Rezension über:

Hubert Weitensfelder: "Römlinge" und "Preußenseuchler". Konservativ-Christlichsoziale, Liberal-Deutschnationale und der Kulturkampf in Vorarlberg, 1860 bis 1914 (= Österreich Archiv. Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien: Verlag für Geschichte und Politik 2008, 258 S., ISBN 978-3-205-77798-4, EUR 29,90
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Rezension von:
Matthias Opis
Styria Medien AG
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Opis: Rezension von: Hubert Weitensfelder: "Römlinge" und "Preußenseuchler". Konservativ-Christlichsoziale, Liberal-Deutschnationale und der Kulturkampf in Vorarlberg, 1860 bis 1914, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/14708.html


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Hubert Weitensfelder: "Römlinge" und "Preußenseuchler"

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Helmut Rumpler hat die Parlamente und Landtage der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als "hohe Schule der Demokratie" bezeichnet und davon jene politischen und kulturellen Milieus unterschieden, "die vor und jenseits der organisierten Politik angesiedelt waren". In der hier angezeigten regionalgeschichtlichen Studie beschreibt Hubert Weitensfelder die Entstehung und Transformation von zwei dieser Gesinnungsgemeinschaften der jungen Zivilgesellschaft, die in der politischen "Grundschule" aufeinander trafen, wo man in Vereinen und Zeitungen "lernte und übte, was man in der großen Politik brauchte". [1]

Einleitend gibt der Autor einen knappen Abriss der sozioökonomischen Situation Vorarlbergs im Untersuchungszeitraum. Das "Ländle" war bis in die 1880er-Jahre verkehrstechnisch vom Rest Cisleithaniens abgeschnitten, erst die Inbetriebnahme der Arlbergbahn 1884 stellte eine dauerhafte Verbindung her. Wichtige Impulse erfuhr das gemischt agrarisch-industrielle Vorarlberg aus dem süddeutsch-schweizerischen Raum, ein Gebiet, das seinerseits zum Ziel vorwiegend saisonaler Arbeitsmigration wurde. Vor allem die Textilindustrie und das Textilgewerbe drückten der Region ihren Stempel auf. Die von Weitensfelder dokumentierten ökonomischen Kennzahlen belegen eine spezifische Situation, die signifikante Abweichungen vom österreichischen Durchschnitt aufweist: im Jahr 1910 waren 44,1% der Erwerbstätigen in Industrie und Gewerbe tätig (Cisleithanien gesamt: 26,5%), 31,6% entfielen auf die Land- und Forstwirtschaft (Cisleithanien gesamt: 48,4%). In Vorarlberg fehlten in der sozialen Pyramide die Extreme: Hochadel und hoher Klerus waren ebenso wenig vertreten wie ein verarmtes, entwurzeltes Industrieproletariat, da die meisten Arbeiter über etwas Grund und eine eigene Wohnstätte verfügten. Die Kombination von Landwirtschaft und Saisonarbeit (vor allem im Stickerei-Gewerbe) war ein gängiges Erwerbsmodell.

Gleichwohl schlug das Land in politischer Hinsicht keinen Sonderweg ein. Als Hintergrundfolie seiner Darstellung skizziert Weitensfelder zunächst die politische Entwicklung in den übrigen Alpenländern der Habsburgermonarchie. Mit geringfügigen zeitlichen Abweichungen formierten sich seit den 1860er-Jahren überall das liberale und konservative Lager, eine Entwicklung, für die vor allem das Vereinsgesetz 1867 einen entscheidenden Katalysator darstellte. In dieser Phase wurde auch das latente Spannungsverhältnis zwischen liberal dominiertem Staat und katholischer Kirche akut: Im Ringen um das Monopol der Weltdeutung - "Verfassung oder Konkordat?" - wurden mit den so genannten "Maigesetzen" von 1868 Fakten geschaffen, die den kirchlichen Einfluss begrenzten.

