sehepunkte 9 (2009), Nr. 5

Roman Rossfeld / Tobias Straumann (Hgg.): Der vergessene Wirtschaftskrieg

Während die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des Zweiten Weltkrieges seit den 1980er Jahren einen "Boom" erlebt und z.B. Fragen zur Produktivität und Technologie einzelner Branchen wie auch zur Organisation der Arbeits- und Kapitalmärkte in den Blick nimmt, sind vergleichbare Arbeiten zum Ersten Weltkrieg immer noch Mangelware. Dies erstaunt vor allem vor dem Hintergrund, dass die politische Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Ersten Weltkrieg insbesondere die nachfolgenden Regierungen der Weimarer Zeit wie auch des "Dritten Reichs" beschäftigte.

Obgleich Historiker sich bereits in den 1920er Jahren mit der Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkrieges unter ernährungs-, industrie- und organisationspolitischen Gesichtspunkten auseinandersetzten (13), wurde an diese Tradition nach dem Zweiten Weltkrieg, wohl auch wegen des in den ausgehenden 1960er Jahren zunehmenden an Dominanz gewinnenden strukturgeschichtlichen Paradigmas, nicht angeknüpft. Dabei ergibt sich eine besondere Relevanz des Betrachtungsgegenstandes aus der neuartigen 'Qualität' des Ersten Weltkrieges als erstem industrialisiertem 'totalen Krieg' in der Geschichte, eine Frage, die, zeitlich vergleichend, zuletzt auch die im März 2009 von der Franzens-Karl Universität Graz veranstaltete Konferenz zum Thema "Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert" aufgriff. [1] Neben der breiteren Auseinandersetzung mit der Geschichte von Kriegen, etwa unter mentalitäts- oder kommunikationshistorischen Gesichtspunkten [2], erlebt auch die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung zum Ersten Weltkrieg in jüngster Zeit ein 'Revival', wie z.B. die Arbeit von Stefanie van de Kerkhof [3] belegt, die sich mit den Strategien deutscher Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie im Ersten Weltkrieg befasst. Dennoch steht bislang eine übergreifende Synthesedarstellung zur Wirtschaft des Ersten Weltkrieges auf deutscher wie auch auf europäischer Ebene ebenso aus wie Branchen vergleichende unternehmenshistorische Analysen.

Umso erfreulicher, dass nun insbesondere aus der Sicht ehemals "neutraler Staaten" wie der Schweiz wichtige Forschungsimpulse ausgehen. Dies unterstreicht nicht nur die jüngst vorgelegte Arbeit von Sandro Fehr zur Stickstofffrage [4], sondern ebenso der hier anzuzeigende Sammelband, der sich mit der strategischen Bedeutung der Schweiz als Zulieferer- bzw. Umschlagmarkt für Rohstoffe im Ersten Weltkrieg befasst. Schon mit dem Titel greifen die Herausgeber Roman Rossfeld und Tobias Straumann das skizzierte Desiderat auf. Die Schweiz gehörte bereits um die Jahrhundertwende zu den am weitesten entwickelten und international am besten vernetzten Industriestaaten. In Branchen vergleichender Perspektive erläutert der Band, wie international tätige Schweizer Unternehmen auf die Veränderungen durch den Wirtschaftskrieg reagiert haben, welche Konsequenzen dies im Einzelnen für sie hatte und wie sie die sich anschließende Nachkriegskrise überwanden (49). Ein besonderes Augenmerk ruht dabei auf dem Grad der internationalen Verflechtung, was gerade vor dem Hintergrund der neuen Globalisierungsdebatte nahe liegend erscheint.

Neben einer ausführlichen Einleitung der Herausgeber zur europäischen und Schweizer Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkrieges vereinigt der Band 16 Beiträge junger Schweizer Wirtschafts- und Sozialhistoriker, die z.T. auf Abschlussarbeiten an der Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Zürich zurückgehen. Neben bislang unveröffentlichten Quellen aus privaten Unternehmens- und Verbandsarchiven basieren die Studien auf Beständen des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel, des Schweizerischen Handels- und Industrievereins sowie des Schweizerischen Bundesarchivs. Branchenspezifisch gegliedert in die Rubriken "Textil-, Maschinen- und Elektroindustrie", "Uhren-, Metall- und Rüstungsindustrie", "Chemische und Pharmaindustrie", "Ernährungs- und Genussmittelindustrie" sowie "Banken und Versicherungen" gelingt dem Band auf der Ebene mikroökonomischer Fallbeispiele eine beeindruckende Zusammenschau zur Kriegswirtschaft eines neutralen Staates im Ersten Weltkrieg, mit allerdings abweichenden Ergebnissen für die einzelnen untersuchten Unternehmen.

