sehepunkte 7 (2007), Nr. 12

Peer Oliver Volkmann: Heinrich Brüning (1885-1970)

Der Untertitel dieser groß angelegten biographischen Studie bezeichnet klar die Zielsetzung des Autors, der, wie es am Ende des Buches heißt, das "pathologische (und naturgemäß einseitige) Verhältnis Heinrich Brünings zu seinem 'Vaterland'" in die größeren politischen und historischen Zusammenhänge des 20. Jahrhunderts einzuordnen sucht. Dies gelingt in außerordentlichem Maße, nicht zuletzt auf Grund vieler neuer Quellen, die bisher der Forschung nicht zur Verfügung standen. Die kritische Sicht auf den "Nationalisten" Brüning erschließt eine Fülle von Einsichten, die jenseits der oft hervorgehobenen persönlichen Tragik des ehemaligen Kanzlers in dessen Leben vor und nach der Flucht aus Deutschland zu bewerten sind.

Für den Autor bleibt Heinrich Brüning ebenso wie beispielsweise der amerikanische Präsident Herbert Hoover "ein Politiker von großem ökonomischem Sachverstand", ohne dass er sich der vielfach erörterten Problematik einer absichtlichen oder unabsichtlichen Deflationspolitik zuwendet. Dies gilt etwa auch für die Behandlung der Reparationsfrage und das Problem der militärischen Gleichberechtigung Deutschlands im Frühjahr 1932. Der Schwerpunkt der Studie liegt allerdings in erster Linie auf der Selbstdeutung des Reichskanzlers nach dem Ausscheiden aus seinem Amt in jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit seiner einstigen aktiven Rolle als Repräsentant der Weimarer Republik und der politischen Kultur Deutschlands. Dieser kritische Blick erweitert sich mit innerer Folgerichtigkeit auf die Aktivitäten Brünings in seinem Exil nach 1933 und auch in den Jahren seiner vorübergehenden Rückkehr nach Deutschland, schließlich in der Zeit seines zweiten, diesmal freiwilligen Exils in den USA seit 1955. Dieser Ansatz sichert den inneren Zusammenhang der Teilbiographie, die nicht darauf verzichtet, auch die frühen Prägungen des Münsteraners Brüning vor dessen Eintritt in das politische Leben in die Betrachtung einzubeziehen.

Größeres Gewicht beanspruchen die Partien des Buches über die Emigration, die einige wichtige bisher unerschlossene Dokumente aus den USA heranziehen. Volkmann schildert die Problematik eines Politikers im Exil, der zur "Bildungselite Deutschlands" gehörte und sich ähnlich wie Thomas Mann bald in der Lage fand, seine materielle Existenz durch eigene Aktivitäten zu sichern. Die Versuche des prominenten Exkanzlers, die britische und auch die amerikanische Europa- und Deutschlandpolitik zu beeinflussen und gleichzeitig die notwendigen Kontakte zur militärischen Opposition in Deutschland herzustellen, werden in ihrer inneren Problematik analysiert. So gelangt der Autor im Hinblick auf Brünings Ratschläge an Churchill vom Frühjahr 1938 zu dem Schluss, dass sich dessen Anregungen im Hinblick auf die Expansionspolitik Hitlers "durch eine Mischung aus verständlicher Hilflosigkeit und beklemmender Naivität" ausgezeichnet hätten.

Brüning teilte viele der Erfahrungen, die Repräsentanten des deutschen Widerstandes wie Goerdeler, Trott zu Solz oder die Brüder Kordt machten, wenn sie den Kontakt zu Regierungskreisen im westlichen Ausland suchten. Der Verfasser ist entschieden der Meinung, dass die angelsächsischen Gesprächspartner mit Recht den nationalkonservativen Oppositionellen misstrauten, nachdem diese jahrelang die angebliche Revisionspolitik Hitlers nach Osten hin mitgetragen hatten. Insofern wäre es ungerecht, dem Exkanzler allein den Vorwurf der Naivität zu machen. Ein Verschwörer vom Schlage Osters und Canaris ist er nicht gewesen. Brünings Kenntnisstand über die innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland nach seiner Flucht ist, wie das ausgewertete Quellenmaterial zeigt, um einiges höher, als die bisher veröffentlichten Briefe vermuten lassen. Dies zeigt sich insbesondere in den Hinweisen auf die Rolle der Generäle Beck und Fritsch vor deren Ablösung 1938.

