sehepunkte 10 (2010), Nr. 4

Ulrike Hohensee / Mathias Lawo / Michael Lindner u.a. (Hgg.): Die Goldene Bulle

Wuchtig gefüllt mit zwei jeweils rund 600 Seiten umfassenden Bänden ist der Schuber, den es hier anzuzeigen gilt. Er geht zurück auf eine internationale Tagung über die Goldene Bulle von 1356, die im Herbst 2006 von der Arbeitsstelle der MGH an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgerichtet wurde. Anlass war gleich ein doppelter, zum einen die 650. Jährung der Proklamation der Goldenen Bulle, zum anderen der Abschluss der Reihe "Constitutiones et acta publica imperatorum et regum" der Leges-Abteilung der MGH. Neben einer Einleitung der Herausgeber, einigen Schlussbemerkungen Johannes Helmraths und einem ausführlichen, überaus hilfreichen Register umfasst das Sammelwerk insgesamt 34 Beiträge, von denen 24 auf Tagungsreferaten beruhen, 10 weitere wurden zusätzlich aufgenommen. In einem sachlich wie geographisch breit entfaltetem Fächer beleuchten die Beiträge Entstehung, Inhalt, Kontext und Rezeption der viel diskutierten Goldenen Bulle.

In vier ungleich umfangreiche Teile sind die Beiträge gegliedert. Der erste Abschnitt ist mit "Kaiser und Reich im 14. Jahrhundert" überschrieben. Ein so komplexes Werk wie die Goldene Bulle entstand nicht voraussetzungslos, und so beschäftigen sich unter dieser Überschrift folgerichtig einige Beiträge mit Einflüssen und Voraussetzungen. Aus unterschiedlichen Perspektiven wenden sich Jean-Marie Moeglin und Michael Menzel Ludwig dem Bayern als Vorgänger Karls IV. zu. Moeglin sucht anhand historiographischer Zeugnisse nach dem politischen "Erbe" Ludwigs und konstatiert, dass es vor allem seine gesetzgeberischen Leistungen sind, die hier in Anschlag zu bringen seien, eine Gesetzgebung, die durchaus den Weg zur Goldenen Bulle bereitete, jedoch durch die Konflikte mit dem Papsttum überdeckt und daher insgesamt wenig rezipiert worden sei. Menzel zeigt sodann deutlicher, dass Karl IV. wider Erwarten Konzepte seines verhassten Vorgängers adaptierte, dies jedoch verdeckt, so dass dem Autor der modische Begriff einer "feindlichen Übernahme" zur bildlichen Fassung dieser speziellen Traditionsbildung angemessen scheint. Eine andere Einflussgröße behandelt Dietmar Willoweit, der die Goldene Bulle in den zeitlich umfassenderen Prozess der Rezeption des römischen Rechtes im spätmittelalterlichen Reich einordnet und hier die These vorbringt, dass aus dem römischen Recht vor allem jenes aufgegriffen worden sei, was bereits eine gewisse Nähe zu bestehendem Rechtsdenken und geübter Rechtspraxis aufwies. Andere Beiträge dieses Abschnittes bemühen sich stärker um eine Gesamtdeutung oder Charakterisierung der Goldenen Bulle und fügen sich damit in eine lange Kette von älteren Diskussionsbeiträgen: So sieht Paul-Joachim Heinig das Dokument weder in erster Linie als ein Zeugnis der Formierung des Kurfürstenkollegiums noch als Produkt kaiserlicher Schöpfungskraft, sondern empfiehlt ein plurales Verständnismodell, nach dem in einer besonderen Konstellation tagespolitischer Problemlagen aller Beteiligter diese aufeinander angewiesen waren und so die Goldene Bulle als komplexen Kompromiss formten. Hingegen begreift Michael Lindner die Goldene Bulle eher als Souveränitätserklärung des Kaisers (113), insbesondere gegen päpstliche Ansprüche, auch hebt er insbesondere die Zurücksetzung der ostdeutschen Kurfürsten hervor. An die Frage nach den konzeptionellen Einflüssen knüpft er insofern an, als dass er Bezüge zu namhaften Herrschaftstheoretikern der Zeit aufzeigt. Mit Heinig ist er sich jedoch darin einig, dass die Goldene Bulle stark vom tagespolitischen Geschehen und von aktuellen Interessen abhängig war; ihre langfristige, Struktur prägende Bedeutung habe sie erst im Laufe der Zeit erlangt. Einen Prozess der Veränderung sieht Claudia Garnier auch auf dem Feld der Repräsentations- und Rezeptionsgeschichte: Erst ab 1400 habe eine verstärkt textorientierte Rezeption eingesetzt, zuvor seien aber Inhalte und Ordnungsvorstellungen der Goldenen Bulle nicht unbeachtet geblieben, sondern vor allem symbolisch kommuniziert worden. Auf Karls IV. Herrschaftsauffassung geht Eva Schlotheuber ein. Für sie war dieser Herrscher - weil arm an ritterlichen Talenten - vor allem an einer Selbstdarstellung interessiert, die ihn als weisen Richter, gelehrten Gesetzgeber und obersten Friedenswahrer präsentierte, so dass sich die Goldene Bulle als Ausdruck dieses Bestrebens lesen lässt.

