sehepunkte 11 (2011), Nr. 9

Andreas Fahrmeir: Revolutionen und Reformen

Überblickt man die verfügbaren Gesamtdarstellungen zu einzelnen Abschnitten der europäischen Geschichte, zeigen sich sehr unterschiedliche Muster. Beispielsweise legte Eric Hobsbawm mit Europäische Revolutionen 1789-1848 eine schwungvolle, vor allem chronologisch vorgehende Synthese aus einer unorthodoxen marxistischen Perspektive vor. Hartmut Kaelble gliederte seine Sozialgeschichte Europas seit 1945 systematisch nach Themen und Problemen, die er strikt vergleichend und im Dialog mit dem Forschungsstand behandelte. Jörg Fisch legte eine konzise Gesamtdarstellung Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850-1914 vor, in der er faktenreiche Kapitel zu einzelnen Ländern mit der grundsätzlichen Diskussion der zentralen Strukturprobleme und tiefer Erschließung des Forschungsstandes verband.

Andreas Fahrmeir geht anders vor. Er kennt und nutzt den internationalen Forschungsstand, vor allem den englischsprachigen, jedoch ohne die Leser explizit in ihn einzuführen. Er argumentiert, stellt Fragen und entwickelt Thesen, gliedert aber im wesentlichen chronologisch und präsentiert eine dichte, lebendige, erzählende Gesamtdarstellung. Sie behandelt die klassischen Themen verlässlich und vermag immer wieder, sie in besonderes Licht zu tauchen. Sie betont die Politikgeschichte, ohne sie zu verabsolutieren. Sie unterscheidet zwar sorgfältig zwischen verschiedenen Staaten und Regionen, argumentiert aber in der Regel grenzüberschreitend, im Hinblick auf europaweite Entwicklungen. Es handelt sich um ein facettenreiches, eigenständiges, gelungenes Buch, das eine Lücke füllt und sowohl Fachleuten wie einem breiten Publikum zu empfehlen ist.

Das erste der drei Großkapitel, in die sich der Band gliedert, heißt "Revolution (1789-1815)". Die Französische Revolution wird überzeugend in den Kontext zahlreicher Unruhen, Konflikte und Reformen gestellt, die vielerorts in Europa in den 1780er Jahren stattfanden, dann als "Revolution in einem Land" auf die geringere Leistungsfähigkeit der französischen Institutionen und die unzulängliche Taktik des Monarchen und seiner Minister zurückgeführt und in ihrem komplizierten Ablauf eindringlich geschildert - sehr nüchtern, mit viel Aufmerksamkeit für ihre menschlichen und politischen Kosten, wobei immer wieder die weniger gewaltsame englische Entwicklung geschickt ins Spiel gebracht wird und indirekt als Vergleichsmaßstab dient. Europas Revolutionsbegeisterung und -furcht werden gebührend geschildert, europäische Konvergenzen werden im Verfassungsrecht, in der Sozialstruktur, in der Bildungs- und Rechtspolitik aufgezeigt. Ausführlich und kleinschrittig schildert der Autor die außenpolitischen Strategien der einzelnen Staaten und die verheerenden Kriege, die 1792-1815 Europa überzogen, natürlich auch Napoleons Aufstieg, Reichsbildungsversuch und Ende, bis hin zum Wiener Kongress und seiner Suche nach "postrevolutionärer Stabilität". Dem Leser bleiben vermutlich die 3-6 Millionen Kriegstoten jener 25 Jahre stärker im Kopf als die raschen Fortschritte bei der Abschaffung des Feudalismus. Ein bilanzierender Vergleich zwischen revolutionärem und nicht-revolutionärem Übergang in die Moderne unterbleibt. Sofern noch Bedarf an Entmythologisierung besteht, hier wird er gedeckt: z.B. bei der Schilderung, wen der Bastille-Sturm am 14. Juli 1789 wirklich befreite (48), und bei der ernüchternden Dekonstruktion von Goethes emphatischem Valmy-Kommentar ("Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus", 68). Weniger deutlich wird, warum und wodurch die Große Revolution und ihr Erbe Napoleon zeitweise so viele Menschen extrem begeisterten und mobilisierten.

Kapitel II heißt nicht etwa "Restauration", sondern "Reform (1815-1840)". Es beginnt mit einer "groben Skizze der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts", die weit - allzu weit? - von der Vorstellung einer "Industriellen Revolution" abrückt, dann gekonnt unterschiedliche Erklärungen ihres erstmaligen Auftretens in England mustert, hinter der These von der damaligen "Verelendung des Proletariats" ein berechtigtes Fragezeichen anbringt, von einem allgemeinen Aufstieg des Bürgertums nichts wissen will (dabei aber das kontinentaleuropäische Bildungsbürgertum gröblich vernachlässigt), auf die Reform des britischen Poor Law eingeht und bei frühsozialistischen Ideen endet. Im größten Teil des Kapitels zeichnet der Autor vor allem die 1830er, zum Teil auch die 1820er Jahre als Periode der Veränderung. Damit korrigiert er ein Bild, das entsteht, wenn man vor allem von Preußen und vom Deutschen Bund her auf Europa blickt, was Fahrmeir erfolgreich vermeidet. Er übersieht nicht das Restaurative und das Repressive des Systems Metternich, der russischen Polenpolitik und anderswo im damaligen Europa, aber indem er die südeuropäischen Revolutionen der 1820er Jahre, Griechenland und die liberale Begeisterung für dessen Emanzipation aus osmanischer Herrschaft, die Abschaffung der Sklaverei, vor allem aber die Umstürze um 1830 und danach in Frankreich, Belgien, Deutschland, Polen und Italien kraftvoll ins Bild rückt, auch in gekonnter Auswahl auf Vorgänge außerhalb Europas blickt, etwa auf die Entkolonisierung in Lateinamerika, zeigt er überzeugend, wie viel Bewegung in jenen Jahrzehnten stattfand und wie flexibel die in Wien 1815 etablierte Ordnung darauf zu reagieren verstand. " Es sah fast so aus, als wäre es möglich, im Rahmen einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Freiheit, Frieden und beschränkte Demokratie miteinander zu verbinden."

