sehepunkte 9 (2009), Nr. 5

Karl Borromäus Murr: Das Mittelalter in der Moderne

Die Erinnerungsgeschichte boomt, doch diese Dissertation (LMU München) hebt sich durch ihre ungewöhnlich anspruchsvolle Konzeption ab. Sie erhellt an einer historischen Gestalt aus dem Spätmittelalter, wie im 19. Jahrhundert eine staatlich-monarchische und eine bürgerlich-kommunale Form von Geschichtskultur in enger Wechselbeziehung entstanden sind, untersucht alle geschichtskulturellen Handlungs- und Repräsentationsebenen, die an diesem Geschehen beteiligt waren und bezieht sie aufeinander. Sie analysiert die Akteure und ihre Motive, fragt nach den Adressaten und Wirkungen, sie verfolgt den Wandel der Erinnerung an Ludwig den Bayern bis zum Ende der Monarchie und grenzt sie von den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Formen ab, und konfrontiert die ordnungspolitischen Vorstellungen, die in den geschichtskulturellen Inszenierungen vermittelt werden sollen, mit der jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Situation, um die Wirkungsabsichten der Erinnerungsakteure einschätzen zu können.

Murr unterscheidet im Anschluss an Jörn Rüsen drei Dimensionen von Geschichtskultur - eine kognitive, eine ästhetische und eine politische. Um sie erfassen zu können, betrachtet er ein weites Spektrum unterschiedlicher Quellenarten, die es erlauben, auch nach den medialen Besonderheiten in der Vielfalt geschichtskultureller Inszenierungen zu fragen: Publizistik, populäre und wissenschaftliche Geschichtsschreibung, historische Schauspiele, bildlich-künstlerische Überlieferungen. Zu den gedruckten Quellen treten ungedruckte aus 25 staatlichen, kommunalen, kirchlichen und privaten Archiven hinzu.

Als im frühen 19. Jahrhundert der Wittelsbacher Kaiser Ludwig zur historischen Gründergestalt des jungen bayerischen Königreichs erhoben wurde, diente diese Geschichtskonstruktion dazu, der Königswürde von Napoleons Gnaden eine lange Vorgeschichte zu stiften. Man sprach vom "erneuerten Königtum", aber auch von der "Wiedergeburt der Nationalehre" (67). An der 1809 errichteten Kaisersäule bei Puch arbeitet Murr den erinnerungsgeschichtlichen Wandel von "einem geistlichen zu einem säkularen Gedächtnis" (178) heraus. Die Denkmalsinitiative ging auf das Kloster Fürstenfeld zurück, das den Kaiser als frommen und rechtgläubigen Kirchenförderer erinnern wollte. Die staatlich-monarchische Aneignung dieser Initiative machte daraus "das erste bayerische Nationaldenkmal" (85). Ludwig der Bayer wurde als "libertatis Germaniae defensor" und als Monarch gewürdigt, dessen Herrschaft im Vertrauen des Volkes wurzelt. Monarchie und Volk, verstanden als bayerische Nation, wurden aufeinander bezogen.

Diese Deutung zieht sich durch das gesamte 19. Jahrhundert und ließ Ludwig zu einer zentralen, vielfältig verwendbaren Gründerfigur in der bayerischen Geschichtskultur werden. Zeitgebunden waren hingegen zwei Merkmale, die in der Frühphase der Erinnerungskonstruktion dem neuen Bayern, das aus dem Ende des Alten Reiches hervorgegangen war, politische Legitimation verleihen sollten: ein scharfer Anti-Austriazismus, der das Bündnis mit Napoleon zum bayerischen Staats- und Nationalinteresse erklärte, und eine nicht minder scharfe antipäpstliche Haltung, die die Staatskirchenpolitik Montgelas' unterstützte. Die Geschichtsschreibung und historische Publizistik stilisierten Kaiser Ludwig zum "historisch-militärischen Gründungsvater" (116), der in seinen Schlachten gegen Österreich 1313 und 1322 die bayerische Nation erschaffen habe. Als die politische Konstellation sich änderte und Österreich vom Kriegsgegner zum Koalitionspartner wurde, erhielt das Ludwig-Bild eine neue Ausrichtung: nicht mehr gegen Österreich, sondern auf Versöhnung mit ihm gerichtet. Der Stammvater der Bayern wurde zum Deutschen. Unter Ludwig I. (1825-1848) verlor die staatliche Erinnerungspolitik um den kaiserlichen Ahnherrn die antipäpstliche Stoßrichtung - später, in der Zeit des Kulturkampfes, ließ sie sich revitalisieren - und verband den bayerischen Staatswillen mit dem Bekenntnis zur Einheit der deutschen Kulturnation. Ludwig der Bayer ließ sich auch einsetzen, um innerhalb des bayerischen Staates einen Regionalismus zu fördern, der die neubayerischen Gebiete in eine gesamtbayerische Geschichtskultur einband und damit zur inneren Staatsbildung in Bayern, einem der Hauptgewinner der Staatszerstörung in der napoleonischen Ära, beitrug. Das zeigt Murr an Bildprogrammen ebenso wie an der Publizistik und der Geschichtsschreibung, an der staatlich-monarchischen und an der bürgerlich-kommunalen Erinnerungspolitik.