Damit ist bereits die Brücke zum folgenden Abschnitt geschlagen, der sich der "Inszenierung und Repräsentation" zuwendet. Bernd Schneidmüller betrachtet die Spiegelung von Rangzuweisungen und Ordnungsvorstellungen im "Sitzen", "Gehen" sowie ritualisierter Interaktion zwischen Kurfürsten und König im Reich und stellt Vergleiche zu England und Frankreich an. Sodann schreiten weitere Beiträge schon fast systematisch das Repertoire herrschaftlicher Repräsentation ab: Jiří Fajt wendet sich der Hofkunst unter Karl IV. zu und betont dessen Eigenständigkeit und Einfluss auf die Ausbildung des "Schönen Stils". Im Herrscher vergleichendem Zugriff untersucht Robert Suckale die politische Ikonographie des 14. Jahrhunderts. Richard Němec deutet die Ausgestaltung der Burg Lauf bei Nürnberg als Metapher sowohl einer sich formierenden Landesidentität wie auch des Kaisers selbst. In einem zeitlich weit gespannten Bogen beschäftigt sich Olaf B. Rader mit der Prager Grablege Karls IV. Er streicht dabei heraus, dass dieser Herrscher sich im Veitsdom in erster Linie an böhmische Rezipienten wandte und ganz auf die Autorität und Legitimität seiner böhmischen Königswürde abzielte. Wolfgang Schmid betrachtet die Reliquienpolitik Karls IV. und scheidet zwischen einer "Privatfrömmigkeit", die eher auf dem Karlstein konzentriert worden sei, während Prag primär der Ort einer "Staatsfrömmigkeit" gewesen sei. Die Münzprägungen nimmt Torsten Fried in den Blick. Er unterstreicht nicht nur deren hohen Wert für die Herrscherrepräsentation Karls IV., sondern zeigt auch, dass die Kurfürsten ihre besondere Rolle für das Reich erstaunlich lange nicht numismatisch hervorhoben. Der literarischen Herrscherrepräsentation geht Martin Schubert nach und klopft dabei sowohl die lateinische wie auch die volkssprachliche Überlieferung ab. Er entdeckt dabei einen "festen Satz von Argumenten" (516), die von einer systematischen Herrscherrepräsentation über Sprach- und Rezipientenkreise hinweg zeugen. Mathias Lawo beschließt diesen Abschnitt mit einer Analyse der Urkundensprache. Er gelangt zu dem Schluss, dass insbesondere in der Konsolidierungsphase königlicher Herrschaft Latein als formalistischere, Distanz schaffende Urkundensprache vorherrschte, während sich in späteren Herrschaftsphasen deutsche Urkunden mehrten. Dass die Herausgeber der Beschäftigung mit der Repräsentation und Inszenierung von Herrschaft breiten Raum gewähren, ist angesichts der aktuellen Tendenzen der Mediävistik durchaus angemessen und naheliegend. Jedoch entfernen sich einige Texte dieses Abschnittes, wie z.B. jener Martin Kintzingers über das Treffen Kaiser Karls IV. mit König Karl V. von Frankreich, recht weit von der Goldenen Bulle als eigentlichem Generalthema, was der Kohärenz des Sammelwerkes nicht immer zuträglich ist.

