sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8

Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800

Die Rede von der 'Wiederentdeckung der Religion' scheint sich gegenwärtig als Metadiskurs verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder zu etablieren. Dessen Kern bildet eine Rhetorik, welche die Figur von der 'Wiederkehr des Verdrängten' prominent setzt und Religion als eine Art Wiedergänger aus der Vormoderne auffasst, der nach Jahrzehnten der Dominanz "einer modernisierungstheoretischen Konzeption der Geschichtsschreibung" [1] sein Recht als eines der zentralen kulturellen Phänomene einfordert. In diesem rezenten Interesse für Religion liegt gerade für die jüngere Kulturwissenschaft offensichtlich die Verheißung möglicher Neuperspektivierungen kulturwissenschaftlicher Fragestellungen. Die Kehrseite dieses Versprechens zeigt sich dort, wo der neu entdeckte Anspruch religiöser Zusammenhänge auf kulturelle Bedeutsamkeit zu undifferenzierten Hypostasierungen des Religiösen führt.

Die Habilitationsschrift des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Daniel Weidner situiert sich auf eben diesem Problemfeld sowohl in Abgrenzung von einem Verständnis der Religion als kulturelle Universalie als auch im Anschluss an eine Kulturwissenschaft, deren Gegenstände in den Grenzbereichen zwischen den Disziplinen liegen. Zusammen ergeben die beiden Kriterien das Modell eines kulturwissenschaftlichen Zugangs zur Religion, der sich wesentlich an ihrer Textualität und damit an ihrer Schnittmenge mit der Literatur orientiert. Es ist diese gemeinsame Teilhabe an einer "Textkultur" (16), - und Weidner meint in erster Linie den Bestand an, aber auch den Umgang mit und die Konzepte von schriftlichen Texten, die einer Kultur als Wissensspeicher dienen - welche die Erforschung der Religion anhand des Verhältnisses von Bibel und Literatur begründet. Dass dieses um 1800 mit der Krise des protestantisch geprägten Schriftprinzips und in Folge der Herausbildung der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung von besonders spannungsreichen Verhandlungen um Autoritätsansprüche und Deutungshoheiten geprägt ist, motiviert Weidners Beschäftigung mit der Zeitspanne von ca. 1730 bis 1850, die er als beweglichen "Raum zwischen verschiedenen Wissensordnungen" (14) versteht.

Die Bezüge zwischen Bibel und Literatur sind dabei in mehrfacher Hinsicht wechselseitig: So ist die Bibel gleichermaßen Ort literarischer Darstellungsweisen und für literarische Lektüren offen wie die Literatur einerseits ihr Textverständnis aus der religiösen Tradition bezieht und es andererseits immer wieder in Auseinandersetzung mit der religiösen Textkultur zur Diskussion stellt und verändert. Dass die gegenseitige Bedingtheit auch zur Reflexion der Unterschiede führt, zeigen die um 1800 einsetzenden Abgrenzungsbewegungen zwischen Literatur- und Bibelwissenschaft. Der Anspruch, diesen Vorgang als "Trennungsgeschichte" ernst zu nehmen (18), ohne in den Exklusionsgestus zu verfallen, den namentlich die deutschsprachige Literaturwissenschaft mit dem großen Narrativ der 'Säkularisierung' verknüpft (21), begründet Weidners Methode einer komparatistischen Analyse historischer Diskussionszusammenhänge über "Komponenten der Lektüre und des Umgangs mit der Bibel" (22). In dieser Konzentration auf die Lektüre einzelner "Diskursfiguren" (21), welche neue systematische Zugänge zu historisch neu perspektivierten Konstellationen verspricht, begegnen einander schließlich Gegenstand und Methode von Weidners Entwurf.

Die ersten sechs der insgesamt elf Kapitel widmen sich einschlägigen, wiewohl zum Teil von "Randfiguren" (22) geführten Debatten um Verfahren der Bibelexegese im englisch-, französisch- und deutschsprachigen Kontext. An jeweils zwei bis drei Einzelstudien expliziert Weidner Themenfelder, die sich, angefangen bei den zeichentheoretischen Diskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts, um die Frage nach den Voraussetzungen adäquater Bibellektüre gruppieren lassen. So arbeiten sich Textkritik und Editionstheorie am Dilemma der variantenreichen Überlieferung des schlechthin 'festen' biblischen Textes ab, was etwa in Ursprungs- und Kontinuitätsphantasmen mancher Editionsprojekte zum Neuen Testament mündet. Die wirkmächtige lachmannsche Editionspraxis wird als genuin politisches Unternehmen zur Organisation von Wissen und Macht erhellt, das in einer paradoxen Dynamik die an der Bibel geschulte Philologie gegen die Theologie in Stellung bringt.

