sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8

Frank Roggenbuch: Das Berliner Grenzgängerproblem

Zeitweilig pendelten mehrere zehntausend Menschen im geteilten Berlin: Die einen, weil sie in Ostberlin oder im zu Brandenburg gehörenden Stadtrandgebiet lebten und in Westberlin arbeiteten, zur Schule gingen oder studierten ("West-Grenzgänger"); die anderen, weil sie umgekehrt in den Westsektoren ansässig waren und ihrem Beruf im Ostteil der Stadt nachgingen ("Ost-Grenzgänger"). Sie alle überschritten auf diese Weise in ihrem Alltag nahezu täglich die Systemgrenze, die Berlin durchschnitt.

Betrachtet man die Gruppe dieser sogenannten Grenzgänger, rückt die eine, historisch gewachsene Stadt Berlin in den Blick, deren Funktionszusammenhänge und Strukturen sich mit der Teilung nicht ad hoc neu formieren ließen. So hatten beispielsweise einige Künstler, Wissenschaftler und Ärzte ihre Wohnquartiere traditionellerweise schwerpunktmäßig in den westlichen Bezirken, während ihnen die Infrastruktur des Ostsektors - besonders der Bezirk Mitte mit seinen Kulturstätten und Krankenhäusern - gute Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Es ist die hier offenbar werdende "Dialektik [...] von politischer Teilung und soziokultureller Einheit" (6), die Frank Roggenbuch an dem Forschungsgegenstand "Grenzgänger" interessiert. Er ordnet seine 2007 als Dissertation eingereichte zeithistorische Untersuchung einem Forschungskontext zu, der Verflechtungsfaktoren und wechselseitiges Aufeinanderbezogensein von Ost und West im Berlin-Brandenburger Raum stärker als bisher berücksichtigen und dadurch eine neue Sicht auf die Auseinandersetzungen im Kalten Krieg gewinnen will.

Ob der Verflechtungs- und damit zunächst integrative Faktor "Grenzgängerwesen" diese Qualität behielt oder schließlich eher spaltend wirkte, ist eine der Kernfragen von Roggenbuchs Arbeit. In vier chronologisch angelegten Abschnitten untersucht er die Entwicklung des Grenzgängerwesens in der Zeit der offenen Systemgrenze bis 1961. Das erste Kapitel widmet sich der Entstehung des Phänomens im Zusammenhang der ersten Berlinkrise. Als "Initialzündung" wertet Roggenbuch die zweite Westberliner Währungsreform vom 20. März 1949, welche die Berliner Westsektoren nach einer Phase des Währungsdualismus vollständig auf Westmark umstellte. In Bezug auf die weit über 100.000 Westberliner, die jenseits der Westsektoren beschäftigt waren und ihre Einkünfte daher in der deutlich kursschwächeren Ostwährung bezogen, wurde damit eine Sonderregelung notwendig. Sie griff in Form eines komplizierten Lohnausgleichsverfahrens. Vereinfacht gesprochen wurde ein bestimmter Anteil der Westmarkbezüge von West-Grenzgängern von einer Lohnausgleichskasse in Ostmark getauscht, mit denen der Arbeitnehmer an seinem Wohnort im Ostsektor bezahlen konnte. Umgekehrt konnte ein Ost-Grenzgänger einen Teil seiner Ostbezüge in Westmark tauschen und auf diese Weise seine Lebenshaltungskosten im Westteil der Stadt decken. Die Lohnausgleichskasse wurde somit zu "dem künstlichen Herz[en], das die Verflechtungskategorie Grenzgängerwesen am Leben erhielt" (113). Dass sich die Westberliner Politik mit derart aufwendigen Mitteln in der Grenzgängerfrage engagierte, hing mit ihrem Bestreben zusammen, Ostarbeitsverhältnisse von Westberlinern zu erhalten. Hintergrund war die westsektorale Massenarbeitslosigkeit, die Roggenbuch als den bedeutendsten sozioökonomischen Faktor des Grenzgängerwesens in den frühen 1950er Jahren einschätzt.

Die wirtschafts- und insbesondere arbeitsmarktpolitische Dimension des Grenzgängerproblems war insofern erheblich und für die Politik handlungsleitend. Daneben allerdings kamen auf diesem Feld, wie Roggenbuch im zweiten Kapitel darlegt, dezidiert politische Erwägungen zum Tragen. So nutzte der Senat die Lohnausgleichskasse als Instrument, um im Sinne einer Sowjetisierungsprävention gegen politische Gegner mit Wohnsitz in Westberlin vorzugehen: Ein dekretierter "Ausschluss vom Umtausch" sollte Mitglieder und Arbeitnehmer der SED, des FDGB und ihrer Gliederungen treffen. Auf östlicher Seite veränderten die forcierte Abschottung und der mit der II. Parteikonferenz einhergehende Sowjetisierungsschub 1952 die Ost-Grenzgängerpolitik der SED. Die Maßnahmen ließen die Distanz zwischen den Systemen wachsen und damit auch die Vorbehalte gegenüber Arbeitnehmern, die gleichsam mit einem Bein im kapitalistischen "Feindesland" standen. Ihren Niederschlag fand diese Entwicklung in Massenentlassungen von Ost-Grenzgängern.

