sehepunkte 9 (2009), Nr. 4

Claudine Lautier / Dany Sandron: Antoine de Pise

Mittelalterliche Glasmalereitraktate sind an sich schon selten genug, um wie viel seltener sind dann erst jene, deren Autoren namentlich bekannt sind und von denen sich auch noch Glasmalereien erhalten haben. Der Fall ist das nur bei den 'memoria de fare fenestre de vetro', einer im ausgehenden 14. Jahrhundert entstandenen Handschrift, die sich in einer Abschrift aus der Entstehungszeit als zwölf Blatt umfassender 'libellus' in der Bibliothek des Sacro Convento di San Francesco in Assisi (ms. 692) erhalten hat. Geschrieben (oder diktiert) wurde er von einem 'mastro Antonio da Pisa', der möglicherweise mit einem in Pisaner Dokumenten als Glasmaler geführten Antonio di Ciomeo da Leccio identifiziert werden kann, der aber ziemlich sicher mit jenem in den Ausgabenbüchern der Florentiner Domopera verzeichneten 'magister Antonio da Pisa' identisch ist, von dem sich im Florentiner Domlanghaus ein Fenster erhalten hat.

Angesichts dieser ungewöhnlich glücklichen Umstände sollte man annehmen dürfen, dass die im Text beschriebenen Verfahren längst auf ihre Gültigkeit am Fenster hin überprüft wurden. Mitnichten! Die 'memoria de fare fenestre de vetro' liegt zwar seit 1882 mehrfach publiziert sowie seit 1991 auch faksimiliert vor und ist seit einiger Zeit bereits ins Portugiesische und ins Deutsche übersetzt, die Angaben, die der Traktat im Hinblick auf die Herstellung mittelalterlicher Glasmalerei macht, sind allerdings hinsichtlich ihres Informationsgehaltes in Bezug auf die Herstellung und Verarbeitung von Glas im Rahmen mittelalterlicher Glasmalereiproduktion bislang noch nicht annähernd hinreichend nutzbar gemacht worden. Dabei handelt es sich, wohlgemerkt, um die detaillierteste Beschreibung zu diesem Thema schlechthin, obendrein entstanden in einer Landschaft wie der Toskana, die - wenn man allein an den Florentiner Dom denkt - von einem Dokumentenreichtum gesegnet ist, von dem man was historische und kunsthistorische Anschaulichkeit anbetrifft nördlich der Alpen nur träumen kann.

Diese Ausgangssituation macht sich in seiner ganzen Breite der hier angezeigte, in Umfang und Ausstattung beachtenswerte Aufsatz-Band aus der Reihe 'Études' des französischen Corpus Vitrearum zunutze. Bereits im einführenden Beitrag thematisiert Claudine Lautier ("Le traité et l'Œuvre d'Antoine de Pise, maître verrier de la fin du Trecento") das gesamte Spektrum der Aufgabenstellung: Der Band fragt nach der Position der 'memoria de fare fenestre de vetro' im Kontext der übrigen mittelalterlichen Texte zur Herstellung von Glasmalerei; er fragt nach der Anwendbarkeit der darin beschriebenen Verfahren (nicht zuletzt auch hinsichtlich der seinerzeit verwendeten Werkzeuge und Materialien) und nach deren Gültigkeit speziell am Beispiel des von Antonio da Pisa ausgeführten Fensters neben der Porta della Mandorla im Florentiner Domlanghaus. Im Zentrum des Bandes stehen eine fotografische Reproduktion der 'memoria de fare fenestre de vetro' und seine auf die mittelalterliche Handschrift zurückgehende Transkription samt einer erstmals vorgelegten französischen Übersetzung, die der Publikation in Frankreich Nachhaltigkeit gewiss sein lässt. Von Relevanz weit über den französischen Sprachraum hinaus ist allerdings der Beitrag von Hervé Debitus, Claudine Lautier und Laurence Cuzange ("Le traité d'Antoine de Pise à l'épreuve de l'expérimentation"), der in bislang einzigartiger Systematik und vor allem in seltener Anschaulichkeit die Herstellung von Glasmalerei nach den Angaben Antonios Kapitel für Kapitel durchexerziert und mustergültig illustriert. Aus einer entschiedener historischen Perspektive als die in ihrer Ausführlichkeit vereinzelt vergleichbaren Anleitungen zur Herstellung moderner Glasmalerei und sehr viel detaillierter als die entsprechenden Einführungen in den kunsthistorischen Überblickswerken zur mittelalterlichen Glasmalerei, ist es dieser Beitrag, der das Buch zum Klassiker schlechthin macht.