So liefert Florian Adank, Historiker und Mitarbeiter der Credit Suisse in Zürich, einen Überblick über die Geschichte der Sulzer Unternehmungen AG in Winterthur. Er betont dabei die strategische Neuausrichtung des Unternehmens durch die im Krieg veränderten Absatzmärkte. Im Falle Sulzer hatte dies eine Ausweitung der Exporttätigkeit und eine nachhaltige Verstärkung der internationalen Verflechtung zur Folge (114f.). Mehrere Autoren, wie etwa Christian Koller in seinem Beitrag zu der Schweizerischen Industriegesellschaft Neuhausen, thematisieren die immer wieder gestellte Frage nach den "Kriegs- oder Friedensgewinnlern" unter den Schweizer Industrieunternehmen. Als "größten Kriegsgewinnler" bezeichnet Tobias Straumann die Schweizer Farbstoffindustrie und zeigt am Beispiel der Gesellschaft für chemische Industrie in Basel (Ciba) eindrucksvoll, warum die Produzenten in neutralen Kleinstaaten im Krieg hohe Gewinne erwirtschaften konnten. Durch den Wegfall der deutschen Konkurrenz, die bis dato praktisch den gesamten Weltmarkt beherrscht hatte, entstand eine große Angebotslücke, die die Ciba als "neutrales Unternehmen" ausfüllen konnte (313).

Auf die Schweizer Genuss- und Nahrungsmittelindustrie wirkte sich der Erste Weltkrieg unterschiedlich aus. Besaß er für die Schokoladenindustrie vielfach positive Effekte, wie Roman Rossfeld in seinem Beitrag betont (407), kam es beispielsweise bei Maggi, wie Annatina Seifert zeigen kann, durch Rohstoffmangel und Hetzkampagnen im Ausland zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Geschäftstätigkeit (374f.).

Für die Entwicklung des Schweizer Banken- und Versicherungssektors bedeutete der Erste Weltkrieg offenkundig einen wichtigen Impuls. So kann Malik Mazbouri am Beispiel des Schweizerischen Bankenvereins die Emanzipation der Schweizer Banken von der "Hegemonie ausländischer Zentren" (440) unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges verdeutlichen. Ebenso unterstreichen die Beiträge von Inglin und Bach zum Schweizer Versicherungswesen die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für den Aufstieg der Schweiz zum europäischen Standort der Finanzwirtschaft.

Insgesamt hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck. Die Beiträge, so disparat sie in ihrer methodischen Ausarbeitung und Ergebnisfindung auch sein mögen, liefern anhand von Fallstudien eine wertvolle Grundlage zur Erforschung der Schweizer Kriegswirtschaft. Indessen sind weitere, auch vergleichende Betrachtungen sowohl von makro- wie auch mikroökonomischer Seite wünschenswert, um eine Synthesebildung zu ermöglichen.


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu das Tagungsprogramm unter

http://www.bik.ac.at/pdf-dateien/Ver_Konf_krieg und wirtschaft_Web.pdf (Zugriff vom 15.3.2009).

[2] Siehe etwa zuletzt Neitzel, Sönke / Daniel Hohrath (Hgg.): Kriegsgräuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008. Keisinger, Florian: Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa? Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876-1913 (= Krieg in der Geschichte; Bd. 47), Paderborn 2008.

[3] Kerkhof, Stefanie van de: Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (=Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; Bd. 15), Essen 2006.

[4] Fehr, Sandro: Die "Stickstofffrage" in der deutschen Kriegswirtschaft und die Rolle der neutralen Schweiz (= Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte; Bd. 8), Nordhausen 2009.

Rezension über:

Roman Rossfeld / Tobias Straumann (Hgg.): Der vergessene Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg, Zürich: Chronos Verlag 2008, 548 S., ISBN 978-3-0340-0882-2, EUR 42,00

Rezension von:
Susanne Hilger
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Hilger: Rezension von: Roman Rossfeld / Tobias Straumann (Hgg.): Der vergessene Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg, Zürich: Chronos Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/05/14223.html


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