sehepunkte 9 (2009), Nr. 10

Christoph Volkmar: Reform statt Reformation

Mit der Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen thematisiert die Leipziger Dissertation vorreformatorische Reformbemühungen, die im Kontrast zur Reformation in den zwanziger und dreißiger Jahren fortgeführt wurden und als zeitgenössische Variante des altgläubigen Reformpotenzials interpretiert werden können. Dabei knüpft er an Forschungskonzepte an, die stärker, als dies unter dem Einfluss der konventionellen Historiographie üblich war, die Zusammenhänge zwischen kirchlichen Reformansätzen des 15. Jahrhunderts und der reformatorischen Entwicklung betonen. Diese zweifellos verdienstvolle konzeptionelle Korrektur der konventionellen Engführung reformationsgeschichtlicher Forschung relativiert nicht nur den historischen Stellenwert der Reformation, sondern kann auch dazu beitragen, deren tatsächliche innovatorische Reichweite genauer und sachgerechter zu bestimmen. Dabei sind auch die Grenzen spätmittelalterlicher Reformaktivitäten zu beachten, die nicht nur in personalen Konstellationen, sondern auch in rechtlichen Restriktionen und in strukturellen Gegebenheiten angelegt waren. Dazu zählt z. B. der Umstand, dass die zeitgenössischen Akteure sich mit einer Vielzahl kirchlicher Institutionen konfrontiert sahen, deren kirchenrechtlicher Status stark differierte. Es erscheint deshalb durchaus einsichtig, die Untersuchung nach verschiedenen Handlungsebenen zu gliedern, weil die jeweiligen Voraussetzungen konstruktiver und Erfolg versprechender Initiativen und Interventionen stark variierten. Die jeweils tatsächlich verfügbaren Handlungsräume vergegenwärtigt der einführende Überblick über die Schwerpunkte, Intentionen und Bedingungen landesherrlicher Kirchenpolitik im 15. Jahrhundert, die nicht zuletzt dem Ausbau der Landesherrschaft zum Territorialstaat zu dienen hatte und deren Grundlinien sich auch in der wettinischen Reformtradition, etwa in der anfänglichen Kooperation mit dem Papsttum, in der Mediatisierung der regionalen Bischöfe (Meißen, Merseburg, Naumburg), in der Tendenz zur Beschränkung und Kontrolle der geistlichen Jurisdiktion, in der Förderung der Klosterreform und in der Neigung zur Regulierung des niederen Klerus konkret nachweisen lassen. Auch für Herzog Georg lässt sich zeigen, dass er diese Linie in patriarchalischem Selbstverständnis und kirchenpolitischem Sendungs- und Verantwortungsbewusstsein, unterstützt von vorwiegend weltlichen Räten, weiterverfolgte, in seiner persönlichen Religiosität allerdings dem humanistischen Frömmigkeitsideal zuneigte und vor allem dahin tendierte, in seiner Kirchenpolitik nach weltlichen Rechtsprinzipien zu verfahren und mit weltlichen Herrschaftstechniken zu operieren. Für seine Politik gegenüber der Kurie ergibt sich ein ambivalentes Bild, weil er einerseits die Autorität und Kompetenz des Papsttums vorbehaltlos anerkannte, sich auch in verschiedenen landespolitischen Belangen um päpstliche Privilegien bemühte - wiederholt auch, wenngleich erfolglos, um weit reichende Rechte zur Kirchenreform. Andererseits hielt er freilich mit Kritik an der Kurie nicht zurück und verlangte eine gründliche Reform der römischen Kirche durch ein Konzil. Eindeutiger fällt der Befund für den territorialen Bereich aus, wo Herzog Georg, wie sein Konflikt mit Bischof Johann VI. von Meißen zeigt, seine Oberherrschaft über die Bischöfe von Meißen und Merseburg zu wahren verstand, aber ansonsten im Interesse kirchlicher Reform auf eine engere Kooperation mit den kirchlichen Amtsträgern, nicht zuletzt mit dem Meißener Domkapitel, Wert legte. Dies gilt auch für die Offiziale, deren geistliche Jurisdiktion Georg ansonsten zielstrebig auf rein weltliche Streitsachen zu reduzieren und unter Berufung auf weltliche Rechtsauffassungen bzw. moralische Argumente unter Kontrolle zu bringen suchte. Auch die zielbewusste, auf Vogteirechte und Visitationen gestützte Förderung der Klosterreform unter Bevorzugung der observanten Bettelorden, z. B. durch die wirtschaftliche Sanierung