sehepunkte 11 (2011), Nr. 5

Stephan Günzel (Hg.): Raum

Eines der fruchtbarsten Forschungsfelder der deutschen Geschichtswissenschaft seit einem Jahrzehnt ist zweifelsohne die Erforschung der historischen Dimension von Räumlichkeiten und konkreter, mentaler, metaphorischer oder bildlicher räumlicher Kategorien der Vergangenheit. Diese Untersuchungen zeigen, wie lebendig und innovativ dieses Forschungsfeld ist. Zugleich aber wenden sie oft unterschiedliche, eklektische Theorieansätze beziehungsweise -fragmente an. Von daher kann man sich über die Veröffentlichung des von Stephan Günzel herausgegebenen interdisziplinären Handbuches nur freuen.

Der Band gliedert sich in drei Teile, in denen (I) die Grundlagen (1-76), (II) die "Raumwenden" (77-119) und (III) einige Themen und Perspektiven (121-321) dargestellt werden. Der erste Teil fasst sehr bündig die Beschäftigung mit der Raumproblematik in den Naturwissenschaften, den Geowissenschaften und den bildlichen sowie darstellenden Künsten zusammen. Dabei betonen die Autoren, dass in den verschiedenen Künsten "erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert raumsensibel und mit raumbezogenen Experimenten auf die neuen physikalischen Raumzeit-Annahmen reagiert" (71) wurde. Die Raumdifferenzierungen in der Physik von Aristoteles bis Einstein oder in der Kunst von der antiken Orts- und Körperlehre zur enträumlichten Ästhetik des deutschen Idealismus werden dennoch nicht als Fortschritterzählungen, sondern als Paradigmenwechsel oder Flucht in Abstraktionen interpretiert.

Ausgangspunkt der breiten Ausdifferenzierung von Fragestellungen bezüglich des Raums ist der sogenannte spatial turn, der in Anlehnung an den Begriff linguistic turn, aber gegen dessen Begrenzung der Realität auf die Sprache und das Wort den Raum zur Schlüsselperspektive machte. Er markierte also eine Revalorisierung der Räumlichkeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften und seit Ende der 1980er Jahre die "(Wieder)entdeckung der Humangeographie als Impulsgeberin für transdisziplinäre Debatten" (90). Dementsprechend erläutert der zweite Teil die unterschiedlichen "Raumwenden": erstens die kopernikanische (und kantische) Wende, die zur Aufwertung von Zeit zuungunsten des Raums führte; zweitens den spatial turn, seine methodischen Definitionen von Seiten des Geographen Edward Soja und des marxistischen Sozialphilosophen Henri Lefebvre sowie seine Implikationen in den Sozialwissenschaften; drittens den topographical turn, der in Abgrenzung vom Ersteren vor allem die Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften betraf; ein abschließendes Kapitel warnt vor den Gefahren des Determinismus und des Positivismus.

Der dritte und umfangreichste Teil stellt 14 aktuelle Forschungszweige dar - vom "historischen" zum "epistemischen Raum" über den "körperlichen", den "medialen", den "postkolonialen", den "touristischen" und den "poetischen Raum" usw. Diese Kapitel reflektieren die Vielfalt der vorhandenen Räume und die vielschichtigen Betrachtungsweisen der einzelnen Räume in der wissenschaftlichen Diskussion. Insofern bieten sie einen konzentrierten und nuancierten Überblick über unterschiedliche methodische und disziplinäre Ansätze sowie neue Forschungsprogramme. Das letzte Kapitel beispielsweise fasst die Untersuchungen von Bruno Latour zum Labor und von Hans-Jörg Rheinberg zum wissenschaftlichen Forschungsprozess zusammen und dokumentiert einige deutsche Forschungsgruppen.

Insgesamt zeichnet sich der Band durch seinen systematischen Aufbau aus. Die einzelnen Kapitel folgen derselben Gliederung (Entstehung des Themenfeldes, Spektrum der Diskussion, Offene Fragen und Kontroversen) und sind mit eigenen Literaturhinweisen versehen. Das 35 Seiten lange abschließende Literaturverzeichnis bietet noch weiterführende Angaben. Trotz des Methodenpluralismus, der unterschiedlichen Zugänge und Perspektiven, ist es somit diesem Band gelungen, einen soliden Überblick zu liefern.

