sehepunkte 10 (2010), Nr. 5

Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister

Sinn und Ziel dieses feinsinnig gezeichneten und zugleich kraftvoll argumentierenden Buchs erschließen sich dem Leser vollends erst auf den letzten Seiten. Ulrich Raulff geht es darum, Stefan Georges Bedeutung für die deutsche Kultur als "Geist des Aufstands" in den Jahrzehnten um 1900 und Georges Welt als "eine vergessene Zone der Intensität" verständlich zu machen. Dazu muss er die Mythenbildung der Epigonen nachvollziehen, um sie zum guten Schluss kritisch relativieren zu können. Da schildert er dann Gert Mattenklott, der in der Zeit der Studentenbewegung eines der bedeutendsten Bücher über Stefan George, über die schwingende Stimmung der jungen Generationen um die Jahrhundertwende und am Ende der 1960er Jahre geschrieben hatte - über "ewige Jugend und frühen Tod". Bei Mattenklott hat Raulff in Marburg studiert und die Wendung zu einer marxistisch inspirierten, ebenso kritischen wie empathischen Sicht auf George erfahren. Er verabscheut den "Monumentalismus der Epigonen" und den "gipsernen Kitsch der Frommen" (518), die die Erinnerung nach Georges Tod mythisch kultivierten. Im Mythos war das doppelte Tabu aufgehoben, das Georges Homosexualität und seine fehlende Eindeutigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus betraf. Raulff erzählt die verflochtene Geschichte des Nachlebens seit Georges Tod im Dezember 1933, die mit dem hundertsten Geburtstag 1968 einen doppelten Endpunkt findet.

In sieben Kapiteln geht es um den Zerfall des George-Kreises. Raulff, dieser ungemein gebildete Autor und skrupulöse Archivforscher, bietet einen Beitrag zur Kulturgeschichte Deutschlands von den 1920er bis zu den 1970er Jahren, an dem in Zukunft niemand vorbeigehen kann. Souverän in der Theoriereflexion, spielt er bisweilen ironisch mit Moden und Trends. So viele Bilder von George es gab, sagt er einleitend, so viele Weisen gab es auch, in seinem Geist zu handeln. "Da sprühen die Freudenfeuer der Antihermeneutik und der Postmoderne, Feyerabend für das geheime Deutschland." (20) Das "geheime Deutschland" war die Bezeichnung, die Stefan George und Karl Wolfskehl 1910 wählten, um ihren Kreis, den sie auch "staat" nannten, zu mythisieren. Künstlertum, Priesterherrschaft des schwulen Meisters und ein homoerotisches Ideal der Erziehung und Menschenbildung zur Abgrenzung von der profanen, spießigen Bürgerwelt ließen ein Selbstverständnis wachsen, dessen Elitarismus bis in die 1960er Jahre fortlebte. Dieser Elitarismus war ebenso arrogant wie intolerant, aber er festigte den "Kreis" und brachte jene Netzwerke hervor, deren Bedeutung für die deutsche Kultur des 20. Jahrhunderts bisher unterschätzt worden ist.

Eine sympathische Geschichte ist das nicht. Sie erzählt von Rivalitäten, Neid und Verirrungen, aber zusammengehalten wird sie von der alle verbindenden tiefen Fremdheit, ja bisweilen angstvollen Aversion gegen jede Art kreativer Individualität. Raulff beschreibt zunächst die aus dem Antiindividualismus hervorgehende Haltung zum Nationalsozialismus vor 1933, nicht allein bei George, sondern im George-Kreis insgesamt. Der jüdischen, eher weltoffenen, wenn auch gewiss nicht liberalen Gruppe standen die in Antihaltungen verkrallten Gegner westlich-aufgeklärter Rationalität gegenüber, die den Nationalsozialismus ungeachtet seiner plebejischen Erscheinung anzunehmen bereit waren. Die einen trieb es in die Emigration, die andern in den Widerstand, die Dritten passten sich an.

