sehepunkte 7 (2007), Nr. 11

Iris Carstensen: Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729-1806)

Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass der Adel selbst und seine erfolgreiche jahrhundertelange Selbstbehauptung nicht greifbar sind, solange man ihn als einen Stand und eine geschlossene Gruppe betrachtet, widmen sich Forscherinnen und Forscher verstärkt den einzelnen Familien oder Personen aus dem Adel. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die vielfältigen Lebensbedingungen und -formen des Adels in verschiedenen Regionen, seine heterogenen sozialen Hierarchie- und Mobilitätsvoraussetzungen sowie das familiäre und individuelle Selbstverständnis als Standesangehörige. So nähert sich auch die Volkskundlerin Iris Carstensen in ihrem Buch, das aus ihrer Kieler Dissertation entstand, dem Adligen Friedrich Reichsgraf zu Rantzau (1729-1806) und untersucht sein Selbstbild im Spiegel seiner Tagebücher. Mit diesem Beitrag zur holsteinischen Adelsgeschichte rekonstruiert Iris Carstensen einen Mikrokosmos von ungeahnter Dichte und erweitert die bereits gesetzten Akzente der mikrogeschichtlich orientierten Adelsforschung.

Die Autorin untersucht, welche Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster der Reichsgraf für seine Haus- und Gutsherrschaft entwickelte und wie er zwischen den Ideen der Hausväterliteratur, dem aufklärerischen Gedankengut und den adligen Legitimationstraditionen lavierte. In den 1720er Jahren hatte die traditionsreiche Linie derer von Rantzau-Breitenburg einen tiefgreifenden Einschnitt erleben müssen, als ein Mitglied der Familie wegen Mordbeschuldigungen durch den dänischen König degradiert worden war. Daher folgte der Reichsgraf Friedrich Rantzau bei der Legitimation seiner Herrschaft nicht den vorhandenen Handlungsmustern seiner Ahnen, sondern suchte mithilfe der christlichen Religion und seiner patriarchalischen Gutsherrschaft eine neue Tradition zu stiften und diese seinen Nachkommen im Tagebuch zu vermitteln.

Carstensen erkennt in Rantzaus Handeln und dessen Reflexionen in den Tagebüchern die traditionellen Hausväterideale, die unter Einfluss der Aufklärung brüchig geworden waren, und strukturiert ihre Studie anhand der zentralen Themen der Hausväterliteratur - Gutsherrschaft, Aufgaben und Pflichten als Hausvater nach außen und innen sowie die Beteiligung der Familie am gesellschaftlichen Leben der Umgebung. Neben der bereits genannten Hauptquelle, den Tagebüchern (1764-1784 und 1792-1794), zieht sie weitere Ego-Dokumente für die Untersuchung hinzu, um die Darstellungen des Reichsgrafen mit der sozialen Praxis zu vergleichen. In vier Schritten arbeitet sie die Selbstverortung Rantzaus im zeitlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Kontext heraus:

Zunächst untersucht sie, wie im Diarium der ökonomische Aufbau und die allmähliche Konsolidierung der Herrschaft Breitenburg aus der Perspektive der Gutsleitung und Bautätigkeiten des Reichsgrafen thematisiert werden. Im zweiten Schritt widmet sich die Verfasserin dem patriarchalischen Selbstverständnis des Protagonisten und der rechtlichen Festigung der Herrschaft anhand seiner Prozesstätigkeit und den damit verbundenen Einstellungen gegenüber seinen adligen und bürgerlichen Gegnern. Des Weiteren geht es um die Selbstverortung Rantzaus innerhalb seines Standes. Zur Disposition stehen dabei die Selbstthematisierungen des Reichsgrafen als Untertan des dänischen Königs und Angehöriger der holsteinischen Ritterschaft. Darüber hinaus widmet sich Carstensen an dieser Stelle der Auswertung des Besuchsverkehrs auf Breitenburg. Dessen detaillierte Dokumentation durch Rantzau bewertet sie als die Rehabilitierung der geächteten Familie in der lokalen Gesellschaft.

Im vierten Schritt nähert sich die Autorin den Selbstreflexionen des Reichsgrafen als Haus- und Familienvater. Die Spannbreite dieses Kapitels reicht von den durch Rantzau gestifteten neuen Festtraditionen, über den Umgang mit seiner Frau, den Kindern und Hausbediensteten, bis zum Wohlergehen von Menschen in seiner Umgebung. Hervorzuheben ist an dieser Stelle das Unterkapitel über den Umgang des Grafen mit seinem schwererziehbaren Sohn. Darin werden die Stärken der Methode und Herangehensweise der Studie offenbart, in dem hier Einblicke in die Privatsphäre gewährt werden, die eine kollektivbiographische Arbeit zum Adel nur oberflächlich zu vermitteln vermocht hätte.