Die folgenden Kapitel führen den skizzierten multiperspektivischen Ansatz fort. Es ist eine Stärke von Roggenbuchs Untersuchung, dass er seinen Gegenstand differenziert von verschiedenen Politikfeldern (etwa Wirtschaft, Recht, Propaganda) her beleuchtet und punktuell auch Bezüge zur Tagespolitik herstellt. Zudem befasst er sich mit der Wahrnehmung und Behandlung der Ost- wie der West-Grenzgänger gleichermaßen für die West- und für die Ostseite. Deutlich wird dabei, dass die Konkurrenz auch zu internen Widersprüchen führen konnte. So schnitt sich die SED mit dem Abbau der Ost-Grenzgänger ins eigene Fleisch, da sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre immer spürbarer ein Arbeitskräftemangel abzeichnete. In Kapitel drei beschreibt Roggenbuch, wie sich die Grenzgängerpolitik Ostberlins vor diesem Hintergrund radikalisierte. Denn negativ wirkte sich neben dem Ost- (aus Sicht der SED) vor allem das West-Grenzgängertum aus. Nicht allein wurden dem Ostberliner Arbeitsmarkt darüber dringend benötigte Fachkräfte in steigender Anzahl entzogen, seit in Westberlin Mitte der 1950er Jahre die Konjunktur einsetzte. Auch hatten eben diese Arbeitskräfte aufgrund von Quotenerhöhungen der Lohnausgleichskasse mehr Westmark in der Tasche, was durch "Währungsspekulation" den ostseitigen Kaufkraftüberhang vergrößerte und die Mängel der Planwirtschaft verschärfte. Insofern sind es wiederum wirtschaftliche Entwicklungen, die laut Roggenbuch auch in dieser Phase den Schlüssel zum Verständnis des Grenzgängerproblems liefern. Die SED-Führung reagierte mit Repression. Diskriminierung und Terrorisierung sollten das West-Grenzgängerwesen reduzieren, indem sie die betroffenen Menschen zur Aufnahme einer Arbeit im Osten bewegten - mit wenig Erfolg. Vielmehr stieg die Zahl der West-Grenzgänger in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auf rund 40.000 an.

Das vierte Kapitel zeigt, wie die Repression nach kurzem Abflauen ab Sommer 1960 verschärft ins Werk gesetzt und die Grenzgängerfrage zudem zur Flankierung des Mauerbaus politisch massiv instrumentalisiert wurde. In diesem Zusammenhang sind die sich ergebenden Bezüge zwischen Grenzgängerwesen und Fluchtbewegung aufschlussreich. Beide Erscheinungen trugen zur Zuspitzung der Krise 1960/61 bei und gehörten gleichzeitig zu ihren prägnantesten Erscheinungen, wobei infolge des Drucks immer mehr West-Grenzgänger selbst zu "Republikflüchtigen" wurden. Außerdem verkörperten beide Gruppierungen für die SED ein Feindbild, weil sie sich dem propagierten System entzogen und vermeintlich ohne Gegenleistung von der DDR profitierten. Für eine groß angelegte Stimmungsmache durch Aufbau eines "öffentlichen Feindes" eigneten sich die Flüchtlinge laut Roggenbuch jedoch nicht, da mit der Thematisierung des Massenexodus unweigerlich eine Systemkrise konzediert worden wäre. Die Grenzgänger allerdings eigneten sich auch wegen des mit ihnen verbundenen Neidpotenzials ("Schmarotzer", "Schieber", "Speckjäger") umso besser: "Nicht zuletzt auf Grund der 'Inszenierung' des Grenzgängerproblems konnte die Grenzschließung für die SED zu einem Erfolg werden." (395)

Durch den Mauerbau wurde das Grenzgängerwesen komplett stillgelegt - aus Sicht der SED die einzig überzeugende Lösung. Schließlich hatte neben anderen Faktoren auch das Grenzgängerproblem gezeigt, dass die DDR in der Systemkonkurrenz mit offener Grenze nicht bestehen konnte. Unter den Bedingungen einer für den Osten negativen Wirtschaftsentwicklung wurde das Grenzgängerwesen zu einem immer gewichtigeren Störfaktor. Demzufolge war es am Ende, so Roggenbuchs Fazit in Bezug auf die oben formulierte Frage, "nahezu vollständig von der divergierenden Wirkung der Systemkonkurrenz geprägt und somit letztlich selbst ein Faktor der Desintegration" (454).

Der Autor hat für seine Untersuchung umfangreiche Archivmaterialien zu den politischen Akteuren auf verschiedenen Ebenen in West und Ost ausgewertet sowie ergänzend Presseberichte und einige Zeitzeugenbefragungen herangezogen. Auf dieser Basis kann er eine umfassende und systematische monografische Darstellung zum Berliner Grenzgängerwesen vorlegen, was bisher als Desiderat der wenig ausgebildeten Forschung zu diesem Thema gelten musste. Allerdings merkt man Roggenbuchs Studie die Pionierarbeit auch an: Sie präsentiert in detailreichen Verschlingungen eine große Menge Stoff, ohne dem Leser allzu viele Schneisen durch das Dickicht zu schlagen. Mehr bündelnd-analysierende Passagen wären hilfreich gewesen. Auch der ausgeprägte Nominalstil und die etwas hölzerne Begrifflichkeit erschweren die Lektüre. Gleichwohl: Frank Roggenbuch hat die Forschung zum Berliner Grenzgängerwesen mit seiner Untersuchung auf eine neue wissenschaftliche Basis gestellt.

Rezension über:

Frank Roggenbuch: Das Berliner Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz vor dem Mauerbau (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; Bd. 107), Berlin: de Gruyter 2008, XIII + 481 S., ISBN 978-3-11-020344-8, EUR 128,00

Rezension von:
Bettina Effner
Stiftung Berliner Mauer - Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde
Empfohlene Zitierweise:
Bettina Effner: Rezension von: Frank Roggenbuch: Das Berliner Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz vor dem Mauerbau, Berlin: de Gruyter 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/07/15143.html


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