sehepunkte 9 (2009), Nr. 12

Márta Font: Im Spannungsfeld der christlichen Großmächte

Wer genügend Geduld und Langmut aufbringt, um dieses leider schlecht übersetzte, jedenfalls unlektorierte Buch passagenweise wieder und wieder zu lesen, um ihm den in seinem Original gegebenen Sinn zu entnehmen, wird am Ende mit interessanten, wichtigen Einblicken in die frühmittelalterliche Geschichte einer europäischen Großregion belohnt, die in der deutschen Mediävistik zwar ein zunehmend größeres Interesse, in der konkreten Forschungspraxis aber noch immer zu wenig Beachtung findet. Es genügt ein rascher Blick in die neueren europageschichtlichen Synthesen, um zu erkennen, dass der Anspruch, europäische Geschichte vergleichend und möglichst 'transnational' zu analysieren und zu erzählen, im Hinblick auf die östliche Hälfte des europäischen Kontinents noch kaum wirklich eingelöst wird. Das ist nicht verwunderlich, wenn selbst in der Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte, die sich theoretisch seit jeher einem länderübergreifenden Zugang verpflichtet fühlt, vergleichende Studien aus der Feder eines Einzelnen, in denen mehr als ein osteuropäisches Land in den Blick genommen und versucht wird, für größere regionale Zusammenhänge strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, nach wie vor eher die Ausnahme darstellen. [1] Das gilt in noch höherem Maße für die mediävistische Forschung in Ostmittel- bzw. Osteuropa selbst. Hier ist die Fixierung auf die eigene Nationalgeschichte noch immer weit ausgeprägter und hartnäckiger als in der westlichen Forschung. [2] Vor diesem Hintergrund muss es geradezu als mutig, jedenfalls als besonders verdienstvoll erscheinen, wenn Márta Font in der vorliegenden, bereits 2001 abgeschlossenen, 2003 als akademische Dissertation verteidigten und 2005 im ungarischen Original erschienenen Studie den Versuch unternimmt, die frühmittelalterlichen Herrschaftsbildungen des östlichen Europa einer systematisch-vergleichenden Analyse zu unterziehen.

Tatsächlich steht die Pécser Mediävistin mit ihrem Anliegen, in eine solche Analyse insbesondere auch die Kiever Rus' stärker miteinzubeziehen, ja sie als einen integralen Bestandteil des abendländischen Europa zu betrachten, in der ost(mittel)europäischen Mediävistik ziemlich allein da. Ihr Bemühen, diese wichtige und weiterführende Blickerweiterung mit dem Wort "Zwischen-Europa" auch begrifflich auf den Punkt zu bringen, muss allerdings als etwas unglücklich angesehen werden. Der im Kontext der Weimarer antislawischen Revisionspolitik nach 1918 geprägte Begriff ist im Deutschen politisch viel zu belastet, um als mediävistische heuristische Kategorie funktionieren zu können; er ergibt aber auch als wörtliche Bezeichnung des Untersuchungsraums wenig Sinn. Auch wenn Font diesen als eine Großregion definiert, die sich zwischen den seinerzeitigen "Großmächten" Byzanz und dem Deutschen Reich erstreckte, oder in diesem Kontext vom "Vorfeld der Großmächte" spricht, weckt ihre Terminologie Assoziationen, die für das 10. bis 12. Jahrhundert eher etwas schief anmuten. Die Autorin will damit zum Ausdruck bringen, dass Europa einschließlich seiner östlichen, weit in die Tiefe der osteuropäischen Wälder und Steppen und ans Schwarze Meer reichenden Hälfte bis zum Ende des 12., Beginn des 13. Jahrhunderts als christianitas eine Einheit gebildet hat. Damit scheint sie die in der deutschen Ostmitteleuropaforschung vielfach vertretene Vorstellung [3], dass schon für die Zeit des frühen und hohen Mittelalters von einer Differenzierung dieser östlichen Hälfte in eine spezifische, durch eigene Strukturmerkmale gekennzeichnete Geschichtsregion "Ostmitteleuropa" und ein weiteres, eigentliches Osteuropa ausgegangen werden könne, nicht zu teilen.

Um ihre Eingangsthese von der Einheit "Zwischeneuropas" im 10. bis 12. Jahrhundert zu substantiieren, untersucht die Autorin drei zentrale Lebensbereiche der früh- und hochmittelalterlichen Herrschaftsbildungen der Árpaden, Přemysliden, Piasten und Rjurikiden: "Die Bekehrung zum Christentum und die Anfänge der Kirchenorganisation" (Kap. II), "Die Organisation der weltlichen Herrschaft" (Kap. III) und schließlich "Wirtschaft und Gesellschaft" (Kap. IV). Diesem Hauptteil ihrer Arbeit stellt sie eine sehr knappe, recht allgemein gehaltene Übersicht über den Forschungstand, über die von ihr angewandten Methoden und ihre Begrifflichkeit voran (neben dem schon angesprochenen Terminus "Zwischen-Europa" wird hier die Frage der Verwendbarkeit des Begriffs "Staat" erörtert). Es folgt ein deskriptiv-auflistender Überblick über die verfügbaren Schriftquellen (Kap. I), der zwischen "erzählenden Quellen" (Historiographie, Hagiographie, philosophische Literatur), Gesetzestexten (von denen nur für Ungarn und die Rus' schriftliche Überlieferungen vorliegen), Urkunden sowie "Informationen der Umgebung" unterscheidet. Letzteres meint - ein Beispiel für die oft miss- oder unverständlichen Übersetzungen - Schriftquellen, die außerhalb des Untersuchungsraums entstanden sind.

