Rezension über:

Karel Jan Hruza (Hg.): Österreichische Historiker 1900-1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien: Böhlau 2008, 859 S., ISBN 978-3-205-77813-4, EUR 99,00
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Rezension von:
Francesco Roberg
Landeshauptarchiv Koblenz
Redaktionelle Betreuung:
Harald Winkel
Empfohlene Zitierweise:
Francesco Roberg: Rezension von: Karel Jan Hruza (Hg.): Österreichische Historiker 1900-1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/15354.html


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Karel Jan Hruza (Hg.): Österreichische Historiker 1900-1945

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Ausgeprägtes persönliches Interesse und eigene wissenschaftliche Arbeiten über die jüngere deutschsprachige Wissenschaftsgeschichte ließen Hruza die Initiative zur Herausgabe des stattlichen und nicht minder gewichtigen Bandes ergreifen. Gemäß dem allen Autoren zugesandten Konzept für die einzelnen Portraits, bei deren Ausarbeitung den Autoren sinnvollerweise durch den Herausgeber hinreichend Freiheit gelassen wurde, sollte "nicht ein Handbuch oder biografisches Lexikon österreichischer Historikerinnen und Historiker" entstehen - "dazu hätten mehr zu porträtierende Personen in anders strukturierten Artikeln von einheitlicher Länge aufgenommen werden müssen" (10). Vielmehr "haben stattdessen 19 "individuelle" Historikerinnen und Historiker "ihresgleichen" biografisch aufgearbeitet" (ebd.). Von den 26 zugesagten Beiträgen lagen bei Redaktionsschluss nicht weniger als sieben nicht vor, so dass so zentrale Figuren wie Otto Brunner, Lothar Groß, Adolf Helbok, Gerhart Ladner, Oswald Redlich, Heinrich von Srbik und Hermann Wopfner teilweise vielfach in den einzelnen Portraits genannt werden, ein ihnen gewidmeter Artikel aber fehlt. Das ist zu bedauern, aber natürlich nicht dem Herausgeber anzulasten. Die tatsächlich in dem Band vereinigten 19 Studien sind: Pavel Soukup, Johann Loserth (1846-1936). Ein "Gelehrter von Weltruf" in Czernowitz und Graz (39-71); Susanne Lichtmannegger, Emil von Ottenthal (1855-1931). Diplomatiker in der Tradition Theodor von Sickels und Julius von Fickers (73-95); Gernot Peter Obersteiner, Anton Mell (1865-1940). "Homo styriacus" und "deutsches Vaterland" (97-124); Alexander Pinwinkler, Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930). Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik (125-154); Thomas Buchner, Alfons Dopsch (1868-1953). Die "Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" (155-190); Renate Spreitzer, Harold Steinacker (1875-1965). Ein Leben für "Volk und Geschichte" (191-223); Alois Kernbauer, Hans Pirchegger (1875-1973). "Der" Landeshistoriker (225-246); Martin Scheutz, Wilhelm Bauer (1877-1953). Ein Wiener Neuzeithistoriker mit vielen Gesichtern. "Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt" (247-281); Thomas Just, Ludwig Bittner (1877-1945). Ein politischer Archivar (283-305); Andreas H. Zajic, Hans Hirsch (1878-1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung (307-417); Gerhard Siegl, Otto Stolz (1881-1957). Trotz Fleiß kein Preis? Der geknickte Marschallstab (419-460); Anne-Katrin Kunde, Mathilde Uhlirz (1881-1966). Jenseits der Zunft. Prozesse der Selbstbehauptung in Leben und Wissenschaft (461-491); Helmut Maurer, Theodor Mayer (1883-1972). Sein Wirken vornehmlich während der Zeit des Nationalsozialismus (493-530); Julia Hörmann-Thurn und Taxis und Roland Steinacher, Richard Heuberger (1884-1968). Mediävist und Althistoriker in Innsbruck (531-568); Christina Köstner, Paul Heigl (1887-1945). Ein politisch engagierter Bibliothekar des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der Nationalbibliothek Wien (569-595); Hannes Obermair, Leo Santifaller (1890-1974). Von Archiven, Domkapiteln und Biografien (597-617); Jiří Němec, Eduard Winter (1896-1982). "Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts ist in Österreich nahezu unbekannt" (619-675); Karel Hruza, Heinz Zatschek (1901-1965). "Radikales Ordnungsdenken" und "gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit" (677-792); Michael Fahlbusch, Wilfried Krallert (1912-1969). Ein Geograf und Historiker im Dienst der SS (793-836).