Letzterer ist ein umfangreiches Kapitel gewidmet, das die Aufmerksamkeit aller verdient, die sich mit den Beziehungen zwischen Monarchie und Bürgertum beschäftigen. Wie Ludwig der Bayer zum Urbild des Bürgerkönigs im 19. Jahrhundert avancierte und welche Erwartungen damit auf Seiten der Bürger und Kommunen verbunden waren, untersucht Murr vor allem an der ehemaligen Reichsstadt Nürnberg und an der altbayerischen Landstadt Landshut, so dass er die kommunale Erinnerungspolitik an Stadttypen mit unterschiedlichen historischen Traditionen analysieren kann.

Ehemalige Reichsstädte - neben Nürnberg werden vergleichend auch Augsburg, Regensburg und Kaufbeuren betrachtet - konstruierten in ihrer Erinnerungspolitik ein Geschichtsbild, das eine enge wechselseitige Beziehung zwischen ihnen und Ludwig zeichnete und damit Erwartungen an den gegenwärtigen Staat und seinen Monarchen formulierte. Die Beziehungen zwischen den Reichsstädten und Ludwig dem Bayern wurden als Tausch entworfen: Leistung und Gegenleistung entsprachen sich. Die Städte sahen sich nicht als Untertanen, sondern als Partner, die dem Monarchen etwas zu bieten hatten und deshalb von ihm gefördert wurden. Vor allem boten sie militärische Hilfe. Diese "bellizistische Dimension bürgerlicher Erinnerung" (318) - gerichtet gegen den äußeren Gegner, aber ohne eindeutiges Feindbild - dominierte noch stärker in der Landshuter Erinnerungsgeschichte, deren Kern die Schlacht bei Gammelsdorf (1313) bildete. Es entwickelte sich ein Gammelsdorf-Kult, in dem "das landstädtische Bürgertum zu einem kollektiven Heros" (396) aufstieg, der den Monarchen und das bayerische Vaterland mit militärischer Tat rettete.

Im Zentrum der bürgerlichen Erinnerungspolitik stand die "Treue". Sie verband die staatlich-monarchische und die bürgerlich-kommunale Geschichtskultur. Dieses Motiv zieht sich durch alle Formen und Medien der Erinnerung, die Murr betrachtet. Es konnte unterschiedlich gedeutet werden und auf Seiten der Demokraten auch mit starker Opposition gegen die staatliche Politik einhergehen. Die Analyse der Bedeutung von "Treue" für die gesellschaftlichen Selbstbilder, Zukunftserwartungen und Handlungsanweisungen, die in der Geschichtskultur um Ludwig den Bayern sichtbar werden, gehört zu den Glanzstücken dieses vorzüglichen Werkes.

Es bietet Aufschlüsse keineswegs nur für die bayerische Landesgeschichte. Wer sich mit Staats- und Nationsbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert befasst, wird ebenso fündig wie derjenige, der sich für die Deutungskämpfe in der wissenschaftlichen und populären Geschichtsschreibung interessiert. Vor allem aber führt es methodisch präzise und theoretisch reflektiert in die interdisziplinäre Praxis, die für die Analyse von Geschichtskultur, ihren Intentionen und Wirkungen notwendig ist.

Rezension über:

Karl Borromäus Murr: Das Mittelalter in der Moderne. Die öffentliche Erinnerung an Kaiser Ludwig den Bayern im Königreich Bayern (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte; Bd. 156), München: C.H.Beck 2008, CXIX + 612 S., ISBN 978-3-406-10774-0, EUR 58,00

Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Karl Borromäus Murr: Das Mittelalter in der Moderne. Die öffentliche Erinnerung an Kaiser Ludwig den Bayern im Königreich Bayern, München: C.H.Beck 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/05/15405.html


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