sehepunkte 10 (2010), Nr. 9

Ann C. Gunter: Greek Art and the Orient

Die Begegnung Griechenlands mit dem Orient während der so genannten Orientalisierenden Epoche wird überwiegend als eine Zeit intensiven Kontaktes verstanden, in der die Griechen zur Fortentwicklung eigener künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten Elemente vorderasiatischer Kunst übernahmen und sich anverwandelten. Entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen basieren deshalb hauptsächlich auf dem Vergleich und analysieren Wege der Adaption und die Art und Weise der Umformung entsprechender Vorlagen durch die Griechen. Diese Vorgehensweise diene, so die Verfasserin, letztlich der Suche nach dem Wesen der griechischen Kunst und der Beschreibung ihrer Originalität. Um diese zu erfassen, fordere man zwar, das Verhältnis der griechischen Kunst zu Ägypten, Assyrien, Phönikien, Lydien etc. zu analysieren und zwischen den jeweiligen Inspirationsquellen zu unterscheiden, sei aber gleichwohl immer wieder bereit, alle jene Gebiete unter den Begriff "Orient" zu subsumieren. [1]

Diese im 19. Jahrhundert wurzelnde Herangehensweise fasst den Orient als eine essentialistische, statische Größe auf; die orientalisierende Epoche werde dabei, so Gunter, reduziert auf eine zeitlich begrenzte Phase griechischen Interesses, bisweilen geradezu auf eine Modeerscheinung, die Vergleiche etwa mit dem europäischen Japonismus des späten 19. Jahrhunderts (72) nahelegt.

Dieser Sichtweise stellt die Verfasserin ein Modell gegenüber, das die politischen Gegebenheiten in Vorderasien, insbesondere in der Zeit zwischen der Mitte des 8. und dem späten 7. Jahrhundert v. Chr. berücksichtigt. Innerhalb dieses Zeitraums bildete Assyrien die bestimmende Macht im gesamten Raum zwischen Ägypten und dem Iranischen Hochland. Seine Politik steckte die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Kontakte der griechischen Welt mit Vorderasien damals abspielten.

Im ersten Kapitel "Art and 'Assyrianization' along the Imperial Frontiers" handelt Gunter den assyrischen Einfluss auf lokale Kunstproduktion inner- und außerhalb der eigenen Reichsgrenzen ab. Im zweiten Kapitel "Conceptual Geographies and Frameworks" beschäftigt sie sich mit Konzepten von Ost und West, Asien und Europa, innerhalb derer man die Begegnung der griechischen Welt mit dem Orient zu verstehen suchte, und mit älteren Versuchen, diese Konzepte aufzubrechen.

Von besonderem Interesse ist die im folgenden Kapitel "Defining and Interpreting Styles" aufgezeigte Problematik der wissenschaftlichen Lokalisierung vorderasiatischer Produktionszentren anhand des Stils. Die Termini "phönikisch", "syrisch", "assyrisch" etc. sind, so die Verfasserin, inadäquat. Überzeugend weist sie nach, dass die mit diesen Begriffen indirekt gegebene geographische Fixierung unter verschiedenen Aspekten irreführend sein kann. Die Komplexität der Stilfragen wird u.a. am Beispiel der großen Bronzekessel demonstriert, wie sie in griechischen Heiligtümern zahlreich gefunden wurden. Hier herrsche Ungewissheit, ob Attaschen und Protomen, die sie schmücken, aus dem Orient kamen und sekundär an den Kesseln montiert wurden oder ob die Ensembles insgesamt aus dem Osten importiert wurden. Leider werden hier die Bemühungen und Erfolge insbesondere deutscher Archäologen beim Versuch, der Beantwortung dieser Frage anhand von Stilanalysen näher zu kommen, unterschlagen. [2] Gleichwohl ist der Verfasserin grundsätzlich zuzustimmen, dass die bei Stilanalysen gewonnenen Klassifizierungen nicht "ethnically diagnostic" seien (91).

Dies wird besonders anschaulich bei den Elfenbeinen aus Nimrud und der mit ihnen verbundenen Zuweisungsproblematik. Dort gemachte Funde unbearbeiteten Elfenbeins werfen die Frage auf, ob auswärtige Spezialisten das Material vor Ort bearbeiten sollten und ob die fertigen Stücke wirklich aus den Regionen stammen, denen man sie ihrem Stil nach zuweisen würde.