Dieses erklärende, experimentierende und illustrierende Kapitel wird ergänzt durch Beiträge von Marie-Pierre Etcheverry über naturwissenschaftliche Untersuchungen zur Ätztechnik auf rotem Überfangglas ("Fabrication et gravure à l'acide des verres rouges"), von Annick Texier und Anna Zymla zur Zusammensetzung der Bleiruten ("L'alliage du cuivre et du plomb pour fabriquer les moules à plombs") und von Florence Gétreau über Orgelpfeifen ("Les recettes d'Antoine de Pise pour souder les tuyaux d'orgues"), der die Hinweise Antonios da Pisa zum Löten von Orgelpfeifen zum Ausgangspunkt nimmt. In diesem Zusammenhang ist auch der (weiter hinten im Band abgedruckte) Beitrag von Jean-Philippe Échard und Dominique Germain-Bonne zu erwähnen, der die Ergebnisse einer vor Ort im Florentiner Dom mit einer Hebebühne durchgeführten Röntgenfluoreszenzspektrometrie (RFA) präsentiert ("La composition des verres du vitrail d'Antoine de Pise"). Das seit einigen Jahren praktizierte Verfahren ist zwar wegen der nicht immer optimal aufbereitbaren Messpunkte nicht so präzise wie die energiedispersive Röntgenspektroskopie (EDX) im Labor, wo die Partikel an originaler Substanz vorher gründlich von Schmutz und Staub befreit werden können, sie hat aber den entscheidenden Vorteil, dass sie verlustfrei durchgeführt werden kann und das Objekt nicht ausgebaut werden muss. Analysen dieser Art geben, auch wenn sie in diesem speziellen Fall dem technikorientierten Ansatz des Bandes geschuldet sein mögen, Anlass zu der Hoffnung, dass sie im Rahmen von Publikationen des Corpus Vitrearum zukünftig auch außerhalb der 'Études'-Reihe Anwendung finden, weil sie sich nirgends angemessener anbringen lassen, weil der Wert solcher Messergebnisse zunimmt, je mehr Vergleichswerte vorliegen, und weil es am Ende die Geisteswissenschaften sind, die sie mit den historischen Zusammenhängen unterfüttern und damit erst eigentlich zum Sprechen bringen können.

Den naturwissenschaftlichen Beiträgen folgt ein historisch-kunsthistorischer Teil, der von Karin Boulangers Darlegungen über mittelalterliche Glasmalereitraktate eingeleitet wird ("Les traités médiévaux sur le vitrail"). Als ausgewiesene Spezialistin auf diesem Gebiet handelt die Autorin die fünf bekannten mittelalterlichen Glasmalereitraktate mit dem erforderlichen theoretischen Rüstzeug bewaffnet souverän und intelligent ab, um im Anschluss daran den Versuch zu unternehmen, das künstlerische Profil Antonios von Pisa im Vergleich mit den übrigen Langhausfenstern des Florentiner Doms herauszuarbeiten ("Le vitrail d'Antoine de Pise"). Warum Antonios Fenster bei einem solchen Ansatz ein bisschen beliebig wirken muss, zeigt der anschließende Beitrag von Claudine Lautier, in dem die Übereinstimmungen mit dem Œuvre des für den Entwurf verantwortlichen Agnolo Gaddi überzeugend vor Augen geführt werden. Einmal mehr wird hier deutlich, wie groß der Einfluss des entwerfenden Künstlers und wie gering der Gestaltungsspielraum des Glasmalers in der italienischen Glasmalereiproduktion war. Die schlagenden Vergleiche mit dem Gaddi-Œuvre sind eingebettet in einen Überblick über die Glasmalerei in Florenz zur Zeit Antonios von Pisa ("La peinture sur verre à Florence au temps d'Antoine de Pise"), der sich ansonsten, wie auch der Beitrag von Dany Sandron über die Baugeschichte des Florentiner Doms ("La cathédrale Santa Maria del Fiore: un chantier séculaire"), wie eine Konzession an ein breiteres Publikum ausnimmt und den eigentlich mit Impetus verfassten Band ein bisschen beliebig macht. Und den Beitrag von Dany Sandron über den Werdegang Antonios von Pisa ("La carrière d'Antonie de Pise") hätte man sich vielleicht am Anfang des Buches gewünscht, weil er der Person, um die es geht, im Dickicht der Quellen und im Zerrspiegel der Sekundärliteratur angemessen Kontur verleiht.

Außerordentlich wertvoll ist schließlich der Annex, in dem die übrigen fünf bekannten mittelalterlichen Traktate zur Herstellung mittelalterlicher Glasmalerei, die Kapitel 17-29 aus Theophilus' 'De diversis artibus', der Francesco Formica zugeschriebene Traktat in Siena, der kurze Text in der Klosterbibliothek in Sagan sowie die entsprechenden Kapitel aus dem Nürnberger Kunstbuch und der Nürnberger Rezeptsammlung zusammengestellt sind - und zwar alle dankenswerterweise im originalen Wortlaut und in einer französischen Übersetzung (an denen außer den Autorinnen und Autoren Daniela Gallo, Katia Bienvenu und Brigitte Kurmann-Schwarz mitgewirkt haben). Abgesehen von Theophilus' längst gründlich ediertem Traktat allesamt eher abgelegen publiziert, ist es besonders dieser Anhang, der den Band zu einem unverzichtbaren Handbuch für alle macht, die sich mit mittelalterlicher Glasmalerei und deren Herstellung beschäftigen. Auf festerem und matterem Papier gedruckt und damit von den Essays erkennbar abgesetzt, trägt er auch optisch zum gelungenen Erscheinungsbild des Bandes bei, der großzügig gesetzt und durchgängig mit brillanten Farbreproduktionen illustriert, mit seinen zwei unterschiedlich farbigen Lesezeichenbändchen nicht zuletzt auch den bibliophilen Leser erfreut.

Rezension über:

Claudine Lautier / Dany Sandron: Antoine de Pise. L'art du vitrail vers 1400 (= Corpus Vitrearum France; Études VIII), Paris: Éditions du Comité des Travaux Historiques et Scientifiques 2008, 383 S., ISBN 978-2-7355-0659-0, EUR 96,00

Rezension von:
Frank Martin
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Frank Martin: Rezension von: Claudine Lautier / Dany Sandron: Antoine de Pise. L'art du vitrail vers 1400, Paris: Éditions du Comité des Travaux Historiques et Scientifiques 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/04/15837.html


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