Das Beispiel Vorarlbergs zeigt jedoch, wie schnell der liberale Frühling mancherorts wieder zu Ende ging. Mit den Wahlen zum Landtag 1870 übernahmen die Konservativen die politische Macht im Land vor dem Arlberg und gaben diese bis zum Ende der Habsburgermonarchie nicht mehr ab; die drei Städte Bregenz, Feldkirch und Bludenz blieben noch bis 1909/10 liberal, danach wurden auch die beiden zuletzt genannten Kommunen vom politischen Gegner regiert. Selbst in den industrialisierten Zonen, wo der "Fabrikantenliberalismus" durch die Patronage eine starke Position behauptete, musste sich dieser einer harten Konkurrenz erwehren.

Wie prompt sich die katholisch-konservative Bewegung die vom Konstitutionalismus ermöglichten Instrumente für die Durchsetzung der eigenen Interessen aneignete, zeigt die Welle der Gründungen von "Kasinos" nach badischem Vorbild. In den Jahren nach 1867 entstanden insgesamt 14 solcher politischen Zusammenschlüsse mit Schwerpunkten im Rheintal und im Bregenzerwald. Früher als in anderen Kronländern der Monarchie wurde 1866 das "Vorarlberger Volksblatt" als publizistisches Sprachrohr der katholisch-konservativen Bewegung gegründet. Diese Zeitung wurde zunächst ausschließlich von Priestern finanziert und von geistlichen Redakteuren geschrieben. Die Kleriker erwiesen sich als entscheidende Multiplikatoren und Manager des katholisch-konservativen und später auch christlich-sozialen Lagers; sie sorgten für eine enge Verzahnung von katholischem Vereins- und Pressewesen.

Eine vergleichbare Geschlossenheit und Schlagkraft hatten weder die liberalen Assoziationen noch die liberalen Zeitungen aufzuweisen. Die Mitglieder liberaler Vereine wie etwa des 1868 in Feldkirch begründeten "Vereins der Verfassungsfreunde" oder des im darauf folgenden Jahr in Dornbirn entstehenden "Konstitutionellen Vereins" rekrutierten sich aus der relativ schmalen sozialen Schicht des Bürgertums der Städte und größeren Ortschaften. Diese Klientel war rein zahlenmäßig limitiert und betonte überdies die Abgrenzung von der Masse des einfachen Volkes. Die Wohlhabenden unter ihnen betrieben eine "Honoratiorenpolitik mit philanthropischem Charakter", wie etwa der Fabrikant Josef Andreas von Tschavoll, der während seiner Zeit als Feldkircher Bürgermeister der Stadt einen "Park mit Pavillon, Gaslampen, einem Brunnen und eisernen Sitzbänken" schenkte (121).

Dieses Honoratiorensystem führte zu einer Zersplitterung der liberalen Kräfte, die sich durch die Rivalitäten zwischen einflussreichen Familien und einzelnen Kommunen noch potenzierte. Erst um die Jahrhundertwende, nach dem vollzogenen Übergang vom Liberalismus zum radikaleren Deutschnationalismus, erwiesen sich der Antisemitismus und die Propagierung des Deutschtums als neue ideologische Bindemittel zwischen den diversen lokalen Milieus, die damit zumindest partiell überwölbt werden konnten. Ähnlich war die Situation im Pressewesen; auch hier gelang es den Liberalen bzw. Deutschnationalen nicht, analog zum "Vorarlberger Volksblatt" ein Organ herauszubringen, mit dem sich das gesamte Lager identifizieren konnte.