der Konvente, die Einsetzung qualifizierter Führungskräfte, die Einschärfung der Ordensregel etc., lässt sich einer längerfristigen Tendenz landesherrlicher Kirchenpolitik zuordnen. Besondere Beachtung verdient das Interesse Georgs, den Niederklerus in den Untertanenverband zu integrieren, um ihn unter landesherrlichem Druck und mit Hilfe weltlicher Sanktionen - möglichst im Einvernehmen mit der geistlichen Obrigkeit - sittlich zu disziplinieren und die Erfüllung seiner pastoralen Pflichten sicherzustellen. Der Erfolg dieser nicht systematisch konzipierten, aber in zahlreichen Einzelfällen nachweisbaren Strategie erlaubt die Schlussfolgerung, dass der Niederklerus den auf die Pflicht zu Schutz und Schirm gestützten landesherrlichen Autoritäts- und Führungsanspruch, der auch das Besteuerungsrecht einschloss, anerkannte und seine Behandlung als Untertanen akzeptierte. In der Analyse der herangezogenen Einzelfälle finden sich variable Argumentationsmuster, die die fürstlichen Interventionen unter Berufung auf die obrigkeitliche Pflicht zur Sorge für das Seelenheil der Untertanen, zur Abwendung wirtschaftlichen Schadens und zur Abwehr öffentlichen Ärgernisses legitimieren, sich auf Suppliken der Untertanen, die Missstände beklagten, beziehen und vor allem den oberlehnsherrlichen Anspruch des Landesherrn als oberster Kollator betonen konnten. Dieses Argumentationsspektrum erweist sich als tragfähige Basis des fürstlichen Kirchenregimentes, das deshalb für seinen weiteren Ausbau kaum mehr besonderer päpstlicher Privilegierung bedurfte. Dass man sich unter Herzog Georg nun auch verstärkt um Intensivierung der Laienfrömmigkeit und ihre Erziehung zu sittlichem Verhalten bemühte, belegt die Tendenz des landesherrlichen Kirchenregimentes, mittelalterliche Grenzen zu überschreiten. Im Versuch, die Religiosität der Laien zu beeinflussen, verbanden sich Reforminteresse und Kontrollanspruch. Letzterer wurde mit der Verantwortung für den gemeinen Nutzen, den das moralische bzw. religiöse Fehlverhalten der Laien gefährdete, und unter Bezug auf das Konzept der "guten Policey" begründet und gerechtfertigt. Daraus ließ sich eine im Grunde noch mittelalterlich begründete geistlich-moralische Reformkompetenz ableiten, deren gesellschaftliche Relevanz zukunftweisend war und die sich in der vorreformatorischen Öffentlichkeit in von Herzog Georg oder seiner Umgebung angeregten, im Druck publizierten religiösen Schriften artikulierte. Die referierten Befunde lassen sich in der These zusammenfassen, dass sich in der Rolle der weltlichen Obrigkeit in den reformatorischen Landeskirchen die spätmittelalterliche Entwicklung unmittelbar fortsetzte. Allerdings blieb es in der fürstlichen Herrschaftspraxis bei situativ konzipierten Aktionen, die bemerkenswert oft in Kooperation mit der geistlichen Obrigkeit umgesetzt wurden. Dessen ungeachtet bleiben die Bedeutung weltlicher Herrschaftstechniken im Rahmen der fürstlichen Kirchenpolitik, die Bereitschaft, trotz grundsätzlichem Interesse am Konsens das Kirchenrecht, auch die Kompetenzen der kirchlichen Hierarchie gegebenenfalls zu unterlaufen, die Variabilität der Legitimationsmuster und der Einfluss rein religiöser Motive auf das Plädoyer für Reformen festzuhalten. Die daraus resultierende Tendenz zur Territorialisierung der Kirche stellt sich dabei als Folge der fürstlichen Herrschaftspraxis dar, die in einer Vielzahl punktueller Eingriffe fallweise kirchliche Rechte überspielte bzw. weltliche Herrschaftsansprüche im kirchlichen Raum zur Geltung brachte, ohne wie die spätere reformatorische Bewegung den grundsätzlichen Konflikt mit der klerikalen Ordnung zu riskieren. Trotz der signifikanten Orientierung an älteren Leitvorstellungen, die das mittelalterliche Kirchenideal vorgab, lassen sich in der Gratwanderung der kirchenpolitischen Praxis zwischen Kirchenrecht und obrigkeitlichem Ordnungs- und Reforminteresse Dispositionen konstatieren, die vor allem im Bereich der Laienreform auf die spätere Konfessionalisierung mit ihren sozialen Implikationen verweisen.