Der hiermit angesprochene Aspekt der Bewegung von Materialien und Personen wird in den folgenden beiden Kapiteln, "Gifts, Exchange, and Acquistion" und "Imperial Ideologies and Modes of Appropriation", vertieft. Die eingangs vorgenommene Perspektivverschiebung auf Assyrien als politisches Zentrum ermöglicht, diese Vorgänge in ihrer Komplexität zu beschreiben. Gewinnorientierter Handel bildet im Bereich der Materialbewegungen nur ein Segment. Eine Vielzahl jener Bewegungen war anders motiviert. Zu nennen sind hier Diebstahl und Schmuggel, die Mitnahme von Beute sowie die Erhebung von Tributen und Steuern.

Weitere Anlässe für die Bewegung von Objekten waren Geschenke und die Akquisition innerhalb höfischer oder religiöser Netzwerke. In diesen Fällen spielten der künstlerische und der Materialwert fallweise nur eine untergeordnete Rolle; Gegenständen wuchs ihr Wert häufig durch die Stationen ihres "sozialen Lebens", etwa durch bedeutende Vorbesitzer oder die Anlässe der Übergabe, zu.

Als ebenso vielschichtig erweist sich die Bewegung von Personen. Sie konnte bedingt sein durch Kriegsgefangenschaft, Deportationen, Tributleistungen, Verpflichtung zur Heeresfolge, Flucht oder Arbeitsuche, durch die Anforderung von Spezialisten und anderes. Mit jeder Bewegung von Handwerkern wurden nun, so die Verfasserin mit Verweis auf St. Dalley, Monopole aufgebrochen und Techniken verbreitet. [3] Mit dieser Gegebenheit verbindet sich die komplexe Problematik der Unterscheidung von Originalen, Kopien und Adaptionen im archäologischen Material.

Die Verfasserin legt überzeugend dar, dass sich mit dem politischen Eingreifen der Assyrer die künstlerische Landschaft Vorderasiens vielfach dramatisch veränderte und dass den hieraus resultierenden Gegebenheiten Stilanalysen allein nicht gerecht werden. Die Griechen standen mit dieser komplexen Welt in Kontakt, und ihnen präsentierte sie sich keineswegs in der undifferenzierten Form, die das herkömmliche Verständnis des Begriffs "orientalisierend" speist. Ann Gunters Buch ist ein äußerst dichtes und anregendes Werk. Es bietet neue methodische Zugänge zum Verständnis, welche Motive das Interesse der Griechen beim Erwerb von Material und Objekten aus Vorderasien leiteten, und eröffnet neue Perspektiven. Zu diesen gehört vielleicht sogar die Möglichkeit, dass ein tieferes Wissen um die Natur jener Kulturkontakte Einblicke in den Wissenstransfer und die Unterschiede zwischen ursprünglicher Funktion und Bedeutung einerseits und griechischer Interpretation transferierter Objekte und Bildthemen andererseits eröffnet. [4]


Anmerkungen:

[1] Ein Bild der Vielfalt der Beziehungen der griechischen Welt mit Vorderasien zeichnet bereits E. van Dongen: Contacts between pre-classical Greece and the Near East in the context of cultural influences: An overview, in: R. Rollinger / A. Luther / J. Wiesehöfer (Hgg.): Getrennte Wege? Kommunikation, Raum und Wahrnehmung in der Alten Welt, Frankfurt/M. 2007, 13-49.

[2] Siehe besonders U. Jantzen: Griechische Greifenkessel, Berlin 1955; H.-V. Herrmann: Die Kessel der orientalisierenden Zeit - 1. Kesselattaschen und Reliefuntersätze, Berlin 1966; ders.: Die Kessel der orientalisierenden Zeit - 2. Kesselprotomen und Stabdreifüsse, Berlin 1979.

[3] St. Dalley: Neo-Assyrian Textual Evidence for Bronzeworking Centres, in: J. Curtis (ed.): Bronzeworking Centres of Western Asia c. 1000-539 B.C., London 1998, 105.

[4] Zur Bedeutung der Rezeptivität im Bereich antiker Kulturkontakte siehe Chr. Ulf: Rethinking Cultural Contacts, in: Ancient West and East 8 (2009), 81-132.

Rezension über:

Ann C. Gunter: Greek Art and the Orient, Cambridge: Cambridge University Press 2009, XIV + 257 S., ISBN 978-0-521-83257-1, GBP 50,00

Rezension von:
Bruno Jacobs
Universität Basel
Empfohlene Zitierweise:
Bruno Jacobs: Rezension von: Ann C. Gunter: Greek Art and the Orient, Cambridge: Cambridge University Press 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/09/17770.html


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