sehepunkte 9 (2009), Nr. 11

Hermann Schreyer: Das staatliche Archivwesen der DDR

Historiker wissen ein wohlgeordnetes staatliches Archivwesen zu schätzen, denn immer noch sind staatliche Schriftquellen, wie sie in den Archiven aufbewahrt werden, Grundlage einer seriösen Geschichtsschreibung. Der Zugang zu den Quellen hängt jedoch vielfach von rechtlichen und politischen Faktoren ab. Wie stark ein Staat sein Archivwesen zu politischen Zwecken instrumentalisieren kann, zeigt Hermann Schreyer in seinem "Überblick" über "das staatliche Archivwesen der DDR".

Schreyer sieht vier Entwicklungsphasen des DDR-Archivwesens. Die erste "bürgerliche" Phase dauerte von 1945 bis 1957. Personell griff man zunächst auch auf politisch Belastete zurück, um die durch den Krieg verursachten Probleme zu lösen. Die Sicherung, Bergung und Rückführung von Akten aus den Auslagerungsstandorten sowie deren Ordnung und Erschließung wurden in Angriff genommen, wobei es auch gelang, Verzeichnungsrückstände aus der Zeit vor 1945 aufzuarbeiten.

Zügig entstand ein rechtlicher und organisatorischer Rahmen mit der Schaffung der Zentralverwaltung der staatlichen Archive und der Verordnung über das Archivwesen von 1950. Durch die neue Eigentumsstruktur der Wirtschaft lag nun auch die Einrichtung von Betriebsarchiven in staatlicher Verantwortung. Es gelang ferner, das durch die Auflösung der Länder 1952 massenhaft anfallende Archivgut zu bearbeiten. In Berlin und Potsdam wurden die Grundlagen zur Ausbildung von Archivaren für den höheren und gehobenen Dienst geschaffen. Seit 1951 wurden Spezialinventare zur Geschichte der Arbeiterbewegung erstellt.

Bei der Bewältigung von Platz- und Personalproblemen bestand zunächst oft mehr Wohlwollen bei den sowjetischen Besatzungsbehörden als bei deutschen Stellen. So reagierte Otto Grotewohl auf einen Bericht über die schlechte Personalausstattung der Archive mit der Frage, ob dort überhaupt so viele Mitarbeiter nötig seien oder ob man einen Teil nicht besser in die Produktion überführen solle (44).

Die DDR-Führung wurde sich aber immer mehr bewusst, dass die Archive auch Herrschaftswissen bargen. Ab 1958 begann die zweite Phase, in der versucht wurde, ein "sozialistisches" Archivwesen aufzubauen. Aus den verschiedensten Gründen verließen viele der noch gesamtdeutsch denkenden "bürgerlichen" Archivare die DDR. Die verbliebenen wurden entlassen oder aus Leitungsfunktionen herausgedrängt, um den Einfluss der SED zu stärken, wobei ausdrücklich die politische Qualifikation wichtiger als die fachliche war.

Die ideologische Grundlage für die Umgestaltung bildete das Archivdekret von Lenin aus dem Jahre 1918. Obwohl es lediglich praktischen Erwägungen entsprang, erlangte es bei den Funktionären und Politikern der DDR den Rang eines Grundgesetzes. Das gesamte Archivgut der Nation, der "Staatliche Archivfonds der DDR", sollte zusammengefasst werden und einer einheitlichen Leitung unterstehen. Ausgenommen hiervon sollten eigentlich nur die Akten der Parteien und Massenorganisationen und privates Archivgut sein. Obwohl dies immer wieder als größter Vorteil des sozialistischen Archivwesens genannt wurde, kam es tatsächlich zu einer Zersplitterung der Bestände. Viele Ministerien und Behörden bildeten mit höchster Genehmigung eigene Endarchive, über deren Bestände die Zentrale Verwaltung staatlicher Archive nicht oder nur unzureichend informiert war.

Nach 1961 wurden die Kontakte der Archivare mit dem westlichen Ausland beschränkt und streng kontrolliert. Der Zugang zu Archivalien wurde restriktiv gehandhabt. Das Sekretariat des Zentralkomitees der SED beschloss die Errichtung eines Zentrums zur Erfassung der "Dokumente über Nazi- und Kriegsverbrecher in Westdeutschland" (104), dessen vorrangige Aufgabe es war, dem Ministerium für Staatssicherheit politisch nutzbares Material gegen Politiker und Entscheidungsträger in der Bundesrepublik an die Hand zu geben. Formal der Staatsarchivverwaltung unterstellt, hatte faktisch nur die Staatssicherheit hier die Kontrolle.