Im dritten Abschnitt setzt sich dies fort. Hier wenden sich insgesamt 12 Beiträge dem Themenfeld "Das Reich und seine Nachbarn" zu, wobei der Norden Europas jedoch ausgeblendet bleibt. Zum Einstieg skizziert Werner Maleczek das Bild des Reiches im Ausland, sein Material schöpft er aus Zeugnissen west- und südeuropäischer Diplomatie, der Historiographie, aus Reisebeschreibungen und Traktaten politischer Theorie. Es zeigt sich eine Wahrnehmung des Reiches, die stark von Klischees, Stereotypen und einem recht oberflächlichen Interesse bestimmt wurde. Mehrere Beiträge dieses Abschnittes widmen sich eher allgemeinen Aspekten der europäischen Politik Karls IV., wobei die Beziehungen dieses Herrschers zu Italien einen Schwerpunkt bilden. Einen Überblick über Studien und Editionen der italienischen Forschung zum Themenfeld gewährt Antonella Ghignoli. Die Darstellung der Beziehungen Karls IV. zu Italien in der Schedelschen Weltchronik kontrastiert Marie-Luise Favreau-Lilie mit der komplexeren diplomatischen Realität des 14. Jahrhunderts. Speziell dem Verhältnis Karls IV. zu Venedig wendet sich Uwe Ludwig zu, der mit diesem Text einen detailreichen Abschnitt seiner im Druck befindlichen Habilitationsschrift vorab zur Kenntnis gibt und im Anhang neun Quellentexte zur Thematik ediert. Dass Karl IV. sich als ebenso überlegt wie flexibel bei der Rekrutierung seines diplomatischen Personals zeigte, lässt der Beitrag von Flaminia Pichiorri erkennen, der das in den Beziehungen zu den italienischen Kommunen, den Signorien und der päpstlichen Kurie eingesetzte Personal untersucht und durch den die kaiserliche Kanzlei uns fortan sozial schärfer konturiert vor Augen steht. Weitere Beiträge richten ihr Interesse auf die politischen Beziehungen Karls IV. zu anderen europäischen Regionen. So analysiert Ulrike Hohensee auf der Basis urkundlicher Überlieferung die geschickte Heiratspolitik Karls IV. mit Ungarn und Polen. Lenka Bobková betrachtet die Gesetzgebungen Karls IV. in Böhmen. Danach zeuge die Goldene Bulle von eben jenem Bemühen um rechtliche Herrschaftskonsolidierung auf Reichsebene, die auch mit anderen Regelwerken in Hinblick auf die Sicherung der böhmischen Machtbasis zu beobachten sei. Dass Metz 1356 als Austragungsort eines wichtigen Hoftages zwar geographisch am Rande des Reiches lag, doch aus politischen, wirtschaftlichen und kulturell-repräsentativen Überlegungen für Karl IV. aber durchaus von zentraler Funktion war, legen Michel Margue und Michel Pauly anschaulich dar. Stefan Weiß skizziert knapp die Beziehungen Karls IV. zu Frankreich und zum Papsttum. Er gelangt zu dem Schluss, dass die Verhandlungen um die Goldene Bulle durchaus im Geiste guter Beziehungen zu diesen beiden Machtpolen geführt wurden. Die übrigen Beiträge des dritten Abschnittes geben stärker komparatistischen Ansätzen Raum. So akzentuiert Sławomir Gawlas - entgegen weit verbreiteter Darstellungen - die wahlmonarchischen Elemente gegenüber den erbmonarchischen in der mittelalterlichen Geschichte Polens und eröffnet damit interessante Vergleichsperspektiven zur Goldenen Bulle, denen nachzugehen er dann jedoch anderen überlässt. Franz Tinnefeld vergleicht die fast zeitgleich lebenden Herrscher Karl IV. und Johannes V. miteinander und bezieht somit Byzanz in das Spektrum der Beiträge ein. In einem etwas hastig anmutenden Durchmarsch durch die mittelalterliche Verfassungsgeschichte ordnet Michael Borgolte die Goldene Bulle in den Kontext europäischer Fundamentalgesetzgebung ein. Zwar Markstein hinsichtlich der Fortentwicklung der ständischen Verfassung, doch eher retardierendes Moment in Hinblick auf die Ausbildung partizipatorischer Strukturen sei dieses Gesetzeswerk gewesen.

