sehepunkte 11 (2011), Nr. 4

Karl-Joseph Hummel / Michael Kißener (Hgg.): Die Katholiken und das Dritte Reich

1980 gaben Klaus Gotto und Konrad Repgen einen Sammelband Kirche, Katholiken und Nationalsozialismus heraus, der 1983 in überarbeiteter zweiter und 1990 in erweiterter und abermals überarbeiteter dritter Auflage unter dem Titel Die Katholiken und das Dritte Reich erschien. Der anzuzeigende Band ist Konrad Repgen als dem "Nestor der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung" zum 85. Geburtstag gewidmet. Er will die "1980 begründete Tradition" fortführen und "auf der Höhe des Forschungsstandes" von 2009 das alte Ziel, "zentrale Fragen im Verhältnis Kirche, Katholiken und Nationalsozialismus in verständlicher, gleichwohl wissenschaftlich solider Form für breitere Leserschichten darzustellen", neu anvisieren.

Herausgeber und einzelne Autoren betonen, dass sich die Forschungslage in den letzten dreißig Jahren tiefgreifend verändert habe, etwa durch "Öffnung vieler einschlägiger Archive", harte Deutungskämpfe und "neue methodische Ansätze". Nach zwei Überblicksdarstellungen von Michael Kißener (Katholiken im Dritten Reich: eine historische Einführung) und Christoph Kösters (Katholiken im Dritten Reich: eine wissenschafts- und forschungsgeschichtliche Einführung) folgen neun Beiträge zu "Kontroversen und Debatten", zumeist von Autoren, die für das jeweilige Thema ausgewiesen sind. Wolfgang Altgeld schreibt über "Rassistische Ideologie und völkische Religiosität", Matthias Stickler über "Kollaboration oder weltanschauliche Distanz? Katholische Kirche und NS-Staat", Karl-Joseph Hummel über "Die deutschen Bischöfe: Seelsorge und Politik", den "Umgang mit der Vergangenheit: Die Schulddiskussion" sowie Thomas Brechenmacher abermals über "Die Kirche und die Juden" und "Der Papst und der Zweite Weltkrieg". Christoph Kösters skizziert "katholisches Milieu und Nationalsozialismus", Annette Mertens "Deutsche Katholiken im Zweiten Weltkrieg", und Michael Kißener fragt "Ist 'Widerstand' nicht 'das richtige Wort'?". Karl-Joseph Hummel ist schließlich noch für einen dritten Beitrag verantwortlich: "Kirche im Bild: Historische Photos als Mittel der Irreführung". Den Band beschließen ein 33 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der zum Teil der "Kommission für Zeitgeschichte" in Bonn verbundenen Autoren, ein umfassendes Personen-, Orts- und Sachregister sowie Karten zum "Wahlverhalten der katholischen Bevölkerung Deutschlands 1932-1933".

Die Beiträge sind, wie bei Sammelbänden öfters, von sehr unterschiedlicher argumentativer Stringenz und Überzeugungskraft. Zwar betont M. Kißener in seiner "Einführung", es gehe im Bande nicht um einen "moralischen Blick auf die Geschichte der Kirche im Dritten Reich", sondern um einen streng geschichtswissenschaftlichen, der "die Zeit", um die es sich handelt, "aus sich heraus zu verstehen", nicht aber nach später formulierten moralischen Kriterien zu bewerten versucht. Auch verweist er auf die "Komplexität des Themas, die rasche Urteile unmöglich macht und einfache Antworten ausschließt". Doch schon die immer wieder begegnende Redefigur "die Kirche" mag in den Binnenperspektiven römisch-katholischer Ekklesiologie zwar geboten sein, ist genau genommen aber unhistorisch, weil es nun einmal eine Pluralität konkurrierender Konfessionskirchen gibt und unklar bleibt, wer denn genau gemeint ist, wenn von "der Kirche" gesprochen wird: die Bischöfe, die Verbände, die Laien, die akademischen Theologen?

