sehepunkte 11 (2011), Nr. 6

Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 9

Der Suhrkamp Verlag hat auch im Jahr 2010 wieder eine Studie des Forschungsprojektes zum gesellschaftlichen Syndrom der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" (GM) vorgelegt. Vor vier Jahren hatte Claudia Müllauer bereits den vierten Band dieses auf zehn Jahre angelegten Projektes für die Islamischen Welten besprochen. Die Welt ist seit dem nicht stehen geblieben, es hat sich viel getan - und in Hinsicht auf das Thema der "Islamischen Welten" möchte man fast sagen: Bedauerlicherweise hat sich viel getan. Wir werden gerade Zeugen eines historischen Versagens der europäischen Eliten. Sie versäumen es mit dem so kostbaren Moment der Revolutionen im Nahen Osten adäquat umzugehen. Anstatt das schon immer falsche Bild des rückständigen, weil religiös dominierten, Nahen Ostens endlich auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, und in mutigen Schritten eine echte Union der Mittelmeerländer voranzutreiben, predigen europäischen Eliten und Medien gegen angebliche "Wirtschaftsflüchtlinge".

Ist es ein Zufall, dass die europäischen Staaten so reagieren? Eher nicht, und hiermit sind wir beim Thema des so wichtigen Buches von Wilhelm Heitmeyer. Wie passen Europa, seine Eliten und "der Islam" zusammen? Leider nur schwer, dies wird in dem Buch detailliert mit vielen klar verständlichen empirischen Belegen beschrieben. Das Buch erhält seinen Reiz durch das synoptische Lesen der verschiedenen Beiträge, die das Syndrom der GM einzukreisen versuchen. Seit mindestens vier Jahren steckt Europa in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Die reinen Wirtschaftsdaten vermitteln den Eindruck, dass Deutschland Wirtschaft jedoch wieder wachsen wird. Die Besitzenden müssten sich dort also eigentlich keine Sorgen machen. Im 6. Kapitel des Buches wird jedoch detailliert nachgewiesen, dass ein gezielter "Klassenkampf von oben" (Michael Hartmann, 267 ff.) initiiert wurde. Die soziale Ausgrenzung nimmt, per Gesetz verordnet, zu, der Reichtum konzentriert sich in immer weniger Händen, und medial geschürt wird ein Kampf gegen die Gleichheit geführt (Albrecht von Lucke). Von oben wird gezielt gegen die ehemaligen "classes dangereuses" gekämpft, und von unten wird passiv mit verstärkter Unsicherheit reagiert.

Wilhelm Heitmeyer zeigt im ersten Kapitel, dass GM bei den Reichen aus dem unbedingten Willen zur Verteidigung von Privilegien entsteht, bei den ärmeren Schichten hingegen aus dem verzweifelten Versuch Reste von Distinktion und Abgrenzung zu sichern. Claudia Müllauer hatte bei ihrer Rezension darauf hingewiesen, dass lediglich intuitive Einsichten wissenschaftlich bestätigt werden. Ganz so einfach macht es dieser Band dem Leser nicht, denn zumindest der Autor dieser Zeilen war überrascht, dass der "Anstieg islamophober sowie fremdenfeindlicher Einstellungen vorrangig auf die "Gutverdienenden" zurückzuführen ist" (24). Beate Küpper und Andreas Zick weisen in ihrer Untersuchung von acht europäischen Ländern nach, dass die ökonomische Deprivation bei ärmeren Schichten nur 1/3 der GM erklären kann (84-105 ). Einfache materialistische Gegenmaßnahmen helfen hier also nicht weiter. Was also tun? Volker Pispers, der große Kabarettist, hat das Phänomen des Zuschreibens angeblich intrinsischer Eigenschaften treffend anhand des Kalten Krieges beschrieben: "Der Russe, der eine, der immer vor der Tür stand... Der Russe war früher das, was heute Al-Kaida ist. Nur der Russe hat es nie heimlich gemacht, der stand immer offen und ehrlich vor der Tür. ... Das war alles der Russe, es gab nur diesen Einen. Und der stand vor jeder Tür."[1]