Der zweite Teil der Untersuchung handelt von der Auseinandersetzung Herzog Georgs mit der frühen Reformation. Indem sich die Darstellung von der bislang bevorzugten Perspektive Luthers löst, wird einsichtig, dass vor allem die Rezeption der lutherischen Lehre als Neuauflage des Hussitentums Herzog Georg zu einer entschieden antirefomatorischen Politik motivierte, die auf Reichsebene zwar das Mandat des Reichsregimentes vom 20. Januar 1522 maßgeblich beeinflussen konnte, ansonsten aber eher isoliert bzw. gegenüber den Ernestinern und dem hessischen Landgrafen wirkungslos blieb und in der Hauptsache auf territorialer Ebene agierte. Dabei lässt sich eine doppelte Strategie beobachten, die einerseits darauf abzielte, die als Rebellion gegen die kirchliche und weltliche Ordnung verstandene reformatorische Bewegung unter Berufung auf die fürstliche Verantwortung vor Gott und die Sorge um das Seelenheil der Untertanen mit Verboten und Sanktionen gegen lutherisch gesinnte Weltpriester, abgefallene Mönche und Utraquisten unter den Laien zu unterdrücken und als Verführung zur Sittenlosigkeit und zum Bruch klerikaler Gelübde zu diskreditieren, und andererseits die Kritik an kirchlichen Missständen ernst nahm und mit Reformen gegenzusteuern suchte, um eine altgläubige Alternative anzubieten. Daneben tritt die öffentliche Auseinandersetzung mit Luther, die Herzog Georg als Konflikt um seine Ehre inszenierte, in den Hintergrund. Diese Akzentverschiebung unterstreicht die Kontinuität zur vorreformatorischen Kirchenpolitik Georgs, ohne die antireformatorischen Impulse zu relativieren. Die Parallelen im Umgang mit straffälligen Klerikern und Laien, in der freilich nur partiell erfolgreichen Bemühung um die Stabilisierung monastischer Konvente, in der allerdings nun verschärften Zensurpolitik, im Bestreben, die altgläubige Seelsorge zu optimieren etc., sind deutlich. Die Abwehr des Luthertums blieb verbunden mit dem Interesse an einer effektiven Klerus- und Laienreform. Diese Doppelstrategie, die die neugläubige Predigt bekämpfte und zugleich altgläubige Predigtstühle installierte, spiegelt sich auch in dem zielstrebig geförderten publizistischen Programm, das in der reformatorischen Öffentlichkeit, deren Bedeutung dem albertinischen Herzog durchaus bewusst war, die antilutherische Agitation stützte, aber auch katechetische Schriften zur Propagierung der altgläubigen Lehre anbot und eine von Emser redigierte Übersetzung des Neuen Testamentes einschloss.

Das Verdienst der Untersuchung liegt nicht nur darin, dass sie das spätmittelalterliche Reformpotenzial - und seine Grenzen - in einer Fallstudie zusammenhängend reflektiert, sondern auch den Möglichkeitsraum kirchlich-gesellschaftlicher Reformpolitik in den Jahrzehnten um 1500 neu vermisst. Die innovatorische Validität des lutherischen Reformangebotes wird dadurch nicht in Frage gestellt, wohl aber die oft genug wie selbstverständlich vorausgesetzte Exklusivität der neugläubigen kirchenpolitischen Reflexion. Die Studie erweitert die Vorstellung von dem in den Jahrzehnten um 1500 gegebenen Entwicklungspotenzial für die Neuformierung von Kirche und Gesellschaft erheblich und belegt damit überzeugend die konzeptionelle Ergiebigkeit einer übergreifenden Perspektive, die die spätmittelalterliche Reformdiskussion als Alternative zur reformatorischen Bewegung differenziert reflektiert.

Rezension über:

Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488-1525 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 41), Tübingen: Mohr Siebeck 2008, XIV + 701 S., ISBN 978-3-16-149409-3, EUR 119,00

Rezension von:
Albrecht P. Luttenberger
Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Regensburg
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht P. Luttenberger: Rezension von: Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488-1525, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/10/15480.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.