Rezension über:

Douglas Smith: The Pearl. A True Tale of Forbidden Love in Catherine the Great's Russia, New Haven / London: Yale University Press 2008, xiv + 328 S., ISBN 978-0-300-12041-7, USD 35,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Angelika Schmähling
Freising
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Angelika Schmähling: Rezension von: Douglas Smith: The Pearl. A True Tale of Forbidden Love in Catherine the Great's Russia, New Haven / London: Yale University Press 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/14281.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Douglas Smith: The Pearl

Textgröße: A A A

Douglas Smith erzählt die Lebensgeschichte von Nikolaj Petrovič Šeremet'ev und seiner Geliebten Praskov'ja Ivanovna Kovaleva. Es handelt sich um eine für das Russland des ausgehenden 18. Jahrhunderts unerhörte Affäre: Šeremet'ev, einer der reichsten Adeligen seiner Zeit, heiratete eine Leibeigene, die er zur Sängerin und Schauspielerin hatte ausbilden lassen. Smith zeichnet mit seiner Monographie ein reich ausgeschmücktes Bild vom Leben in einem russischen Adelshaus und verbindet damit eine kurze Geschichte des Theaters in Russland.

N. P. Šeremet'ev (1751-1809) nahm als Stammhalter eines der bekanntesten russischen Adelsgeschlechter einen hohen Rang am Hof Katharinas II. ein. Ohne durch besondere Aufgaben gebunden zu sein - erst Paul I. verpflichtete ihn als Haushofmeister - konnte er sich ganz seiner Leidenschaft, dem Theater, widmen. Mit immensem finanziellem Aufwand errichtete er auf seinem Landsitz Kuskovo und später in Ostankino eine der besten und modernsten Bühnen im ganzen Land.

Praskov'ja Kovaleva (ca. 1768-1803) war die Tochter eines leibeigenen Schmiedes und wuchs zunächst in sehr einfachen Verhältnissen auf. Mit acht Jahren kam sie als Dienerin in den Haushalt N. P. Šeremet'evs und wurde als Sängerin entdeckt. Schon bald wurde sie die Geliebte des Fürsten und nach Jahren einer unehelichen Beziehung schließlich seine Ehefrau.

Smith baut sein Buch streng chronologisch auf. Zu Beginn ist dieses Konzept sehr wirksam, da sich in der Jugend des Fürsten und der Leibeigenen zwei Pole der russischen Gesellschaft gegenüberstehen. Bald aber zeigt die Darstellung Längen. Allzu ausführlich erzählt Smith beispielsweise die Handlung der einzelnen Opern nach, die im Haus Šeremet'evs aufgeführt wurden. Die Beschreibung besonders prachtvoller Inszenierungen illustriert zwar, wie der Fürst den Zarenhof kopierte, die Interpretation des Geschilderten kommt aber zu kurz. Streckenweise fühlt man sich sogar an das Skript zu einem Historienfilm erinnert. Details wie das Donnergrollen bei der Abfahrt Katharinas II. vom Landsitz Kuskovo werfen unwillkürlich die Frage auf, woher der Autor solches Wissen bezieht. Daran zeigen sich die Schwierigkeiten der Herangehensweise.

Die wenigen autobiographischen Quellen, auf die sich Smith stützen kann, sind die Tagebücher N. P. Šeremet'evs. Von Praskov'ja Kovaleva selbst gibt es keine Aufzeichnungen. Smith hat sich daher zu einem empathischen Zugang entschieden und schöpft aus dem Besuch der Landsitze Kuskovo und Ostankino ebenso wie aus einer Locke von Praskov'jas Haar (7-8). Auch wenn er betont, Spekulationen stets mit einem "vielleicht" gekennzeichnet zu haben ("I have delivered all my findings [...] with a qualifying perhaps, a cautionary maybe"; 8), ist die Grenze zwischen Ausschmückung und belegbarer Tatsache an vielen Stellen nicht zu erkennen. Ein zentrales Dokument enthüllt Smith erst am Ende des Bandes. Es ist ein Brief, in dem N. P. Šeremet'ev seinem Sohn von seiner Liebe zu Praskov'ja schreibt und der seinen Entschluss darlegt, die Geliebte entgegen aller gesellschaftlicher Vorurteile zu heiraten (255-256). Erst an diesem Punkt wird klar, worauf Smith beispielsweise die zuvor mehrfach erwähnte Aussage nimmt, Praskov'ja habe schwere Schuldgefühle wegen ihres unehelichen Verhältnisses gehabt.