Der Leser, insbesondere der Historiker, wird jedoch einige Schwächen bedauern. In dem Kapitel zum "körperlichen Raum" ist der einführende Gegensatz zwischen Frau als "räumlich verortetem Körper" und Mann als "enträumlichtem Geist" (162) zu vereinfachend. Es scheint eher, dass infolge der aristotelisch-galenischen Tradition die Frau mit dem imaginativen und empfindlichen Bereich verbunden und dass in bestimmten Konstellationen eine instrumentelle Auffassung vom Körper entwickelt wurde, die die rationale Seele und ihre Tätigkeit hervorhob. Der zweite Einwand betrifft die Gedächtniskunst (ars memoriae), die als Reservoir von räumlichen Denkmodellen und Wissensordnungen länger und differenzierter hätte entwickelt werden können. Allgemein ist der Band wenig historisch. Die zahlreichen historischen Beispiele sind immer abstrakt. Von den Reflexionen der Historiker über vergangene Räumlichkeiten und räumliche Kategorien ist keine Rede. Das Kapitel über den "historischen Raum" beschränkt sich auf eine Einleitung zum "Archiv" und "Erinnerungsort". Der einzige gelesene Historiker ist Karl Schlögel, der tatsächlich vorzügliche, grundlegende Studien zum Raum vorgelegt hat. Ein gründlicher, internationaler und historiographischer Überblick wäre aber wünschenswert gewesen.

In der Tat fällt auf, dass die vorgestellten Diskussionen tief von den deutschen und angelsächsischen Debatten der 1970er Jahre geprägt sind. Die italienischen und spanischen Historiographien werden sozusagen nicht berücksichtigt, die französische nur über ihre Rezeption und Interpretation in den angelsächsischen Ländern mit einbezogen. Folglich finden das Buch La Production de l'espace (1974) Henri Lefebvres und der von Michel Foucault 1967 im Zuge eines Radiovortrags vorgeschlagene Begriff "Heterotopie" eine sehr breite Resonanz, obwohl solche Bücher beziehungsweise Begriffe für die Historiker nicht zentral sind. Die Annales-Schule wird lediglich in einem Absatz (121-122) zusammengefasst, der dazu die grundlegenden Werke von Lucien Febvre über den Rhein [1] und von Maurice Halbwachs über die "legendäre Topographie der Evangelien im Heiligen Land" [2] nicht erwähnt. Das klassische Werk von Fernand Braudel über das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (Original 1949) wird nur bezüglich seiner Ausdifferenzierung unterschiedlicher Zeiten, nicht aber seines Ansatzes wegen, nämlich die Geschichte eines nichtnationalen Raumes zu schreiben, kommentiert (122). Ein wirkliches europäisches Handbuch zum Thema Raum hätte sicherlich eine andere Gestalt angenommen. Es verwundert also nicht, dass der europäische Raum kaum thematisiert wird (außer in einem Absatz über die "'Provinzialisierung' Europas", 189-190). Schließlich fehlt ein Kapitel über die religiösen Räume.

Insgesamt bietet dieses Handbuch hilfreiche Informationen für Studierende, Promovierende und Lehrende der Kommunikations- und Medienwissenschaften. Es bereichert den Horizont der Historiker, fordert sie gleichzeitig auf, sich an die interdisziplinäre Debatte rückzubinden und eine europaweite Studie zum Thema Raum in Angriff zu nehmen.


Anmerkungen:

[1] Lucien Febvre: Le Rhin. Problèmes d'histoire et d'économie, 2. Aufl., Paris 1935 (1931). Deutsch: Der Rhein und seine Geschichte, Frankfurt am Main / New York 2006 (Campus-Bibliothek).

[2] Maurice Halbwachs: La Topographie légendaire des Evangiles en Terre sainte. étude de mémoire collective, Paris 1941 (2. Aufl. 1971). Deutsch: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 (édition discours 21).

Rezension über:

Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler 2010, XI + 372 S., ISBN 978-3-476-02302-5, EUR 64,95

Rezension von:
Claire Gantet
Université Paris I Panthéon Sorbonne / Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Claire Gantet: Rezension von: Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/05/19104.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.