Ich bin nicht sicher, dass das Buch insgesamt klar macht, warum eben dies nicht gelang. Dass und in welchen Hinsichten es nicht gelang, führt Kapitel III aus, unter dem bezeichnenden Titel "Revolution? (1840-1850)". Es schildert die zunehmenden Spannungen zwischen den Garanten der Wiener Ordnung, speziell zwischen Frankreich und Großbritannien, die ökonomischen Krisen und zunehmenden sozialen Spannungen der 1840er Jahre, die anschwellenden unerfüllten Forderungen der bürgerlichen Öffentlichkeit und die daraus folgenden politischen Kontroversen. Es weigert sich, die Pariser Revolution vom Februar 48 als Ausgangspunkt einer europäischen Revolution zu akzeptieren, weist vielmehr ausführlich auf andere, frühere Unruhezentren hin, auf Krakau 1846, die Schweiz 1847, auch auf die Münchener "Revolution" gegen Lola Montez vom Februar 48. Kenntnisreich werden dann die wichtigsten Schauplätze und Aspekte der Revolution(en) von 1848/49 vorgestellt, übrigens einschließlich Londons (Chartisten). Nicht überzeugend finde ich Fahrmeirs Entscheidung, die Analyse der komplexen Zusammenhänge auf drei Analyseebenen aufzufächern: "Innenpolitik", "Außenpolitik" und "Nationalbewegungen". Dieser Zugriff und der völlige Verzicht auf Phaseneinteilung und räumliche Typologisierung führen zur Verwirrung. Ideenreich, anregungsstark, aber auch zum Widerspruch reizend ist Fahrmeirs Plädoyer, die Vorstellung von einer europäischen Revolution aufzugeben: was üblicherweise dazu gezählt werde, sei einerseits zu heterogen und oft wenig zusammenhängend (trotzdem spricht er von "Kettenrevolution"), andererseits - so die meisten Vorgänge in den deutschen Staaten - nicht wirklich revolutionär gewesen. "Insgesamt kann man aber feststellen, dass die 'Revolutionen' vielerorts das nachholten, was in den Reformen um 1815 angelegt gewesen war: die Parlamentarisierung und Konstitutionalisierung eines großen Teils Europas."

In der Einleitung entwickelt der Autor als angeblich leitende Frage des ganzen Bandes die nach dem Verhältnis von sozial-ökonomischen und politischen "Revolutionen". In den drei Hauptkapiteln tritt diese Frage sehr weit zurück. Im prägnanten Schlussabschnitt nimmt sie der Autor wieder auf und beantwortet sie relativierend und differenziert. Doch seien um 1850 die freiheitlichsten Gesellschaften Europas auch die wohlhabendsten gewesen - bei wachsendem Abstand zwischen den verschiedenen Teilen des Kontinents.

Dem Buch ist nicht vorzuwerfen, dass es viele neuere Einsichten der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte, auch der Familien- und Geschlechtergeschichte beiseite lässt. Denn zum einem bezieht es davon immer wieder manches ein, so etwa in den zahlreichen, klug ausgewählten, manchmal überraschenden biographischen Kurz-Einschüben. Zum anderen muss so ein Buch auswählen, der Verfasser tut es bewusst. Doch auch wenn man das Grundmuster akzeptiert, vermisst man manches, zum Beispiel Ausführungen zur Geschichte des Beamtentums oder zur Entstehung der Arbeiter- und Frauenbewegungen in der Revolution. Der Verfasser unterschätzt die Macht des anschwellenden Nationalismus jener Jahrzehnte. Vor allem versagt er sich jeden gründlicheren Blick in die Jahrhunderte vor 1789 und die Jahrzehnte nach 1850. So kann er den von ihm behandelten Abschnitt europäischer Geschichte weder als Teil längerfristiger Prozesse begreifen noch wirklich in seiner epochalen Signatur durch Vergleich mit vorher und nachher erfassen. Dazu hätte es klarerer Vorstellungen vom längerfristigen Wandel in Europa, schärferer Begriffe und mehr Theorie bedurft. Gleichwohl bietet Fahrmeir auf nur 290 Textseiten eine wohl überlegte, sehr eigenständige Synthese, die mit großer intellektueller Kraft und bemerkenswerter Darstellungskunst äußerst komplexe Sachverhalte plausibel strukturiert und neu beleuchtet. Zu den erfreulichen Lektüre-Erfahrungen gehört, wie oft der Verfasser die komplexe, durchweg nüchterne Argumentation mit gut ausgewählten konkreten Erfahrungs- und Ereignisschilderungen anreichert. Wie es der Umschlagtext verspricht, gelingt es dem Buch, die Geschichte dieser bewegten Epoche lebendig und anschaulich zu erzählen.

Rezension über:

Andreas Fahrmeir: Revolutionen und Reformen. Europa 1789-1850 (= C.H.Beck Geschichte Europas; 1985), München: C.H.Beck 2010, 304 S., 3 Abb. + 3 Karten, ISBN 978-3-406-59986-6, EUR 15,40

Rezension von:
Jürgen Kocka
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Kocka: Rezension von: Andreas Fahrmeir: Revolutionen und Reformen. Europa 1789-1850, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/09/18568.html


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