Da sich Smith auf die Doppelbiographie konzentriert, bleibt nur wenig Raum für Hintergrundberichte. In der Einführung (prelude) geht er kurz auf die Rezeption der ungewöhnlichen Liebesgeschichte ein. Volkslieder besangen das Märchen vom Aschenbrödel, das den Prinzen heiratete; die sowjetische Lesart betonte demgegenüber den Triumph des bäuerlichen Genies. Zwei Zwischenspiele (interlude) widmen sich recht knapp dem Leibeigenen-Theater (97-109) und dem Schicksal leibeigener Schauspielerinnen (171-178). Die Coda schließlich thematisiert die weitere Geschichte des Geschlechts der Šeremet'evs. Das Erbe Praskov'jas - ihre Liebe zur Musik und zum Theater - findet Smith auch bei ihren Nachfahren.

All diese Themen schneidet Smith an, ohne sie ausbauen zu können. Die Auseinandersetzung mit der Leibeigenschaft zieht sich allerdings durch die ganze Arbeit. Zu Recht weist Smith auf das Motiv der vertauschten Rollen hin: Leibeigene treten auf der Bühne als Könige auf. Umgekehrt engagierte Fürst Šeremet'ev eine adelige Laientruppe, die seinen unfreien Schauspielern vorspielen sollte (115). Während Stücke einstudiert wurden, die vom Geist der Aufklärung geprägt waren, lebten die leibeigenen Tänzer und Sänger in der Realität im goldenen Käfig. Sie waren gegenüber anderen Bedienten privilegiert und genossen eine hervorragende Ausbildung, gleichwohl waren sie aber dem Willen ihres Herrn ausgeliefert.

So seltsam diese Umstände auch erscheinen, geht Smith in seiner Interpretation doch sehr weit. Auf der Bühne habe Praskov'ja für kurze Zeit ihren sozialen Stand vergessen und in eine bessere Welt fliehen können (64; 82). Die Frage ist allerdings, ob die Sängerin sich ihrer Unfreiheit tatsächlich so deutlich bewusst war. Einerseits war sie in dieses Gesellschaftssystem hineingeboren; andererseits wurde sie im Hause Šeremet'evs wie eine Adelige erzogen, so dass viele soziale Unterschiede für sie schon aufgehoben waren. Möglicherweise schreibt Douglas Smith seiner Protagonistin also etwas zu viel Freiheitsliebe und demokratisches Gefühl zu.

Smith spricht von der Macht der Liebe, die gesellschaftliche Konventionen überwindet (9). Letztlich zeigt seine Darstellung aber, dass N. P. Šeremet'ev bei aller Liebe die Standesgrenzen nur äußerst zögerlich hinter sich ließ. Er lebte jahrelang mit Praskov'ja zusammen, bevor er sich dazu entschied, sie in die Freiheit zu lassen. Die Hochzeit folgte weitere drei Jahre später, nachdem er für Praskov'ja einen polnischen Adelstitel gekauft hatte. Auch dann hielt Šeremet'ev die Ehe noch geheim. Erst als Praskov'ja nach der Geburt ihres Sohnes im Sterben lag, informierte der Fürst den Zaren, um die Heirat nachträglich anerkennen zu lassen und den Erben zu legitimieren. Auf der anderen Seite sorgte Šeremet'ev Zeit seines Lebens konsequent für Praskov'jas Angehörige, verschloss also vor der Herkunft seiner Geliebten nicht die Augen. Diese Handlungsweise des Fürsten ist in ihrer Motivation nicht immer leicht nachzuvollziehen und erscheint widersprüchlich. Eine genauere Analyse und Reflexion wäre an vielen Stellen wünschenswert gewesen, fällt aber wiederum dem chronologischen Vorgehen zum Opfer. Der empathische Ansatz verleitet Smith zudem dazu, das Handeln seiner Protagonisten nachzuempfinden, ohne es erklären zu wollen.

Angelika Schmähling