Am Ende resümiert Carstensen ihre Ergebnisse unter der Prämisse der Leistung Rantzaus für die nachfolgenden Generationen. Im Diarium habe er das Ziel verfolgt, die Erben auf seine Bemühungen und Erfahrungen aufmerksam zu machen, die gestifteten Familientraditionen zu verdeutlichen und der Nachkommenschaft Richtlinien für die weitere Gutsleitung aufzuzeigen. Der Vergleich dieser Zielsetzung mit der tatsächlichen Lebensführung von Rantzau ergibt jedoch ein ambivalentes Bild. Dem im Diarium propagierten Ideal der einfachen Lebensführung kam der Reichsgraf nicht nach und verbrachte vor allem seine letzten Lebensjahre in großen finanziellen Schwierigkeiten, da er seinen Lebensstil trotz der eigentlich ausreichend vorhandenen Mitteln nicht unterhalten konnte.

Weitere Ambivalenzen äußerten sich besonders in seinem Willen nach einer festen Ordnung und in den praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Ordnung auf dem Gut und in der Familie. Sein Ideal bröckelte vor dem Hintergrund des Epochenwandels: Seine Interessen als Gutsherr wurden durch die Verrechtlichungsprozesse in Frage gestellt, seine patriarchalische Rolle in der Familie durch die verstärkten Individualisierungstendenzen der Zeit untergraben. Die Tagebücher bilden somit nicht die Realität des Lebens von Rantzau ab, sondern stellen ein "Konstrukt zur persönlichen Legitimierung" (339) dar. Ebenso erwies sich sein "sentimentales Hausvaterkonzept" (342) in der Praxis als nicht umsetzbar.

Die Arbeit zeichnet überzeugend das Bild eines Adligen, der lediglich in seiner Guts- und Familienherrschaft die innere Berufung findet und andere adlige Lebensmuster vernachlässigt. Die Stärken der Studie sind der Untersuchungsgegenstand, die methodische Ausrichtung und die gründlichen Analysen. Sie greift eine Vielzahl von Einzelaspekten auf und rekonstruiert ein dichtes Bild menschlicher Idealvorstellungen und ihrer Realisierung im tatsächlichen Leben. Gemäß den Untersuchungsschwerpunkten der Volkskunde nähert sich Frau Carstensen der kulturellen Praxis von Rantzau, nämlich seiner sinnhaften Wahrnehmung der Welt und den aus seinem Erfahrungsschatz abgeleiteten Präferenzen für sein Idealbild.

Darin ist jedoch auch die Schwäche der Studie festzumachen: Die Verzahnung von mikro- und makrostrukturellen Aspekten gelingt Frau Carstensen nur bedingt, da der Leser den Kontext für die Idealvorstellung von Rantzau vermisst. Es fehlen nämlich die Hintergrundinformationen zu der Sozialisation und den Jugenderfahrungen des Reichsgrafen, die seinen späteren Erwartungshorizont als Gutsherr und Familienoberhaupt prägten. Über diese Schwäche lässt sich aber hinwegsehen. Umso erfreulicher ist es festzustellen, dass die Verdienste und Niederlagen des Reichsgrafen für seine Familie den gängigen Mustern des adligen Handelns im ausgehenden 18. Jahrhundert entsprechen. Besonders im Kapitel über die Kindererziehung wird beeindruckend herausgearbeitet, mit welchen Herausforderungen adelige Familienoberhäupter bei der Erziehung zukünftiger Generationen in der Aufklärungszeit konfrontiert wurden. Iris Carstensen greift somit bisher kaum erforschte Themen auf, mit denen sich eine weitere Beschäftigung lohnt. Zu den Lebens- und Handlungsschwerpunkten eines Adligen in der Zeit um 1800 liegt nun eine empfehlenswerte Lektüre vor.

Rezension über:

Iris Carstensen: Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729-1806). Selbstthematisierung eines holsteinischen Adligen in seinen Tagebüchern (= Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte; Bd. 6), Münster: Waxmann 2006, 375 S., ISBN 978-3-8309-1741-0, EUR 29,90

Rezension von:
Olga Weckenbrock
Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück
Empfohlene Zitierweise:
Olga Weckenbrock: Rezension von: Iris Carstensen: Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729-1806). Selbstthematisierung eines holsteinischen Adligen in seinen Tagebüchern, Münster: Waxmann 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/11/12933.html


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