Zurecht betont Kißener die hohe religionskulturelle wie politische Vielfalt im "katholischen Milieu", auch im Klerus, sowie die Spannungen zwischen dem deutschen Episkopat, vor allem dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz Kardinal Bertram, und den Päpsten Pius XI. und Pius XII.. Karl-Josef Hummel verweist denn auch auf die elementare Ratlosigkeit und internen Konflikte unter den deutschen Bischöfen, die zwar, etwa im Streit um Sterilisierung und Euthanasie, "die von der höchsten kirchlichen Autorität verkündeten Grundsätze des christlichen Sittengesetzes" öffentlich als verbindlich einklagten, aber mit traditionellen politischen Interventionen - etwa Eingaben und Denkschriften etc. - nur wenig zu erreichen vermochten. Und Proteste gegen die Judenverfolgung - und hier speziell die Pogrome im November 1938 - gab es mit wenigen Ausnahmen, allen voran der des Berliner Dompropstes Bernhard Lichtenberg, nicht - trotz der 1928 veröffentlichten päpstlichen Kritik des modernen Rasseantisemitismus. Stattdessen stärkte der überkommene kirchliche Antibolschewismus 1941 die Begeisterung vieler Katholiken für den Krieg gegen die Sowjetunion, auch wenn der diktatorische Maßnahmestaat dann den Krieg zur weiteren Einschränkung der öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten der Kirchen zu nutzen suchte.

Über all dies wird seit langem kontrovers diskutiert, wie die vorzügliche forschungsgeschichtliche Einführung Christoph Kösters zeigt. Deutlich wird, dass sich katholische Kirchenhistoriker für Weimarer Republik und NS-Diktatur lange Jahre sehr viel weniger als ihre protestantischen Kollegen interessierten und erst der generelle Aufschwung zeithistorischer Forschung auch zu relevanten Fortschritten in der Erkundung spezifisch katholischer Einstellungen im 'Dritten Reich' führte.

Dennoch ist, bei allem Respekt vor der Fülle des inzwischen Erreichten und im Bande an Informationen Gebotenen, auf elementare Defizite in der zeithistorischen Katholizismusforschung speziell zum 'Dritten Reich' hinzuweisen. Noch immer fehlen Studien zu prominenten akademischen Theologen und den Konflikten innerhalb mancher katholisch-theologischer Fakultäten. Ein mit dem Nationalsozialismus sympathisierender theologischer Hochschullehrer wie Karl Adam wird im Bande ebenso wenig erwähnt wie ein regimekritischer Religionsintellektueller wie Theodor Haecker. Im Literaturverzeichnis fehlen wichtige theologiehistorische Studien, etwa von Thomas Ruster und Rainer Bucher. Auch ein so einflussreicher Jesuit wie Erich Przywara oder Carl Muth, der langjährige Herausgeber des "Hochlandes", kommen nicht in den Blick.

Zurecht betont Christoph Kösters, dass eine kirchenbezogene katholische Zeitgeschichtsforschung, arbeitsteilig betrieben von katholischen "'Profan'"- und Kirchenhistorikern, nicht mehr hinter jenen historisch-kritischen Methodenstandard zurückfallen darf, der im unausweichlich von Kontroversen geprägten zeithistorischen Diskurs seit den 1960er Jahren erreicht wurde. Dann stellen sich für die Forschung ganz neue Aufgaben: Die in den 1920er und 1930er Jahren geführten theologischen Debatten über Ort und Rolle "der Kirche" in "der Moderne" sind zu erschließen, aber auch die Programme einer neuen, alternativen (oft neoständisch imaginierten) Ordnung des Gemeinwesens. Auch bedarf es dringend begriffs- und ideenhistorischer Studien zu Grundbegriffen des spezifisch katholischen Ethikdiskurses, etwa zu Begriffen wie Naturrecht, ordo und Sittengesetz. Im Sachregister des anzuzeigenden Bandes ist nicht einmal der Begriff "Soziallehre" nachgewiesen - er kommt in keinem Beitrag vor. Dies lässt erkennen, dass Entscheidendes noch zu tun ist.

Rezension über:

Karl-Joseph Hummel / Michael Kißener (Hgg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 317 S., ISBN 978-3-506-76844-5, EUR 32,90

Rezension von:
Friedrich Wilhelm Graf
Evangelisch-Theologische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Wilhelm Graf: Rezension von: Karl-Joseph Hummel / Michael Kißener (Hgg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/04/17373.html


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