Rezension über:

Michael Riekenberg: Kleine Geschichte Argentiniens (= Beck'sche Reihe; 1898), München: C.H.Beck 2009, 206 S., 2 Karten, ISBN 978-3-406-58516-6, EUR 12,95
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Rezension von:
Marcus Klein
Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Klein: Rezension von: Michael Riekenberg: Kleine Geschichte Argentiniens, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/12/15450.html


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Michael Riekenberg: Kleine Geschichte Argentiniens

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Die Geschichte eines Landes auf nur knapp 200 Seiten darzustellen, ist sicherlich eine große Herausforderung für jeden Autor. Wie klein auch immer die gewählte Schriftgröße ist und wie eng bedruckt folglich die Seiten sind, die Grenzen sind eng gesteckt und die Wörter- oder Zeichenzahl damit beschränkt. Selbst wenn es sich, wie der Titel im Falle von Michael Riekenbergs Arbeit über Argentinien unmissverständlich deutlich macht, vom Anspruch her auch nur um eine kleine Geschichte handeln soll, sind die Anforderungen immer noch enorm, müssen doch gut fünf Jahrhunderte abgedeckt werden. Hinzu kommt, dass Riekenberg nicht bloß eine politische Geschichte des südamerikanischen Landes im engeren Sinne vorlegt, was zweifelsohne bereits schwierig genug gewesen wäre angesichts des zu berücksichtigenden Zeitraums; vielmehr, so verlautet es der Verlagstext auf der Rückseite des Einbandes, "bietet dieses Buch" nichts weniger als "eine Geschichte Argentiniens".

Allen Beteuerungen und Ankündigungen hinsichtlich des umfassenden Charakters zum Trotz liegt der Schwerpunkt der Arbeit, die auf einer ursprünglich an der Universität Leipzig gehaltenen "Vorlesung über die Geschichte des La-Plata-Raums" (193) basiert, auf der Zeit nach der Unabhängigkeit des heute als Argentinien bezeichneten Gebietes von Spanien 1810. Nach weniger als einem Viertel des Buches, auf Seite 42, ist Riekenberg (und mit ihm der Leser) bereits "Am Vorabend der Unabhängigkeitsbewegung" angelangt; und nur drei Seiten später wird die "'Mairevolution von 1810'", die "sich in der Folgezeit in der offiziösen Geschichtsschreibung des Landes zum Gründungsmythos der argentinischen Nation entwickeln" (45-46) sollte, selbst dargestellt. Die 260 Jahre von der ersten Kolonisation 1516 bis zur Schaffung des Vizekönigreichs La Plata 1776 werden auf 15 Seiten abgehandelt, dem knapp ein Vierteljahrhundert bestehenden Vizekönigreich etwa ebenso viele Seiten zugestanden. Dem restlichen 19. Jahrhundert ist rund ein Viertel überlassen, während das 20. Jahrhundert gut die Hälfte des Opus einnimmt.

An Entwicklungen im La-Plata-Raum der Kolonialzeit Interessierte werden diesen Fokus wohl bedauern, und sie werden ihn vielleicht sogar als unzureichend und als der Bedeutung der Zeit nicht entsprechend kritisieren. Enttäuschen könnte Riekenberg auch jene Leser, die - immer unter Berücksichtigung der Kürze des Buches - tatsächlich eine umfassende, wenn auch kleine Geschichte Argentiniens erwarteten. Kulturelle und soziale Aspekte werden jedoch sehr stiefmütterlich behandelt. Neben kurzen Ausführungen über die erschreckenden hygienischen Zustände in der Metropole Buenos Aires um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (112-116) finden sich unter anderem noch Passagen über den Tango (126-127) oder das argentinische Kulturleben, speziell in der Hauptstadt in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts (127-129). Wirtschaftlichen Fragen wird etwas mehr und vor allem durchgehend Aufmerksamkeit geschenkt, selbst wenn immer noch nicht von einer systematischen Beschäftigung mit diesem Aspekt gesprochen werden kann. Die Kleine Geschichte Argentiniens ist im Wesentlichen eine kleine politische Geschichte des Landes.

Die einzelnen Kapitel über diese politische Geschichte sind für das 19. Jahrhundert detailliert und auch durchaus interessant geschrieben sowie überzeugend strukturiert. Zu Recht betont Riekenberg speziell die Auseinandersetzungen zwischen den Provinzen im Landesinneren und Buenos Aires als Faktor der Entwicklungen nach 1810. Die vielgestaltigen und durchaus blutigen Konfrontationen als auch der mit ihnen einhergehende ideologische Wettstreit waren prägend für die Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit. Mit ihnen gingen Fragen der Konsolidierung staatlicher Macht auf allen gesellschaftlichen Ebenen einher. Bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dauerte dieser Prozess der nationalen Einigung. In diesen Abschnitten zeigt sich deutlich die Vertrautheit Riekenbergs mit der Literatur und dem Thema, hat er doch bereits Mitte der 1990er Jahre unter anderem eine Monografie über den sozialen Wandel und das Geschichtsbewusstsein am Río de la Plata zwischen 1810 und 1916 vorgelegt.