Detailliert beschreibt Weitensfelder die Binnenstrukturen und Entwicklungsgeschichte beider Lager, vor allem ihre schrittweise Transformation und Integration in die politischen Massenbewegungen der Christlichsozialen und Deutschnationalen im Fin de siècle. Im letzten Hauptkapitel des Buches widmet er sich dann den thematischen Feldern, auf denen die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über das öffentliche (und teilweise auch private) Leben ausgetragen wurden. Ein erster großer Bereich umfasste die Demonstrationen des Katholischen - Wallfahrten, Prozessionen, Volksmissionen, Kirchgang und Sonntagsheiligung - und die laizistischen Kontrapunkte: Zivilehe und Zivilbegräbnis. Ein zweiter Kampfboden wurde in der Auseinandersetzung um Literatur, Kunst und Wissenschaften eröffnet, wobei die Rekrutierung der akademischen Eliten bereits in den Mittelschulen einsetzte. So gab es bereits früh deutschfreiheitliche Verbindungen an Gymnasien in Dornbirn, Bregenz und Feldkirch, und auch auf den Universitäten in Graz und Innsbruck, wo die Vorarlberger vorzugsweise studierten, dominierten deutschnationale Verbindungen das Korporationswesen. Gegen diese Übermacht im akademischen Milieu konnten sich die katholischen Verbindungen nur mühsam einen Platz erobern. Das Kulturkampf-Thema schlechthin betraf allerdings die Schule, vor allem den Kampf der Katholisch-Konservativen gegen die Auswirkungen des Reichsvolksschulgesetzes von 1869 sowie die liberale Kritik an den katholischen Ordensschulen.

Insbesondere in diesen Passagen kann Weitensfelder mit seiner materialgesättigten Darstellung überzeugen. Die Konfliktgeschichte zwischen den beiden politischen Lagern gewinnt eine ganze Palette von Farben, Nuancierungen und Szenen, die auch Anschlüsse an später wieder aufflammende Diskurse während der Ersten Republik erkennen lässt. Auch die Beschreibung der Vorarlberger Vereinslandschaft im Untersuchungszeitraum fällt umfassend und detailgenau aus. Diese deskriptiven Stärken der Studie können allerdings ihre analytischen Defizite nicht kompensieren.

Formale Einwände betreffen etwa die Einordnung der Untersuchung in den Forschungskontext, die bis auf einige wenige Sätze im Vorwort (!) ebenso fehlt wie eine Beschreibung der verwendeten Quellen und Literatur, ein Katalog der leitenden Fragestellungen und eine ausführliche Beschreibung bzw. Problematisierung des Schlüsselbegriffs "Kulturkampf". Vor allem letzteres wiegt auch inhaltlich schwer, weil das von Weitensfelder gezeichnete, plastische Bild der Kulturkampfsituation ohne saubere Begrifflichkeit und brauchbaren Analyserahmen gleichsam in der Luft hängt. Welche Bedeutung der Begriff "Kulturkampf" im österreichischen Kontext im Unterschied zur Situation in Preußen hat (vgl. 17 f.) bleibt ebenso unscharf wie seine (womöglich?) spezifische Ausprägung in Vorarlberg. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemängeln, dass der Verfasser darauf verzichtet, das sozialdemokratische Lager in seine Untersuchung mit einzubeziehen, ohne diese Auslassung näher zu begründen. Nicht näher bestimmt bleibt auch die Formulierung "zweiter Kulturkampf", die Weitensfelder ausschließlich auf die neuerlichen Auseinandersetzungen über die "Schulfrage" im Jahr 1905 bezieht (vgl. 209). Die ganze "Schwankungsbreite" in der Terminologie offenbart schließlich die Zusammenfassung des Autors, in der es heißt, dass es angesichts der Vielfalt der Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern angebracht sei, von "Kulturkämpfen" statt von "Kulturkampf" zu sprechen (vgl. 233).

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Rezensent eine komplementäre Lektüre des hier angezeigten Werkes und des einschlägigen, vor allem analytisch exzellenten Beitrags von Hanns Haas im Grundlagenwerk zur Geschichte der politischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie 1848-1918. [2]


Anmerkungen:

[1] Helmut Rumpler: Vorwort, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. VIII/1. Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, XVII-XXI, Zitat XVIII.

[2] Hanns Haas: Politische, kulturelle und wirtschaftliche Gruppierungen in Westösterreich (Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg), in: ebd., 227-395.

Matthias Opis