Auf "Rezeption und Wirkung" der Goldenen Bulle ist der vierte, nur von vier Aufsätzen gebildete Abschnitt gerichtet. Mit Marie-Luise Heckmanns Beitrag über die Verbreitungsgeschichte der Goldenen Bulle bis zum Anbruch der Frühen Neuzeit enthält er jedoch ein Kernstück des gesamten Sammelwerkes. Die Autorin bietet dabei nicht nur eine hilfreiche Typologie der Verbreitungsformen, eine mit anschaulichen Karten angereicherte Übersicht über die Verbreitungsgeographie und die Phasen vorherrschender Rezeption und Deutung, sondern darüber hinaus auf über 60 Seiten auch ein künftig unverzichtbares Inventar der Abschriftenüberlieferung der Goldenen Bulle. Etwas umständlich untersucht Eberhard Holtz sodann Wirkung und Bedeutung der Goldenen Bulle in der Regierungszeit Friedrichs III. Er kann zeigen, dass dieses Regelwerk in der politischen Praxis von Kaiser und Kurfürsten stets präsent war, jedoch durchaus pragmatisch ausgelegt wurde. Ausblicke in die Rezeptionsgeschichte der Goldenen Bulle in der Frühen Neuzeit gewähren schließlich Arno Buschmann, der ihre Diskussion in der Reichspublizistik behandelt, und Michael Niedermeier, der Goethes Wahrnehmung des Gesetzestextes umreißt.

Die Herausgeber haben mit den beiden hier vorgestellten Bänden den bereits vorliegenden Grundlagenwerken zur Goldenen Bulle und zur Reichsgeschichte des 14. Jahrhunderts zweifellos eine wichtige, ansprechend farbig bebilderte und offenkundig sorgfältig redigierte Ergänzung an die Seite gestellt. Als Leser des komplexen Werkes würde man sich zuweilen allerdings eine unmittelbarere Rückbindung der Ausführungen einiger Autoren an das Titel gebende Gesetzeswerk und insgesamt eine größere Kohärenz der Beiträge wünschen, ein Manko, das leider auch die knappe Einleitung und die Schlussbemerkungen nicht wirklich aufheben können. Eine Stärke liegt hingegen in der Weitung unseres Blickes auf die Goldene Bulle: So umfassend und fast schon systematisch wurden der kulturell-politische Kontext und die Wahrnehmung der Goldenen Bulle wohl noch nicht ausgeleuchtet. Darüber hinaus überführen die beiden Bände mit ihrer konsequent europäischen Ausrichtung, ihren komparatistischen Ansätzen und ihren kulturhistorischen Betrachtungsweisen die Goldene Bulle in aktuelle Fragehorizonte der Mediävistik. Eine Domäne der reichs- und verfassungsgeschichtlichen Forschung wird dieses wichtige Dokument länger wohl kaum mehr sein. Mit den mehrfach anzutreffenden Quellenabdrucken und Verzeichnissen bieten die Bücher überdies grundlegendes Material von anhaltender Nützlichkeit für die Forschung, das man in Tagungsbänden nicht unbedingt erwartet hätte.

Rezension über:

Ulrike Hohensee / Mathias Lawo / Michael Lindner u.a. (Hgg.): Die Goldene Bulle. Politik - Wahrnehmung - Rezeption (= Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen; Sonderband 12), Berlin: Akademie Verlag 2009, 2 Bde., 1249 S., ISBN 978-3-05-004292-3, EUR 99,80

Rezension von:
Matthias Meinhardt
Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Meinhardt: Rezension von: Ulrike Hohensee / Mathias Lawo / Michael Lindner u.a. (Hgg.): Die Goldene Bulle. Politik - Wahrnehmung - Rezeption, Berlin: Akademie Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/04/15600.html


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