Seine Ausführungen zum 20. Jahrhundert sind weit kritischer zu betrachten. Hier gilt es kleinere, aber immer wieder auch größere und gravierendere Einwände vorzubringen. Beispielsweise kann man fragen, inwieweit die Zeit zwischen 1930 und 1955 tatsächlich die Bezeichnung "Die Ära des Populismus" (133-160) verdient. Zu bedenken ist, dass Riekenberg hier konservative, zwischen 1930 und 1943 herrschende und auf die Demobilisierung und Unterdrückung breiter Bevölkerungsschichten abzielende Regierungen und die ersten beiden Präsidentschaften von Juan Domingo Perón (1946-1955), der die kontrollierte Einbindung und Mobilisierung von marginalisierten Schichten erreichte und berechtigterweise als klassisches Beispiel für einen ausgesprochen erfolgreichen lateinamerikanischen Populisten gilt, zusammenfasst. Zweifel scheinen angebracht. Problematisch erscheint auch die Behauptung, dass Argentinien im Zweiten Weltkrieg "trotz des Drängens der Alliierten neutral blieb" (141). Für die USA trifft sicherlich zu, dass sie nach Pearl Harbor Druck auf Argentinien ausübten. Das Vereinigte Königreich hingegen - von Riekenberg konsequent und irritierenderweise auf "England" reduziert - war nicht so kategorisch und zeigte lange Zeit Verständnis, sicherte die argentinische Neutralität doch die Lieferung von wichtigen Lebensmitteln.

Zudem geht Riekenberg mit dem Einsetzen des Zweiten Weltkriegs mehr und mehr deskriptiv vor, während Analysen in den Hintergrund treten, bevor sie in der Beschäftigung mit den letzten Jahren gänzlich verschwinden und nur mehr eine Feststellung der anderen folgt. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang vor allem eine eingehendere und stringentere Beschäftigung mit dem gesamten Komplex von Perón und des Peronismus gewesen. So hätte man nicht nur zwischen den Zeilen und in Nebensätzen erfahren, wie und warum aus der Sicht von Riekenberg die Bewegung selbst nach dem Sturz ihres Gründers 1955 durch das Militär ein entscheidender politischer Faktor blieb, warum sie den Avancen anderer Politiker widerstand, und warum die Streitkräfte so spektakulär mit ihrer Strategie der gewaltsamen Unterdrückung scheiterten. Nichts belegt das Versagen des Militärs besser und nachdrücklicher als die Tatsache, dass es 1973 Perón - nach fast zwei Jahrzehnten des Exils - die Rückkehr an die Macht gestatten musste.

Riekenberg führt ökonomische Faktoren an und unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die "Senkung des Lebensstandards breiter Bevölkerungskreise" nach 1955 aufgrund einer "liberale[n] Wirtschaftspolitik" (164) zu einer Verklärung der peronistischen Amtszeit führte. Unerwähnt lässt er, dass Perón und mit ihm seine zweite Frau, Eva Duarte de Perón, insbesondere Arbeitern ein Gefühl von Würde und Ansehen verliehen und Gesetze erließen, die sie schützten und von denen sie profitierten, beispielsweise im sozialen Bereich. Diese Dimension peronistischer Politik ist vor allem von Daniel James in mehreren Publikationen eingehend und überzeugend untersucht wurden. James findet sich allerdings ebenso wenig in der Bibliografie am Endes des Buches wie andere namhafte Autoren, beispielsweise Carlos Escudé, Mario Rapoport oder Ranaan Rein. Vielmehr überrascht die Literaturliste durch die Zahl an deutschsprachigen Veröffentlichungen. Den Stand der internationalen wissenschaftlichen Diskussion reflektiert dies sicherlich nicht.

Unklar bleibt in der abschließenden Bewertung der Arbeit, mit welchem Zielpublikum vor Augen es verlegt wurde. Als Einführung für Laien scheint es aufgrund eines eher trockenen Stils, des Fehlens von auflockernden Anekdoten und der vielen Fachbegriffe nur beschränkt geeignet. Zweifel mag man auch daran haben, ob es als Lehrbuch seine Leser finden wird. Fußnoten sind zu sporadisch und unvermittelt gesetzt, auch wenn Riekenberg einer "Bitte des Verlags" nachkommend "die Literaturhinweise [...] auf das Wichtigste" (193) beschränkt hat. Tabellen oder Grafiken fehlen gänzlich, und zwei Karten finden sich lediglich auf den letzten beiden Seiten. Die wesentliche Errungenschaft der Kleinen Geschichte Argentiniens ist somit wirklich darin zu sehen, dass es "[n]ach langer Zeit [...] erstmals wieder" eine Darstellung "in deutscher Sprache" bietet, so wie es der Text auf dem Einband betont. Einem Vergleich beispielsweise mit David Rocks Argentina 1516-1987: From Spanish Colonization to Alfonsín oder, auf das 20. Jahrhundert beschränkt, Luis Alberto Romeros Breve historia contemporánea de la Argentina, die jeweils auch in spanischer bzw. englischer Übersetzung vorliegen, hält es allerdings nicht stand.

Marcus Klein