sehepunkte 11 (2011), Nr. 1

Patrice Flichy: The Internet Imaginaire

'Akteur Netzwerk Theorie' (ANT) ist ein Zauberwort, das zunehmend in der Kunst- und Bildwissenschaft kursiert. Durch neuere Publikationen wurden zentrale Texte dazu in deutscher Sprache verfügbar und durch erste Tagungen wichtige Diskussionen angestoßen. Dieser methodische Ansatz ist ein Strang innerhalb der europäischen Science and Technology Studies, der Medien als komplexe, vernetzte Kulturtechniken beschreibt und analysiert. Die frühen aus den Bereichen der französischen Wissenschaft stammenden Vertreter, allen voran der Soziologe Bruno Latour, erfreuen sich mittlerweile einiger Popularität, während deren NachfolgerInnen kaum angemessen rezipiert werden. Zu ihnen gehört Patrice Flichy, Medienhistoriker an der Université de Marne-la-Vallée, dessen Publikationen mittlerweile auch in englischer Sprache verfügbar sind. In "The Internet Imaginaire" beschreibt er die verschiedenen Bestrebungen und Protagonisten, die zu den Anfängen des Internet in den USA beigetragen haben. Dies ist nicht nur im historischen Sinne aufschlussreich, vielmehr ergründet Flichy mit seiner Analyse zentrale Mythen und Widersprüche, die das Internet auch oder gerade in Zeiten von Web 2.0 prägen.

Im Sinne der ANT erfasst er mit seiner Recherche ein verzweigtes Netz aus Protagonisten, technischen Voraussetzungen, Zufällen und 'Imaginaires'; das sind Utopien der Entwickler, Erwartungen der NutzerInnen sowie gesellschaftliche Ideale. Er betrachtet sie "as an integral part of the development of a technical system" (2) und räumt ihnen in seiner Studie den entsprechenden Stellenwert ein. Mit diesem Verständnis von Technik als gleichermaßen Werkzeug und Träger von Ideen verortet Flichy seinen Ansatz zwischen den Maximen des Paläontologen André Leroi-Gourhan sowie der Sprachanalyse von Roland Barthes und Paul Ricœur. Die Einführung, in der er dieses Vorgehen auf gut zehn Seiten darlegt, gleicht einem Parforceritt. Ausführlicher, und für in die französische Theorielandschaft weniger eingeweihte Leserinnen und Leser aufschlussreich, schreibt er darüber in seiner Publikation "Understanding Technological Innovation". [1] Sie ist zeitgleich mit "The Internet Imaginaire" in englischer Übersetzung erschienen.

Für die Analyse der maßgeblichen Diskurse oder 'Imaginaires' untersucht Flichy zwei Textgruppen: Die erste besteht aus Schriften von politischen und wissenschaftlichen Experten und Entscheidungsträgern aus den Bereichen der Kommunikations- und Computertechnologie, in denen Grundzüge und erste Nutzungsmöglichkeiten vernetzter Kommunikation formuliert werden. In der zweiten geht es um deren breite Vermittlung durch Artikel von Computerexperten und Aktivisten im Technologie-Magazin Wired sowie Reportagen aus den Nachrichten-Magazinen Time, Newsweek und Business Week.

Einen Ausgangspunkt für die Analyse eines Netzwerks aus Relationen und fortwährenden Transformationen zu wählen, ist ein rein definitorischer Akt, der sich nach dem Erkenntnisinteresse richtet. Flichy wählt - was zunächst erstaunt - nicht die frühe militärische Forschung am sogenannten ARPANET (Advanced Research Projects Agency), sondern die etwa zur gleichen Zeit, um 1970 einsetzende Diskussion um den "Electronic Highway". Noch jenseits konkreter Realisierbarkeit war dies zunächst die technische Utopie eines (Glasfaser)Netzwerks, das u.a. interaktives Fernsehen, Bildtelefonie und Film-on-Demand ermöglichen sollte. Daran knüpfte sich "the coordination of many actors and the development of a series of compromises and adjustments" (4): Die Telefongesellschaften versprachen sich hier neue Geschäftsfelder, die jedoch nur durch eine Lockerung der bestehenden Telekommunikationsgesetze zu erschließen wären. Unter republikanischer Regierung wurden diese auch vorbereitet. Der demokratische Vizepräsident Al Gore griff die Idee eines flächendeckenden Kommunikationsnetzes anschließend auf mit dem Interesse, breite Zugänge zu Bildung und Information zu schaffen. Flichy zeichnet diese Prozesse sorgfältig nach und macht deutlich, wie politische und ökonomische Aspekte der Liberalisierung einander zunehmend überlagern und bringt dies schließlich auf die Formel "democracy = information highways = deregulation" (31). Dies sieht er nicht nur als einfache Transformationsprozesse, die Ideen auf ihrem Weg zwischen verschiedenen Akteuren durchlaufen, sondern im Sinne Barthes oder Ricœurs als Vereinnahmung demokratischer Ideale für wirtschaftliche Interessen. Die Telefongesellschaften scheiterten schließlich an der Entwicklung von Fiberglasfaser zum Aufbau eines Kommunikationsnetzes. Die Idee einer Informationsgesellschaft ging aber, so Flichys Argumentation, über auf ein anderes Medium, das gerade im entstehen war: das Internet.

