungen tatsächlich ein veritables, einführendes Standardwerk zur Architektenausbildung in Europa entstehen können. Die teilweise sehr ausführlichen, faktenreichen Erörterungen zu Lehrwerken der Architektur im hier besprochenen Band hätten hierzu eine Geschichte der Architekturlehre beigetragen. Für eine Geschichte des Entwerfens bietet der vorliegende Band zwar den einen oder anderen interessanten Zugriff, aber keinen systematischen Ansatz. Es ist auch fraglich, ob für die Gewinnung der für ein solches Projekt notwendigen begrifflichen und methodischen Klarheit eine Verengung auf die Lehre des architektonischen Entwurfes zielführend ist, oder ob hierfür nicht zunächst der Blick auf das Entwerfen als kulturelles Phänomen, als Denkform über den disziplinären Rand der Architekturgeschichte, überhaupt über den Rand der historischen Wissenschaften hinaus gerichtet werden muss.

Rezension über:

Ralph Johannes (Hg.): Entwerfen. Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte - Theorie - Praxis, Hamburg: Junius Verlag 2009, 880 S., ca. 400 s/w-Abb., ISBN 978-3-88506-441-1, EUR 99,00

Rezension von:
Katja Bernhardt
Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Katja Bernhardt: Rezension von: Ralph Johannes (Hg.): Entwerfen. Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte - Theorie - Praxis, Hamburg: Junius Verlag 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/11/17565.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.