sehepunkte 8 (2008), Nr. 3

Katja Wüstenbecker: Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg

Die bei Peter Krüger in Marburg entstandene Dissertation ist als "detaillierte Vergleichsstudie" (17) angelegt. Sie will untersuchen, "wie sich die staatliche und gesellschaftliche Mobilisierung der amerikanischen Heimatfront im Ersten Weltkrieg auf die Deutsch-Amerikaner auswirkte" (13). Dabei sucht die Verfasserin auch nach einer Antwort auf den Forschungsstreit, ob der Erste Weltkrieg das vollständige Verschwinden (ethnic disappearance) des Deutsch-Amerikanertums verursacht habe oder ob er nicht genau umgekehrt gerade zu einer Stärkung der deutschen Identität geführt habe (ethnic survival).

Die Antwort, um es vorwegzunehmen, ist eine differenzierte, und dies ergibt sich daraus, dass sich die Studie im Hinblick auf die Quellengrundlage, die Methodik und die Fragestellung, von den bisherigen Forschungen zu diesem Thema in mehrfacher Hinsicht abhebt:

1. Die Autorin stellt ihre Untersuchung auf eine erheblich breitere Quellenbasis, indem sie neben den nationalen Archiven in Washington zahlreiche Archive, Bibliotheken und Sammlungen in den Bundesstaaten Missouri, Ohio, Wisconsin, Minnesota und Indiana ausgewertet hat. Ergänzt wird ihr Material durch nicht weniger als 102 nationale wie regionale Zeitungen und Zeitschriften, die durchforstet wurden. Die zeitgenössische Literatur aus den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde ebenso umfassend herangezogen wie die seither erschienenen Forschungen.

2. Das Untersuchungsgebiet ist weit gesteckt und erfasst große Teile des Mittleren Westens der USA, speziell das sogenannte "deutsche Dreieck" zwischen Cincinnati (Ohio), Milwaukee (Wisconsin) und St. Louis (Missouri), die Region in den USA mit dem höchsten demographischen Anteil von Deutschstämmigen und damit auch das Gebiet, in dem die Deutsch-Amerikaner im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben eine wichtige Stellung einnahmen.

3. Wüstenbecker differenziert genau zwischen den "alien enemies", das heißt den in den USA lebenden Bürgern des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns, die nicht amerikanische Staatsbürger waren und deren Zahl bei etwa einer Million lag, und den knapp acht Millionen eingebürgerten Deutsch-Amerikanern. Gegenstand der Untersuchung sind diese so genannten "Bindestrich-Amerikaner", deren Loyalität zu den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg angezweifelt wurde und die zur Zielscheibe von staatlichen und gesellschaftlichen Repressionen wurden.

4. Die Arbeit ist multiperspektivisch angelegt und untersucht ihren Gegenstand einerseits aus der Sichtweise der staatlichen Institutionen und Akteure in Politik, Verwaltung und Justiz; sie beleuchtet andererseits die gesellschaftlichen und öffentlichen Reaktionen gegenüber den Deutsch-Amerikanern; und sie erforscht, wie sich die Amerikaner deutscher Herkunft mit den Ereignissen an der amerikanischen "Heimatfront" auseinandersetzten.

Die Studie ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Nach einer Beschreibung des Mittleren Westens der USA als einer "deutschen" Region folgt ein 80-seitiges Kapitel über die Zeit von Amerikas Neutralität 1914-1917, danach wird auf 180 Seiten die amerikanische Heimatfront 1917/18 untersucht. An die ausführliche Schlussbetrachtung (305-336) schließt sich ein Appendix an, der neben der Bibliographie detaillierte Übersichten über die deutschen Straßennamen (die 1918 häufig geändert wurden) und die Übergriffe (mob violence) beziehungsweise staatlichen Verfolgungsmaßnahmen (criminal persecutions) gegen Deutsch-Amerikaner enthält.