Dessen technische Anfänge liegen im ARPANET, einem vom US-Verteidigungsministerium 1969 initiierten Projekt zum Aufbau eines auf mehrere Rechner verteilten und damit weniger störungsanfälligen Kommunikationssystems, das von Forschungseinrichtungen im Westen der USA durchgeführt wurde. Flichy beschreibt, wie bereits seit dessen früher Entwicklung das Interesse der maßgeblichen Wissenschaftler wie Joseph Licklider oder Robert Taylor über den einfachen Datentransfer hinausging und sich auf die Möglichkeiten der Kommunikation und Zusammenarbeit richtete. Das 'Imaginaire' der kooperativen Informationstechnologie resultierte damit aus der technischen Notwendigkeit, die Rechnereffizienz zu steigern, aus der sozialen Utopie der netzwerkbasierten Kommunikation mit Gleichgesinnten - den sogenannten "Communities of common interest" (41) - sowie einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und deren entsprechenden Experimenten. Die Idee und die Nutzung der Kommunikationsnetzwerke verbreiteten sich seit den späten 1970er-Jahren zunehmend an US-amerikanischen Hochschulen und innerhalb von Städten durch Public Electronic Networks, die der Belebung von lokalem Austausch und lokaler Identitätsbildung dienen sollten. Die Besonderheiten der Anfangszeit des Internet liegen damit in der weitgehenden Personalunion von Entwicklern und Usern und in der relativen Homogenität der User-Gruppen.

1985 weitete sich mit der Gründung der Internetplattform The Well, die sich an die verstreuten Landkommunen der kalifornischen Counter Culture richtete, die Nutzung aus. Weder enge lokale Grenzen, noch ein spezifisch beruflicher Kontext verband die neuen Nutzer, sondern das Internet selbst als Mittel zur Kommunikation und als Informationsbörse. Einer ihrer ersten maßgeblichen Protagonisten, der Journalist Howard Rheingold, prägte dafür in Erweiterung der "communities of common interest" den Begriff der "virtual community". Flichy beschreibt, wie unter dem Leitbild der "virtual community" das innerhalb enger akademischer Zirkel entstandene Modell der Internetnutzung auf einen viel umfassenderen sozialen Raum übertragen wurde, ohne den veränderten Bedingungen Rechnung zu tragen, die u.a. darin bestanden, dass persönliche Bekanntschaft, gleiche Interessen und Umgangsformen hier nicht zwangsläufig vorlagen. Ein anderer Diskurs, der mit der Verbreitung des Internet wieder aufgegriffen wurde, ist der der Demokratisierung von Wissen und Information, der aus der Utopie des Electronic Highway hervorgegangenen war. Im zweiten Teil seines Buches zeigt Flichy hauptsächlich anhand von Texten aus dem ab 1993 herausgegebenen Magazin Wired, wie diese beiden in sich komplexen und widersprüchlichen Leitbilder die Verbreitung und Nutzung des Internet maßgeblich - und letztlich bis in die Gegenwart - begleiten. Eine produktive Diskussion müsste nach Flichy an dieser Komplexität ansetzen, statt sich damit zu begnügen, längst verwischte Frontlinien immer wieder neu zu ziehen.

Die Netz-, oder allgemeiner, die Medienkunst müsste sich in diesem Sinne fragen lassen, welche Rolle sie hier spielt. Stehen nicht zum Beispiel Netzkunstprojekte, die Kommerzialisierung des Internet kritisch kommentieren, aber selbst höchsten Wert auf den Cyberspace als nicht reglementierten Raum legen, schon genau in diesen Widersprüchen?

Flichy geht auf Protagonisten aus den Bereichen von Kunst und Musik nur ein, wenn sie als Autoren in Wired vertreten sind. Beiträge, wie der von Stelarc zur Verschaltung von Mensch und Maschine, sind damit zu vereinzelt, um wirklich Aussagekraft zu erlangen. Dennoch zeigen sie, dass auch die Akteure der Kunst in das Netz der 'Imaginaires' eingelassen sind, sie aufnehmen, reproduzieren, aber auch transformieren können.


Anmerkung:

[1] Patrice Flichy: Understanding Technological Innovation, Cheltenham / Northampton / Massachusetts 2007.

Rezension über:

Patrice Flichy: The Internet Imaginaire, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, 255 S., ISBN 978-0-262-06261-9, GBP 18,95

Rezension von:
Barbara U. Schmidt
Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Barbara U. Schmidt: Rezension von: Patrice Flichy: The Internet Imaginaire, Cambridge, Mass.: MIT Press 2007, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/01/14718.html


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