Die Ansichten Brünings über die britische Haltung zu Deutschland, zur Korridorfrage und zum Sudetenproblem sind im Wesentlichen bekannt, werden aber in einigen Punkten schärfer herausgearbeitet. Die Schuld Großbritanniens am Ausbruch des Krieges sei für Brüning unbestreitbar gewesen. "Sein überbordender Nationalismus ließ Brüning immer weniger davor zurückschrecken, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen." Neben den bereits bekannten Details über das oft beklagte "Schweigen" Brünings und anderer Exilpolitiker wie Wirth und Kaas wird die Kritik aus Emigrantenkreisen an seiner politischen Haltung näher analysiert. Nach Volkmann hatte Brüning gute Gründe, sich nicht einer Kritik seiner Vergangenheit als früherer Frontkämpfer und als Kanzler der Notverordnungen in der demokratisch und liberal gesinnten amerikanischen Öffentlichkeit auszusetzen, abgesehen davon, dass er trotz seiner sprachlichen Gewandtheit stets große Schwierigkeiten hatte, europäische und deutsche Politikmaßstäbe dem amerikanischen Publikum zu erläutern. Dass sich seine Distanz zur amerikanischen Politik, die Entfremdung gegenüber manchen früheren Freunden und seine Angst vor den Nachstellungen der Gestapo auch noch in den USA steigerten, ist seit langem bekannt. Auch Volkmann schildert ihn als introvertiert und konfliktscheu.

Zeitgenössische Pressespekulationen über seine künftigen politischen Pläne gegen Ende des Krieges werden in ihrem Wahrheitsgehalt relativiert, dienen jedoch dem Verfasser zugleich dazu, ihm Überreaktionen auf die Angriffe von "linken Emigranten" anzulasten. Deutlich werden dagegen die Beziehungen zu Kriegsminister Henry Stimson und dem zeitweiligen Assistant Secretary of State George Messersmith herausgearbeitet. Insgesamt aber gewinnt man den Eindruck, dass die verantwortlichen Londoner und Washingtoner Regierungskreise nach Kriegsausbruch dem so genannten besseren Deutschland schon aus ideologisch-taktischen Gründen im Unterschied zu den Emigranten aus den besetzten und unterworfenen Ländern keine politische Chance einräumen konnten, um ihre Kriegsziele nicht zu gefährden. Mehr als eine wohlwollende Duldung hätte keine deutsche Exil-Organisation in den USA erreichen können. Aufschlussreich und in der Schilderung ansprechend sind die Partien über die Überwachung des "enemy alien", der als Professor noch in Harvard lehrte, als die USA in den Krieg eingetreten waren.

Mit seiner erklärten Absicht, unter keinen Umständen eine deutsche Kapitulationsurkunde nach dem Sieg der Alliierten zu unterzeichnen, stellte sich der Exkanzler in den USA spätestens im Sommer 1944 ins politische Abseits. Für Washington war er bald kein ernst zunehmender Gesprächspartner mehr, nachdem er als Regierungsberater im Vorfeld der Konferenz von Quebec noch einmal ins Gespräch gekommen war. Diese Gerüchte werden in ihrem Quellenwert erörtert.

Das Misstrauen gegen ihn nahm zu, was sich auch nach dem Krieg nicht mehr ändern sollte. Seine Rolle als politischer Gegenspieler Adenauers nach der Gründung der Bundesrepublik beruhte zu einem nicht geringen Maße auf seinen Erfahrungen in der Weimarer Zeit und während seines Exils. Doch als entscheidend sollte sich der Umstand erweisen, dass er nicht bereit war, sich an die Grenzen zu halten, die der deutschen Politik von den Siegermächten gezogen waren. Brünings politische Irrtümer, Fehleinschätzungen und Illusionen und Schwächen trugen nach Meinung des Verfassers wesentlich dazu bei, seine Pläne, Absichten und Hoffnungen scheitern zu lassen.

Rezension über:

Peer Oliver Volkmann: Heinrich Brüning (1885-1970). Nationalist ohne Heimat: Eine Teilbiographie (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 52), Düsseldorf: Droste 2007, 883 S., ISBN 978-3-7700-1903-8, EUR 58,00

Rezension von:
Herbert Hömig
Historisches Institut, Universität Dortmund
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Hömig: Rezension von: Peer Oliver Volkmann: Heinrich Brüning (1885-1970). Nationalist ohne Heimat: Eine Teilbiographie, Düsseldorf: Droste 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/12/12573.html


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