sehepunkte 11 (2011), Nr. 9

Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia

"Aufbruch nach Utopia" hat Stefan Wolle sein neues Buch über die DDR zwischen dem Mauerbau von 1961 und dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker 1971 genannt. Er spielt damit einerseits auf den Fortschrittsoptimismus in der DDR der 1960er Jahre an: Sowohl die Funktionäre als auch die Gesellschaft setzten auf eine bessere Zukunft, die vor allem durch die "wissenschaftlich-technische Revolution" erreicht werden sollte. Andererseits machte sich der Aufbruch im Alltag bereits bemerkbar, etwa durch Verbesserungen im Konsum und durch Fortschritte im Wohnungsbau. Wolles Ziel ist es, die Lebenswirklichkeit dieser Jahre möglichst plastisch zu schildern, wobei er als 1950 Geborener Historiker und Zeitzeuge zugleich ist.

Herausgekommen ist ein flott geschriebenes, lebendiges Buch, das durchaus Unterhaltungswert hat. Wolle setzt ein mit dem Mauerbau und seiner Vorgeschichte in Ost und West und dessen unmittelbaren Auswirkungen. Es folgen eher thematisch gegliederte Kapitel, die sich zunächst den Zukunftsentwürfen und -vorstellungen ("Unsere Welt von morgen"), dann den Reformen in der Wirtschaft im Rahmen des "Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung" sowie dem Städtebau, der Gesellschaftspolitik und Gesellschaft, insbesondere mit Blick auf die Jugend, der Entspannungspolitik sowie Kunst, Kultur und Wissenschaft widmen. In den letzten Kapiteln wendet er sich der Rezeption von "1968", den Auswirkungen des Prager Frühlings und dessen Niederschlagung und abschließend dem Ende der Ära Ulbricht zu. Es handelt sich freilich nicht um eine systematische Darstellung; eher assoziativ und im Plauderton werden die unterschiedlichsten Facetten dieses Jahrzehnts aneinandergereiht. Dabei geht es zwar immer wieder auch um Zukunftsentwürfe und Reformen auf der einen und die staatlich-gesellschaftliche Realität auf der anderen Seite; konsequent durchgehalten wird die Dichotomie von hochgesteckten Erwartungen und darauf folgenden Enttäuschungen jedoch nicht.

Dabei gelangt Wolle zu manchen bedenkenswerten Einsichten. So hätten sich die Anhänger der SED nach dem 13. August 1961 "trotz der offenbar gewordenen Katastrophe ihres Systems als Sieger der Geschichte" gefühlt, auch wenn sie ihre Stellung nur durch den Einsatz von Gewalt hatten behaupten können (93). Gut getroffen ist auch die "spezifische Gefühlslage" der 1960er Jahre in Ideologie, Wissenschaft, Hochkultur und Massenkultur, die unter anderem die "humanistische Botschaft der allgemeinen Menschheitsverbrüderung", den "unreflektierte[n] Glaube[n] an den Fortschritt von Wissenschaft und Technik", den Glauben "an die Gesetzmäßigkeit der Geschichte und deren Beherrschbarkeit durch Erkenntnis dieser Gesetze", den "wissenschaftlich-technische[n] Fortschritt [als] Voraussetzung der sozialistischen Gesellschaft", die "Verherrlichung der Arbeit" und die völlig säkularisierte, entgöttlichte Vorstellung der Welt der Zukunft beinhaltete (110-113). Verwiesen sei schließlich noch auf die im Zusammenhang mit den verbesserten Konsummöglichkeiten angestellte Überlegung, dass die SED-Führung sich hier "gerade auf einem Terrain [profilierte], auf dem der Westen schwer zu schlagen war" (189) - ein zentrales Problem, das in einem noch stärkeren Maße auf den Konsumsozialismus unter Honecker zutraf.