In den drei Hauptkapiteln bietet die Autorin viele nützliche (in übersichtlich systematisierenden Tabellen und Grafiken sowie in einem instruktiven Kartenanhang zusätzlich gut veranschaulichte) Einzelinformationen und umfangreiches Vergleichsmaterial, das sowohl den Prozess der Missionierung und Christianisierung als auch die Errichtung, Organisation und Funktionsweise der vier dynastischen Herrschaften, ihre demographischen und wirtschaftlichen Grundlagen sowie das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten erhellen. Dabei werden vornehmlich Ergebnisse der ungarischen und slawischsprachigen Sekundärliteratur vermittelt - wenn auch nicht immer auf dem allerneuesten Stand der Forschung (z.B. wenn im Gegensatz zu jüngsten - vor allem archäologisch fundierten - Einsichten dem Weiterwirken älterer Stammesstrukturen nach wie vor größere Bedeutung beigemessen wird). Diese Zusammenstellung des Materials ist zweifellos überaus hilfreich, bietet auch durchaus gute Ansätze einer komparatistischen Einordnung. Leider lässt die Autorin zugleich aber auch Vieles zu undifferenziert nebeneinander stehen, fallen manche ihrer Erörterungen zu oberflächlich und/oder infolge der schlechten Übersetzung zu diffus aus, um ein wirklich klares Bild entstehen zu lassen. Hinzu kommen Redundanzen und Widersprüchlichkeiten (von kleineren Ungenauigkeiten z.B. 95, 98, 102, 108, 145, 156, 174 einmal abgesehen), die den Leser am Ende insbesondere im Hinblick auf die Eingangsthese von der Einheit "Zwischen-Europas" im 10. bis 12. Jahrhundert eher etwas verwirrt darüber zurücklassen, ob dieselbe nun lediglich im 10. Jahrhundert bestanden hat (vgl. allgemein 20; oder mit Bezug auf bereits für das 11. Jahrhundert konstatierte Unterschiede in der Kirchenorganisation 140) oder die Abgrenzung zwischen Ostmittel- und Osteuropa doch erst an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert eingetreten ist (10, 292). Die Verwirrung darüber wird durch die diesbezügliche resümierende Schlussformulierung der Autorin nicht geringer: "Alles in allem kann man feststellen, dass dieser Teil Europas ("Zwischeneuropa", E.M.) im 10. und 12. Jahrhundert nur in geographischem Sinne als eine Region betrachtet werden kann, bzw. insofern, dass er in dem 'Keil' zwischen den beiden christlichen Großmächten lag. Ein gemeinsamer Zug der einzelnen Zentren war, dass sich die Wege der christlichen Mission hier kreuzten, oder besser berührten sich fast. Später wurden im Westen die byzantinischen Einwirkungen zurückgedrängt, bzw. die Beziehung zu den Zentren, die das Latein als liturgische Sprache benutzten, veränderte sich im östlichen Teil. Unseres Erachtens trat dies an der Grenze unserer Epoche, um das Ende des 12. Jahrhunderts ein. Damals 'trennte sich' Zwischen-Europa von Ostmittel- bzw. Osteuropa. Und in den drei Zentren von Ostmittel-Europa (Ungarn, Böhmen, Polen, E.M.) begannen, vom 13. Jahrhundert an, eher die Ähnlichkeiten zu dominieren" (292).

Da mitunter auch Verwirrung zu weiterem Nachdenken anregt, mag man solchen - es sei noch einmal betont: in hohem Maße wohl auch auf die schwache Übersetzung zurückzuführenden - Unschlüssigkeiten auch einen positiven Aspekt abgewinnen. In jedem Fall verdient dieser ambitionierte, ebenso schwierige wie notwendige Versuch eines transnationalen Vergleichs der frühen ost(mittel)europäischen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen großen Respekt und die Geduld des interessierten Lesers.


Anmerkungen:

[1] Vgl. jüngst Christian Lübke: Das östliche Europa, Berlin 2004. (Die Deutschen und das europäische Mittelalter).

[2] Vgl. jüngst Henryk Samsonowicz: Historia Europy Środkowo-Wschodniej do początku XIV wieku, in: Jerzy Kłoczowski (Hg.): Historia Europy Środkowo-Wschodniej. Tom 1, Lublin: Instytut Europy Środkowo-Wschodniej 2000, 21-109; Henryk Samsonowicz: Das lange 10. Jahrhundert. Über die Entstehung Europas, aus dem Polnischen übersetzt von Kornelia Hubrich-Mühle, Osnabrück 2009.

[3] Vgl. Christian Lübke: Die Prägung im Mittelalter. Frühe ostmitteleuropäische Gemeinsamkeiten, in: Comparativ 8 (1998), 14-24; Christian Lübke: Mitteleuropa, Ostmitteleuropa, östliches Europa. Wahrnehmung und Strukturen im frühen und hohen Mittelalter, in: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=173 (8.10.2009).

Rezension über:

Márta Font: Im Spannungsfeld der christlichen Großmächte. Mittel- und Osteuropa im 10.-12. Jahrhundert. Aus dem Ungarischen von Tibor Schäfer, Herne: Schäfer Verlag 2008, 371 S., ISBN 978-3-933337-47-4, EUR 59,50

Rezension von:
Eduard Mühle
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Empfohlene Zitierweise:
Eduard Mühle: Rezension von: Márta Font: Im Spannungsfeld der christlichen Großmächte. Mittel- und Osteuropa im 10.-12. Jahrhundert. Aus dem Ungarischen von Tibor Schäfer, Herne: Schäfer Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/12/15978.html


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