Im "Kreis ohne Meister" begegnen wir Ernst Kantorowicz, dem Biografen des Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen, der in die USA fliehen musste; ihm ist das schönste Porträt des Buchs gewidmet (313-346). Wir begegnen Claus von Stauffenberg, dem späteren Hitler-Attentäter, dem der George-Jünger Edgar Salin und seine Schülerin Marion Gräfin Dönhoff später zuschrieben, er habe im Angesicht seiner Mörder ausgerufen "Es lebe das geheime Deutschland", obwohl die Anwesenden gehört haben wollten: "Es lebe das geheiligte (oder heilige) Deutschland." Wir begegnen Robert Boehringer aus der Familie der Ingelheimer Pharmaproduzenten, der in der Schweiz Georges Erbe verwaltete. Das waren Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Eines aber verband sie: Die Anhänger Georges wussten, wogegen sie waren. "Verschworene gegen die moderne Welt. Sie waren gegen alles, was erkennbar in der Tradition der Aufklärung stand." (239) Das erlaubte denen, die in Deutschland geblieben waren oder nach 1945 zurückkehrten, in den 1950er Jahren, im teilweise noch antiwestlichen Zeitklima des raunenden Beschwörens besserer, vergangener Zeiten, den Faden noch für einige Zeit weiterzuspinnen.

Bis hierhin bewegen wir uns im engeren Rahmen von Georges Nachleben. Es ist Ausdruck der analytischen Stringenz, dass Raulff den "Geist des Aufstands" ernst nimmt und in seiner Hauptlinie weiterverfolgt. Sie wurde bezeichnet vom Willen der Adepten Georges zu einer besonderen Form der Bildung und Erziehung junger Menschen. Stefan George blieb auch noch in der Nachkriegszeit - das ist Raulffs These - der ungenannte Genius in den Debatten über Bildung und Bildungsreform. Die Personen, die jetzt ins Blickfeld kommen - Hellmut Becker, Carl Friedrich von Weizsäcker, Georg Picht - waren auch in den anderen Diskurs einbezogen, der neben Bildung und Erziehung die Handlung des George-Kreises bestimmte. Das war der "Schuld-Diskurs", und die eine Tatsache, dass Claus von Stauffenberg aus dem George-Kreis hervorgegangen war, wurde durch die andere Tatsache getrübt, dass Georgeaner in die Nürnberger Prozesse einbezogen waren. Ernst von Weizsäcker, der Vater von Carl Friedrich, dem Physiker und Philosophen, und von Richard, dem Juristen, Kirchen- und Parteipolitiker, wurde 1948 als Kriegsverbrecher verurteilt. Ankläger Robert Kempner war der Bruder von Walter Kempner, einem Zugehörigen zum "Kreis" vor 1933. In der Verteidigung saßen Richard von Weizsäcker und Hellmut Becker, der in Straßburg bis 1944 Assistent des nationalsozialistischen Carl Schmitt-Schülers Ernst Rudolf Huber, Vater des späteren EKD-Vorsitzenden Bischof Wolfgang Huber, gewesen war. Publizistische Unterstützung erhielten Becker und Weizsäcker von Marion Dönhoff, die den Angeklagten schlicht zum Widerständler uminterpretierte und mit Stauffenberg als Repräsentanten des "Adels-Widerstands" zeichnete. Das Netzwerk, das hier entstand, rückgebunden an den George-Kreis, entfaltete in der Bundesrepublik großen Einfluss.

Becker, eng befreundet mit Georg Picht, zuerst Leiter eines Landschulheims, dann Direktor der Forschungsstelle des Evangelischen Studienwerks, wurde zum Kommunikator des Bildungs- und Erziehungsgedankens, wie er in der Jugendbewegung, der Lebensreform- und Landschulbewegung und eben auch im George-Kreis verankert gewesen war. Als C.F. von Weizsäcker seinem Freund Hellmut Becker ein eigenes Max-Planck-Institut für Bildungsforschung verschaffte und Georg Picht seine "Bildungskatastrophe" veröffentlicht hatte, war 1963/64 der Weg für die dann so genannte Reformpädagogik geebnet. Raulffs faszinierende Analyse erklärt nüchtern und präzise den kulturell bedeutsamen Zusammenhang von Reformpädagogik und jenem Erziehungsideal, welches Menschenbildung und die Heranführung des Kindes an das Große, Erhabene in einem umfassenden Sinn als erotisches Phänomen begreifen will.

Rezension über:

Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München: C.H.Beck 2009, 544 S., ISBN 978-3-406-59225-6, EUR 29,90

Rezension von:
Anselm Doering-Manteuffel
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Anselm Doering-Manteuffel: Rezension von: Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/05/16292.html


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