Die erzwungene Öffnung der DDR nach Westen im Rahmen der Entspannungspolitik leitete die dritte Phase der Entwicklung ein, die 1969/70 einsetzte und mit den in der Sowjetunion beginnenden Veränderungen 1983 endete. Die neue Außenpolitik wurde von der Staatsführung im Innern als Bedrohung der bestehenden Verhältnisse angesehen. Die Geheimhaltung wurde immer mehr zum Selbstzweck.

Die Vereinnahmung des staatlichen Archivwesens für fachfremde Zwecke gipfelte in der Ernennung eines "Offiziers im besonderen Einsatz" des Ministeriums für Staatssicherheit zum Leiter der staatlichen Archivverwaltung. Kontrollen, der Zwang zu Rückfragen und Bürokratisierung lähmten zunehmend die Aufgabenerfüllung. Historische Quellen mussten nun daraufhin überprüft werden, ob sie von westlichen Historikern "zur ideologischen Diversion" (214) genutzt werden konnten und so eine Bedrohung der Sicherheit des Staates darstellten.

Als logische Folge dieser Sichtweise wurden seit Anfang der siebziger Jahre die Bereiche Erschließung und Auswertung in den Archiven personell getrennt. Die Benutzerbetreuung sollte nur noch "politisch zuverlässigen" (210) Mitarbeitern vorbehalten sein. Da Archivgut als sicherheitsrelevant galt, blieben auch die Archivmitarbeiter von Überwachungsmaßnahmen ihres dienstlichen und privaten Umfeldes nicht verschont.

Ab 1983, in der letzten Phase des DDR-Archivwesens, ließen sich die Auswirkungen von Platzmangel, Mängel bei der Bestandserhaltung und Personalknappheit nicht länger verdrängen. Zwar wurden neue Bauten in Aussicht gestellt, die letzten Jahre der DDR bedeuteten jedoch Stagnation.

Das Kulturabkommen mit der Bundesrepublik führte 1986 zu einem erfolgreichen Austausch von Archivalien, die seit der Teilung im jeweils anderen Staat Deutschlands lagen. Aus der Bundesrepublik kamen Bestände, die ursprünglich aus Schwerin, Oranienbaum, Dresden, Greifswald und Lübben stammten, die DDR gab Bestände aus Lübeck, Hamburg, Bremen, Kiel und Mainz zurück.

1990 schließlich konnten die Archivare mutwillige Aktenvernichtungen zwar nur selten verhindern, sie sicherten aber fachgerecht und zügig das noch Erhaltene. Zahlreiche Archivare fanden auch im wiedervereinigten Deutschland Verwendung.

Trotz der ungünstigen Bedingungen gelang es der Archivwissenschaft der DDR unter Berücksichtigung der in allen Lebensbereichen üblichen sozialistischen Rituale, darunter die Bezugnahme auf die Beschlüsse des jeweils jüngsten Parteitages der SED, erfolgreich und zielorientiert Grundprobleme der Bewertung und Erschließung zu diskutieren und den jeweiligen Erfordernissen in der Praxis gerecht zu werden. Eine umfangreiche, auch in der Bundesrepublik Deutschland rezipierte Fachliteratur entstand. Höhepunkt war das Hochschullehrbuch "Theorie und Praxis des Archivwesens der DDR", das 1981 fertiggestellt und 1984, nach Zuteilung eines entsprechenden Papierkontingents, gedruckt wurde.

Schreyer gelingt es, die Entwicklung des DDR-Archivwesens, in dem er selbst tätig war, lebendig und detailreich zu schildern. Er stützt sich dabei auf umfangreiches Quellenmaterial und einschlägige Studien. Der gelegentlich aufscheinende Sarkasmus in Bezug auf die systembedingten Absurditäten steigert die Authentizität der Darstellung, denn es geht hier um ein Stück Zeitgeschichte, und die ist, nach der klassischen Definition von Hans Rothfels "die Epoche der Mitlebenden". Daher spricht nichts dagegen, eigene Erfahrungen einzubringen, sofern sie immer als solche gekennzeichnet sind.

Rezension über:

Hermann Schreyer: Das staatliche Archivwesen der DDR. Ein Überblick (= Schriften des Bundesarchivs; 70), Düsseldorf: Droste 2008, XII + 308 S., ISBN 978-3-7700-1626-6, EUR 42,00

Rezension von:
Klaus A. Lankheit
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Klaus A. Lankheit: Rezension von: Hermann Schreyer: Das staatliche Archivwesen der DDR. Ein Überblick, Düsseldorf: Droste 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/11/15708.html


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