sehepunkte 9 (2009), Nr. 5

Holger Schmenk: Xanten im 19. Jahrhundert

Xanten, von der Tourismusindustrie heute als Römerstadt mit Archäologischem Park vermarktet, hatte den Schwerpunkt seiner 2000jährigen Geschichte nicht im 19. Jahrhundert. Aus dem Mittelalter stammt die Stiftskirche St. Viktor, bekannt auch durch die Gedenkstätte an Opfer des Nationalsozialismus, wie den selig gesprochenen Priester Karl Leisner. Holger Schmenk schließt für das 19. Jahrhundert die Lücke in einer mehrbändigen Stadtgeschichte, verantwortet von der Universität Duisburg-Essen und der Stadt Xanten. In diesen Kontext ordnet sich die Dissertation Holger Schmenks ein. Fünf thematisch in sich geschlossene Aspekte der Xantener Geschichte behandelt der Autor.

Im Zug eines wachsenden Interesses an Kunstdenkmälern in preußischer Zeit rückte auch der St. Viktordom in den Blickpunkt. Nachdem 1842 die Bauarbeiten am Kölner Dom wieder aufgenommen worden waren, starteten der preußische Staat und ein lokaler Dombauverein eine Initiative zur Restauration der Xantener Kirche. Fraglich war die Art der Renovation: möglichst puristisch in einem Architekturstil - oder unter Beibehaltung der sich im Gebäude spiegelnden historischen Entwicklungen. In Xanten wurde die Restauration durch Kreisbaumeister Carl Cuno durchgeführt; es war sein einziger größerer Bauauftrag. Er sah sich heftiger Kritik von katholischer Seite ausgesetzt, vor allem durch den Jesuiten Stephan Beissel.

Ein zweiter Aspekt, den Schmenk ausführt, ist die Entwicklung der Wirtschaft Xantens im 19. Jahrhundert. Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Handel werden in zwei zeitlichen Schnitten untersucht, im Vergleich zwischen den 1830er und 1860er Jahren. Xanten war in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine durch kleine Handwerksbetriebe geprägte, im Handel weitgehend auf landwirtschaftliche Produkte konzentrierte Kleinstadt. Einzelne Industriebetriebe (Schuhherstellung) siedelten sich erst nach 1870 an. Diese Entwicklung wurde durch den Anschluss an die Eisenbahn seit 1878 verstärkt. Der Bevölkerungsanstieg verlief kontinuierlich, wenn auch ohne große Einschnitte (1826: 3031, 1904: 3777 Einwohner). Über 90 % waren Katholiken, die jüdische Minderheit betrug zwischen 40 und 100 Personen.

Im Ausbau des höheren Schulwesens zeigten sich dauerhafte Auseinandersetzungen zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat. Die Schließung der katholischen Rektoratsschule im Kulturkampf war ein Signal in diese Richtung. Schmenk konstatiert für Xanten eine ultramontane Haltung der Kleriker. Sie förderten Wallfahrten und Prozessionen und führten 1886 seit langem wieder die so genannte Viktorstracht als Regionalwallfahrt durch. In der Propaganda wurden die Katholiken durch die lokale Zeitung "Bote für Stadt und Land" sowie durch ein nach einigen Anlaufschwierigkeiten gut ausgebautes katholisches Vereinsnetz unterstützt.

Schmenk schließt seine Untersuchung mit einem Kapitel über einen angeblichen Ritualmord aus dem Jahr 1891. Die "Buschhoff-Affäre" ordnet er in den Antisemitismus der Kaiserzeit ein und verbindet ihn mit einer judenfeindlichen Haltung der katholischen Kirche seit dem Mittelalter. In der Affäre, die mit einem Freispruch endete, sieht er "den Beginn der Vermischung des latenten, tief verwurzelten, teils religiös bedingten Antijudaismus einerseits und professioneller antisemitischer Agitation auf Basis pseudowissenschaftlicher Erkenntnisse andererseits" (375).

Die fünf Kapitel seiner Dissertation verbindet Schmenk mit dem Konzept des "dynamischen Wandels". Er will damit deutlich machen, dass im langen Jahrhundert zwischen der Französischen Revolution und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs grundlegende Veränderungen politischer, gesellschaftlicher, kirchlicher und wirtschaftlicher Art passierten. Es geht Schmenk dabei nicht in erster Linie um die Veränderungen in der Mentalität von Personen und Personengruppen, sondern um strukturellen Wandel. In den von ihm gewählten Bereichen des Umgangs mit Denkmälern, der wirtschaftlichen und schulischen Entwicklung, den Auswirkungen konfessioneller Milieubildung und manifest gewordener religiöser Stereotype glaubt er diesen dynamischen Wandel festmachen zu können. Nach der Lektüre bleiben jedoch Zweifel, ob er dafür den richtigen Untersuchungsgegenstand gewählt hat. Xanten im 19. Jahrhundert ist eben kein Beispiel für die Dynamik dieser Jahrzehnte. Bei aller Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich bleibt Xanten doch die beschauliche Kleinstadt vom Anfang des Jahrhunderts. Die erdrückende Mehrheit der katholischen Bevölkerung lässt selbst die Kulturkampfzeit relativ glimpflich vorübergehen, vor allem wenn man Xanten mit den benachbarten Kreisen Kempen und Geldern vergleicht, für die Eleonore Föhles die Wirkungen herausgearbeitet hat. Einzig die Ritualmordaffäre von 1891 hebt Xanten aus dem katholischen Mainstream heraus. Doch scheint es sich hier im Grunde genommen um eine Form von Sozial- und Nachbarschaftsneid gehandelt zu haben. Für den Rezensenten bleibt als Fazit: Die Studie von Holger Schmenk bietet einen detaillierten Einblick in eine niederrheinische Kleinstadt, in der während des 19. Jahrhunderts ein langsamer Wandel zu Industrie und Tourismus sowie zu einem selbstbewussten Katholizismus stattgefunden hat. Die Dynamik dieses Jahrhunderts findet man freilich eher anderswo.

Rezension über:

Holger Schmenk: Xanten im 19. Jahrhundert. Eine rheinische Kleinstadt zwischen Tradition und Moderne, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 432 S., 22 Abb., ISBN 978-3-412-20151-7, EUR 34,90

Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Holger Schmenk: Xanten im 19. Jahrhundert. Eine rheinische Kleinstadt zwischen Tradition und Moderne, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/05/14200.html


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