sehepunkte 10 (2010), Nr. 9

Mary Heimann: Czechoslovakia

Nationalgeschichten folgen häufig besonderen, Identität stiftenden Narrativen. Das zur Tschechoslowakei folgte lange Jahre etwa folgendem Muster: Die erste Tschechoslowakische Republik, der Staat der Zwischenkriegsjahre, war ein Hort von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in außenpolitisch schwierigen Zeiten. An ihr Ende kam sie durch das Münchener Abkommen 1938, als Folge der unerfüllbaren Forderungen der sudetendeutschen Minderheit, der aggressiven Außenpolitik des "Dritten Reiches" und des "Verrats" der westlichen Verbündeten durch die Appeasement-Politik. Der Verlust der deutschbesiedelten Grenzgebiete, so immer noch die gängige Erzählung, führte auf tschechischer Seite zur demütigenden Erfahrung des "Protektorates", auf slowakischer aber zur eigenen Staatlichkeit im engen Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Angesichts dieser Schwächung der demokratischen Kräfte konnte nach dem Krieg die KPČ in einem Putsch 1948 die Macht an sich reißen, doch im Prager Frühling 1968 sei der Freiheitswille wieder offenbar geworden und konnte sich 1989 durchsetzen, weil er nicht mehr von Panzern des Warschauer Paktes niedergewalzt wurde.

Das Narrativ, dem Mary Heimann folgt, ist dagegen ein ganz anderes. Hervorgetreten bisher nicht mit Arbeiten zur tschechoslowakischen Geschichte, sondern eher mit Studien zur Religionsgeschichte Englands, entwickelt sie eine Gegenerzählung, deren Versatzstücke sich in den letzten Jahren vor allem in der angloamerikanischen Geschichtsschreibung abzuzeichnen begannen. Sie hämmert ihrem Lesepublikum geradezu in den Kopf, dass Nationen Konstruktionen sind und dass damit die ältere Historiographie vor allem Propaganda anbiete, die im vorliegenden Fall einen weit verbreiteten "altmodischen, romantischen Nationalismus" (1) in Bezug auf die Tschechoslowakei stütze. Gleichwohl beginnt Heimann ihre Geschichte mit einem Rückgriff auf die mittelalterlichen Přemysliden und erzählt auch die unmittelbare Vorgeschichte des Staates in den Jahren des Ersten Weltkrieges weitgehend in konventioneller Manier, nämlich wie eine kleine Gruppe von Männern beherzt sich bietende Möglichkeiten ergriff, die 1918 zur Gründung der Tschechoslowakei führten. "Neu" ist daran nur der Raum, den sie Episoden über falsche Pässe und das Erlernen von Geheimdienstmethoden zugesteht.

Im Kapitel über die Erste Republik (1918-1938) tritt Heimann der Vorstellung entgegen, dieser Staat sei eine "Insel der Demokratie" gewesen: Die kurze demokratische Periode, wie gut sie auch immer im Vergleich zum deutschen Nationalsozialismus oder italienischen Faschismus ausgesehen habe, sei von Anfang an durch ernste Defizite charakterisiert gewesen (49). Beginn und Ende des Staates hätten unter dem Zeichen von Militärdiktaturen gestanden, die fünfzehn Jahre dazwischen seien geprägt gewesen durch "eine Anzahl hochgradig fragwürdiger Praktiken, die sicherstellten, dass die politische Kontrolle in Prag zentralisiert und die überwiegende Mehrheit der nichttschechischen Bevölkerung von der Macht ausgeschlossen blieb" (50). Bevor man noch Luft für den Zwischenruf findet, dass doch 1926/7 immerhin auch deutsche und slowakisch-autonomistische Parteien in die Regierungskoalition eintraten, formuliert die Verfasserin die bemerkenswerte These, dass die Tschechoslowakei gegen den erklärten Willen der nichttschechischen Mehrheit auf die spezifische Weise des Landes demokratisch geblieben sei und dies dank Prager Zentralismus und tschechischem Chauvinismus, die einer autoritären oder faschistischen Entwicklung im Wege gestanden hätten (ebd.).