Überlegungen zum Sprachursprung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Hebräischen führen zu Herders Theorie von Poesie und Sprache, und über die Debatte um die Authentizität der Schrift kommt Weidner auf Textmodelle der höheren Kritik, welche die Bibel als 'Buch der Bücher' neu semantisieren, indem sie ihre inhaltliche und formale Vielfalt hervorkehren. Das sechste Kapitel zu politischer Theologie und Religionsphilosophie rückt die Verquickung von Bibel und Wissen und die Agonalität verschiedener Bibelinterpretationen in den Vordergrund.

Die zweite Hälfte von Weidners Buch, die nun zunehmend die deutschsprachige Literatur im Blick hat, fokussiert auf Lektürevorgänge und daraus folgende Formen der Verwendung von Bibeltext. Kapitel VII legt verschiedene Ansätze zur Bibelübersetzung dar, die im Versuch adäquater Übertragung Reste generieren, an welche weitere, vor allem durch Transgressivität hinsichtlich herkömmlicher Gattungsgrenzen ausgezeichnete Lektüren anschließen.

Das von Weidner einleitend formulierte Anliegen einer Problematisierung des Konzepts der Säkularisierung wird anhand einer Neulektüre von Schleiermachers biblisch informierter allgemeiner Hermeneutik eingeholt, aus der sich zahlreiche aktuelle Themen der Literatur- und Kulturwissenschaft herleiten. Mit Schiller und Goethe werden zuletzt Kronzeugen der unabsehbaren Komplexität literarischer Säkularisierung durch die Verwendung von Bibelzitaten aufgerufen.

Damit ist ein Panorama des Verhältnisses von Bibel und Literatur um 1800 entworfen, das auch im Vergleich mit der über dreißigjährigen anglo-amerikanischen Forschungsdebatte zur 'Bibel als Literatur' seinesgleichen sucht. Schließlich ist es eben diese, durch eine Kaprizierung auf die literarische Lesart der Bibel auch einseitige Forschungsrichtung, der Weidner zwar als gutem Beispiel folgt, über die aber sein Versuch, der Reziprozität biblisch-literarischer Verhältnisse gerecht zu werden, weit hinausreicht. Man mag Weidner vorwerfen, er schieße gelegentlich in der dezidierten Betonung der Forschungslücken, die sein Ansatz zu schließen verspricht, etwas über das Ziel hinaus. Dies wirkt dort störend, wo seine Rhetorik von den überaus differenzierten und per se weiterführenden Lektüren ablenkt. Angesichts des zweiteiligen Aufbaus seiner Arbeit drängt sich zudem die Frage auf, ob Weidner entgegen seiner Absicht unter der Hand die Dichotomie, die den Forschungsumgang mit Bibel und Literatur durchzieht, im Hinblick auf Dichtung und Exegese perpetuiert, was allerdings die Qualität der Einzelanalysen nicht mindert. Denn was Weidners Untersuchungen in höchst überzeugender Weise vor Augen führen, ist die nahezu unauflösbare Durchdringung zweier Seiten eines Verhältnisses, welche Gegenstände und Darstellungsverfahren gleichermaßen betrifft. Dies gezeigt zu haben, ist Weidners eindrückliche Leistung, die nicht weniger als das Attribut eines Meilensteins in der Forschungsgeschichte zu Bibel und Literatur verdient.


Anmerkung:

[1] Jakob Tanner: Historische Anthropologie. Zur Einführung. Hamburg 2004, 23.

Rezension über:

Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800 (= TRAJEKTE), München: Wilhelm Fink 2011, 437 S., ISBN 978-3-7705-5000-5, EUR 54,00

Rezension von:
Aleksandra Prica
Zürich
Empfohlene Zitierweise:
Aleksandra Prica: Rezension von: Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800, München: Wilhelm Fink 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8 [15.07.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/07/19872.html


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