Heute stehen die Gesellschaften in Europa vor anderen Herausforderungen, aber auch hier geht es um die Frage wie man friedlich zusammen lebt. Hier liefert Carolin Emcke in ihrem Artikel "Der verdoppelte Hass der modernen Islamfeindlichkeit" (214 - 223) eine klare Handlungsstrategie. Sie zeigt, dass "verschiedene Formen der Diskriminierung darin übereinstimmen ... dem Islam oder Muslimen vermeintlich intrinsisch innewohnende Eigenschaften zuzuweisen, sie sie transhistorisch unwandelbar als monolithisches Subjekt konstruieren" (216). Hierbei kommt es zu einer verhängnisvollen Koalition von Rassisten und angeblichen Aufklärern. Der Islam sei generell frauenfeindlich, rückständig und antimodern. Die Medien haben hier eine extrem wichtige Aufgabe. Einerseits werden vorwiegend islamkritische Muslime zu Diskussionen eingeladen, die dann authentisch das vermitteln sollen, was das europäische Publikum zu hören wünscht, zum anderen werden aber Minderheiten im real existierenden Islam gezielt ausgeblendet: "So erklärt sich, dass homosexuelle Muslime im blinden Fleck der gegenwärtigen Islamdebatte gelandet sind, weil sie einfach nicht in dieses Konstrukt des Islam passen. Sie tauchen ebenso selten auf wie gläubige, muslimische Feministinnen oder gläubige Muslime, die sich die eigene Religion und Tradition kritisch aneignen" (218). Wir müssen also an der Dekonstruktion des als monolithisch vermittelten "Blocks" Islam arbeiten.

Das Buch "Deutsche Zustände" ist nicht gezielt in Hinsicht auf die Frage der Islamophobie zusammengestellt worden. Aber es bietet viele interessante Beiträge zur Frage wie denn Deutschland und andere europäische Länder die Debatte um eine multikulturelle Demokratie vorantreiben sollten. Allerdings lässt uns das Buch auch etwas allein wenn es um die Antwort auf die Frage nach dem Akteur der positiven Annäherung zwischen "dem Islam" und "dem Westen" geht. Denn wie oben gezeigt sind es gerade die Eliten die zunehmen den Hass gegen Muslime verbreiten, und das in einer Zeit, in der die einfachen Menschen aufgrund einer von genau dieser herrschenden Schicht verursachten Wirtschaftskrise so entmutigt sind wie selten zuvor. Für einen erfolgreichen Dialog der Menschen und Kulturen können wir uns also nicht auf die Sloterdijkschen Eliten verlassen. Wer also muss es anpacken? Heribert Prantel sagt ganz klar: "Die Eliten der Gesellschaft - es sind die Kümmerer, diejenigen also, die sich in Wohlfahrtsverbänden, Feuerwehren, Sportvereinen und Bürgerinitiativen um das Gemeinwohl kümmern. Sie sichern die Zukunft der Demokratie" (255).

Das Buch sei jedem ans Herz gelegt, der einen erschreckend klaren Blick auf "Eindringenden Eiszeiten" (Albrecht von Lucke) in Deutschland werfen will (257 - 266).


Anmerkung:

[1] Aufgezeichnet wurde sie am 6.9.2008 in der Stadthalle Aschaffenburg, ausgestrahlt am 1.1.09 um 22.25 Uhr auf BR., einsehbar: http://www.youtube.com/watch?v=2839TkXlmj4&NR=1

Rezension über:

Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 9 (= edition suhrkamp; 2616), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011, 348 S., ISBN 978-3-518-12616-5, EUR 15,00

Rezension von:
Roland Kulke
Brüssel
Empfohlene Zitierweise:
Roland Kulke: Rezension von: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/06/20097.html


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