Es sind Wertungen wie diese, die die Lektüre so befremdlich machen. Sie finden sich auch mit Blick auf die Kriegserfahrung von Tschechen und Slowaken: Zwar hätten sie unter "extrem unangenehmen autoritären Regimen" leben müssen, doch seien sie vom Bombenterror, wie er etwa Deutschland oder Großbritannien heimgesucht habe, verschont geblieben, gar nicht erst zu reden von dem "unaussprechlichen Horror", dem Polen und die Sowjetunion unterworfen gewesen seien (148). Mit Blick auf das deutsch-tschechische Verhältnis in den frühen Protektoratsjahren scheint Heimann ein Vergleich mit der späten Habsburgermonarchie nützlich; die Verfasserin meint, auf deutscher wie auf tschechischer Seite ganz ähnliche Praktiken der Nationalitätenpolitik mit wechelseitigen Boykottaktionen und manipuliertem statistischem Material zu erkennen (118). Dazu passen Ungenauigkeiten im Hinblick auf die Funktionen Heydrichs und das Eichmann-Referat als Abteilung des RSHA (134f.).

Als Grundlage der Darstellung dient Heimann ganz überwiegend die englischsprachige Historiographie. Tschechische oder slowakische Werke finden zumeist in Form von Nachschlagewerken Eingang, tschechischsprachige Einzelstudien beschränken sich weitgehend auf Fragen des Polizeiapparates. Besonders auffällig ist die Literaturauswahl mit Hinblick auf den Slowakischen Staat der Kriegsjahre: Hier dient der Verfasserin Jozefs Lettrichs "History of Modern Slovakia" von 1955 als tragendes Werk, ergänzend zieht sie Arbeiten von František Vnuk heran. Immerhin kann man mit Blick auf Vnuk in der Tat festhalten, dass dies keine Historiographie, sondern Propaganda ist.

Gemäß der selbst gestellten Aufgabe, tschechoslowakischen bzw. tschechischen oder slowakischen Nationalismus zu dekuvrieren, findet sie diesen auch in der Nachkriegsgeschichte: Nicht Russen oder die Sowjets, sondern tschechische und slowakische Kommunisten seien es gewesen, die das Land seit 1948 zunehmend in eine "stalinistische Hölle" verwandelt und sich freiwillig das sowjetische Beispiel zum Vorbild genommen hätten (178). Getreu dieser Lesart werden bei Heimann aus dem Reformkommunismus der 1960er Jahre "politische Machinationen", mit denen sich eine Gruppe von KSS- bzw. KSČ-Kadern gegen ihre Konkurrenten durchsetzen wollte. Anhang in der Bevölkerung habe vor allem dazu gedient, innerparteiliche Gegner mit dem Verweis auf die zahlreiche eigene Anhängerschaft zu diskreditieren. Dabei sei den Reformern die Quadratur des Kreises gelungen, gleichermaßen idealisierte tschechische und slowakische nationale Selbstbilder zu bedienen und die KP als an der Spitze der sozialistischen Gesellschaft stehend darzustellen (212).

Vieles von dem, was Mary Heimann anführt, ist nicht falsch - doch stoßen einem bei der Lektüre immer wieder befremdliche Interpretationen auf. Auch entsteht durch die nachdrückliche Betonung eines allgegenwärtigen Nationalismus ein verzerrtes Bild. Was man immerhin daraus lernen kann: "Nationalismus" allein liefert noch kein schlüssiges Narrativ. Dies zeigen auch die vielen moralisch aufgeladenen Wertungen, mit denen Ereignisse einer eher konventionellen politischen Geschichte "auf Linie" gebracht werden. Bedauerlich ist, dass, wo Nationalismus ubiquitär wird, seine spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Blick geraten. Mehr noch: Wie tschechoslowakisch die Gesellschaft der Tschechoslowakei eigentlich war, wie ihre inneren Kohäsionskräfte gegebenenfalls ausgesehen haben, welche politischen Leitbilder es jenseits des Nationalismus gegeben haben mag, oder ob die Geschichte der Tschechoslowakei nicht auch als Geschichte einer modernen Industrie- und Konsumgesellschaft zu schreiben wäre, die der Bevölkerung immerhin relativen Wohlstand gebracht hat - alles kein Thema. Eine solche Geschichte der Tschechoslowakei bleibt noch zu schreiben!

Rezension über:

Mary Heimann: Czechoslovakia. The State That Failed, New Haven / London: Yale University Press 2009, xxi + 406 S., ISBN 978-0-300-14147-4, GBP 25,00

Rezension von:
Tatjana Tönsmeyer
München / Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tatjana Tönsmeyer: Rezension von: Mary Heimann: Czechoslovakia. The State That Failed, New Haven / London: Yale University Press 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/09/16561.html


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