Die etwa acht Millionen Deutsch-Amerikaner, so stellt Wüstenbecker fest, waren keine homogene Gruppe, deren Reaktion auf den Krieg einheitlich war. Für das Bild in der amerikanischen Öffentlichkeit wurde aber entscheidend, dass sich in der Phase der amerikanischen Neutralität von 1914 bis 1917 die "Pro-Deutschen" und die "Neutralisten" in der Öffentlichkeit "lautstark als Sprecher aller Deutsch-Amerikaner präsentierten", wobei sie teilweise nicht zimperlich waren, sondern in aggressiver Weise pro-deutsche Propaganda betrieben. Damit leisteten sie einer ohnehin wachsenden deutschfeindlichen Stimmung Vorschub, die sich in den nächsten Jahren zu einer veritablen antideutschen Hysterie auswachsen sollte. In ihrem zentralen Kapitel über die amerikanische Heimatfront 1917/18 zeigt Wüstenbecker im Detail, wie sich aus dieser Stimmung ein politischer und gesellschaftlicher "Kreuzzug" gegen die Deutschstämmigen (und andere als unpatriotisch eingeschätzte Gruppen wie etwa Sozialisten und Pazifisten) entwickelte.

Von staatlicher Seite wurde seit dem Kriegseintritt der USA eine Vielzahl von Organisationen zur Mobilisierung der "Heimatfront" geschaffen, mit denen ein starker Druck auf die vermeintlich "illoyalen" Elemente ausgeübt wurde. An der Spitze stand das Council of National Defense, nach dessen Vorbild in allen Einzelstaaten State Councils of Defense eingerichtet wurden. In kurzer Zeit entstand daraufhin ein weitverzweigtes Netz von Councils of Defense auf regionaler und lokaler Ebene, hinzu kamen Neighborhood Committees, Americanization Committees, Committees on Patriotic Education usw. Ausführlich beschreibt Wüstenbecker die Tätigkeit des von Präsident Wilson am 13. April 1917 gebildeten nationalen Committee on Public Information, das sich zu einer weitverzweigten Propagandabehörde entwickelte.

Parallel zu den staatlichen Einrichtungen und gesetzlichen Maßnahmen kam es überall in den USA zur Gründung von patriotischen Organisationen, die das erklärte Ziel hatten, all jene zu überwachen und zu bekämpfen, die als illoyal galten. Das Spektrum ihrer Tätigkeit umfasste Maßnahmen zur gesellschaftlichen Ächtung der Deutsch-Amerikaner, die Unterdrückung der deutschen Sprache ("Hunnensprache") und Kultur, die Denunziation angeblich unpatriotischer Mitbürger, Boykottaktionen, die Verbrennung deutscher Presseorgane, Razzien gegen "Verdächtige" und nicht selten Aktionen gewalttätiger Mobs, die in einigen Fällen auch nicht vor Lynchmorden zurückschreckten. Die Situation eskalierte im Jahr 1918 teilweise derart, dass die staatlichen Behörden in vielen Gemeinden im Mittleren Westen die Kontrolle verloren.

Wüstenbecker schildert diesen sich radikalisierenden Prozess staatlicher wie gesellschaftlicher Repression in großer Anschaulichkeit. Ihr Fazit ist eindeutig: "Während die Vereinigten Staaten in Europa für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie kämpften, wurden paradoxerweise die bürgerlichen Freiheiten im eigenen Land immer mehr eingeschränkt, wie Erich Angermann prägnant zusammenfasste: '[D]ieser Kreuzzug für die Freiheit [gefährdete] die Bürgerrechte im Inneren mehr, als es deutsche Armeen je tun konnten'" (311).

Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass die vorbildliche und glänzend geschriebene Studie über das spezielle Thema hinaus einen paradigmatischen Beitrag über die Gefährdung von demokratischen politischen Kulturen in Zeiten der äußeren Bedrohung liefert. Das Buch ist demnach nicht nur ein Gewinn für die Fachhistorie, sondern kann auch dem allgemeinen Publikum nachdrücklich empfohlen werden.

Rezension über:

Katja Wüstenbecker: Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 29), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 428 S., ISBN 978-3-515-08975-3, EUR 56,00

Rezension von:
Jürgen Müller
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Müller: Rezension von: Katja Wüstenbecker: Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/03/13134.html


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