Demgegenüber beeinträchtigt freilich eine ganze Reihe von Mängeln die Qualität von Wolles Darstellung. So sind Aufbau und das, was unter den jeweiligen Kapitelüberschriften subsumiert wird, oft nicht durchdacht. Warum werden Fragen, die Kunst und Kultur betreffen, in zwei Kapiteln und nicht in einem behandelt? Warum beginnt das letzte Kapitel ("Aufbruch in die Stagnation") noch einmal mit Rückwirkungen der Niederschlagung des Prager Frühlings in der DDR? Das Kapitel "Wandel ohne Annäherung" schließlich geht nur sehr knapp auf die von Bahr geprägte Formel und die Reaktion Otto Winzers ein ("Aggression auf Filzlatschen"), enthält ansonsten aber zwei Abschnitte über die propagandistische Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik im Zusammenhang mit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und über die Vietnam-Propaganda der DDR. Eine fundierte Auseinandersetzung mit der "Westpolitik" der DDR sieht jedenfalls anders aus.

Überdies werden zahlreiche Themen zwar angeschnitten, aber nicht hinreichend erläutert. Warum begann der "Motor der Wirtschaftsreformen" in der DDR ab 1965 zu stottern? (151) Warum leitete Ulbricht "eine größere wirtschaftliche Beweglichkeit des Systems" in den 1960er Jahren ein (395)? Warum fand das "Kahlschlag-Plenum" 1965 statt? Die Erklärung, dass die Parteiführung Ende 1965 das Gefühl hatte, "nicht mehr Herrin des Verfahrens zu sein" (294), reicht jedenfalls nicht aus.

Auffallend ist auch die Nutzung einzelner Archivalien, ohne diese hinreichend zu kontextualisieren. So werden etwa in einem interessanten Bericht des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen von 1963 der Mangel an qualifizierten "Hochschulkadern" im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten und der Bundesrepublik beklagt und Überlegungen zur Behebung des Problems angestellt; der mindestens ebenso interessanten Frage, ob sich die Voraussagen erfüllten oder nicht, wird indes nicht nachgegangen. Äußerst problematisch ist überdies der Umgang mit einem Bericht über die Studenten der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin von 1967, in dem diese in eine kleine Gruppe überzeugter SED-Anhänger, eine ebenso kleine Gruppe von solchen, die "starke und prinzipielle Vorbehalte gegenüber der Politik von Staat und Regierung" hegten (309) und "eine überaus heterogene Gruppe" von politisch Desinteressierten, Indifferenten und politisch Suchenden (310) aufgeteilt werden. Im Anschluss daran behauptet Wolle, man könne diesen Bericht "nahezu eins zu eins auf die anderen Fakultäten und Hochschulen übertragen" (310), ohne zu berücksichtigen, dass es bei den Theologen aufgrund des nie spannungsfreien Staat-Kirche-Verhältnisses sicher anders zuging als in anderen Fakultäten, von den Besonderheiten der Humboldt-Universität ganz zu schweigen.

Ärgerlich sind ebenfalls zahlreiche Ungenauigkeiten und Fehler. So ist es unzulässig, Erhards Bezeichnung kritischer Schriftsteller als "Pinscher" und die strafrechtliche Verfolgung von Kritikern in der DDR in dem Satz zu parallelisieren: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!" (35) Bei dem mehrfach zitierten Gespräch zwischen Ulbricht und Chruschtschow am 1. August 1961 handelte es sich nicht um ein Telefongespräch (48, 61); außerdem fielen "die Würfel" für den Mauerbau nicht erst damit, sondern bereits früher (64). Der Umschwung in der Jugendpolitik von einer leichten Öffnung hin zu stärkerer Repression wird allein an einer Dienstanweisung Mielkes vom 15. Mai 1966 festgemacht, ohne darzulegen, dass das Politbüro bereits 1965 diesen Richtungswechsel vollzogen hatte. Unzutreffend ist schließlich auch die Behauptung, dass die Gründe für die ausgebliebene Teilnahme der DDR-Truppen an der Intervention in der ČSSR "bis heute nicht ganz klar" seien (370). 2008 ist nachgewiesen worden, dass die sowjetische Führung selbst - zum großen Ärger von Ulbricht - die NVA hier zurückhielt, nachdem die Dubček-Gegner darum gebeten hatten, keine deutsche Truppen einzusetzen.

Insgesamt handelt es sich um ein offensichtlich zu schnell geschriebenes, etwas oberflächliches Buch, das von einer Berücksichtigung der Fachliteratur und einer stärkeren gedanklichen Durchdringung des Gegenstandes profitiert hätte.

Rezension über:

Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971, Berlin: Ch. Links Verlag 2011, 440 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-619-2, EUR 29,90

Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971, Berlin: Ch. Links Verlag 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/09/19786.html


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