In einem den eigentlichen Beiträgen vorangehenden Abschnitt (Österreichische Historiker 1900-1945. Zum Stand der Forschung, 13-37) konstatiert der Herausgeber, dass sich eine "so intensive und diskussionsfreudige Zeitgeschichtsforschung wie in der Bundesrepublik Deutschland, die fast flächendeckend die feinsten Verästelungen der politischen Systeme des 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen analysiert [...], in Österreich nicht entwickelt bzw. etabliert" habe; hier werde die Öffentlichkeit durch die Medien "beispielsweise weniger mit der Geschichte des Dritten Reiches konfrontiert als in Deutschland"(13).

Vermutlich aus diesem Grund sei daher auch erst Mitte der 1960er Jahre "zur Diskussion gestellt (worden), dass auch ein Historiker als Wissenschaftler mit den Denkmustern des Nationalsozialismus in Verbindung stehen und diese, noch 20 Jahre nach Kriegsende, in die universitäre Lehre einbringen konnte" (14). Ohne dass dies explizit ausgesprochen würde, darf man den vorliegenden Band als Beitrag zu dieser Diskussion ansprechen.

Die folgenden Seiten geben eine gediegene Zusammenschau über die vorliegende Literatur und grenzen den Band von anderen einschlägigen Zusammenstellungen auf der einen und biographischen Lexika auf der anderen Seite ab. Aufschlussreich sind die Überlegungen über den Stellenwert der klassischen Biographie im historiographischen Betrieb, über Mentalitätsgeschichte und Erinnerungskultur und schließlich über die Quellen biographischer Darstellung, neben den eigentlichen wissenschaftlichen Werken der Portraitierten auch ihre Selbstaussagen und -darstellungen im engeren Sinne wie auch Nachrufe, denen mit Blick auf ihren Aussagewert eine ganz eigene Problematik anhaftet. Letzteres gilt auch für persönliche Bekanntschaft, denn "Gelehrtengeschichte" verträgt, um mit Heinrich Fichtenau zu sprechen, "keine allzugroße Distanz".[1] Dem wird man zustimmen müssen. Es ist folglich zweckmäßig, dass lediglich ein Autor "sein "Forschungsobjekt" noch persönlich gekannt (hat), freilich nicht in einer Lehrer-Schüler Beziehung oder gar Verehrung" (35).

Schon wegen des Umfangs des Bandes ist nur verständlich, dass sein Herausgeber es nicht als seine Aufgabe angesehen hat, sich inhaltlich mit den Beiträgen auseinanderzusetzen oder gar, was auch für den Rezensenten gilt, eine erste Synthese vorzunehmen. Die Verschiedenheit der Portraitierten, die sich schon in den Untertiteln, der Länge der Beiträge, der Herangehensweise der Autoren spiegelt, ist beeindruckend. Gemein ist den behandelten Personen neben ihrer Ausbildung als Historiker und einer gewissen Relevanz in Wissenschaft, Politik oder Gesellschaft, dass sie "in Österreich, das heißt in der Habsburgermonarchie geboren" worden sind, "nach 1918 die österreichische Staatsbürgerschaft" besaßen oder erwarben "und ihre entscheidende Wirkungsphase zwischen 1900 und 1945 durchlebt" haben (33). So stehen sich so grundverschiedene Figuren wie Emil von Ottenthal und Theodor Mayer in diesem Band gegenüber. Gerade der instruktive Beitrag über letzteren zeigt die gegenseitige Abhängigkeit von Person und Werk und Zeit und Umwelt. Aber auch die anderen Beiträge, allesamt grundständig erarbeitet und quellengesättigt, machen deutlich, wie reizvoll und ergiebig die Beschäftigung mit der jüngeren Wissenschaftsgeschichte sein kann. Besonderen Wert kommt den Beiträgen insofern zu, als so gut wie jeder von ihnen bisher unbekanntes oder kaum beachtetes Quellenmaterial, darunter auch Photographien der Portraitierten, im Falle von Hruzas biographischem Beitrag sogar ein Editionsanhang, verarbeitet.

Dieser Band, den ein Abkürzungsverzeichnis, ein Abbildungsnachweis, ein Personenregister sowie kurze Biogramme und Anschriften der Autoren beschließen, und die 19 in ihm enthaltenen Beiträge laden geradezu ein, eine historische Synthese zu ziehen, und dafür gebührt allen Beteiligten Dank und Anerkennung.


Anmerkung:

[1] Heinrich Fichtenau: Diplomatiker und Urkundenforscher, in: MIÖG 100 (1992), 9-49, hier 9.

Francesco Roberg