Rezension über:

Ernst Haberkern: Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung in Preußen am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft, Marburg: Tectum 2005, 424 S., ISBN 978-3-8288-8824-1, EUR 34,90
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Rezension von:
Ursula Goldenbaum
Institute for Advanced Study, Princeton / Emory, Atlanta
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Goldenbaum: Rezension von: Ernst Haberkern: Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung in Preußen am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft, Marburg: Tectum 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/8447.html


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Ernst Haberkern: Limitierte Aufklärung

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Gegenstand dieser Arbeit ist es, "die Charakteristik der letzten beiden Jahrzehnte der Aufklärung in Preußen darzustellen am Beispiel der Ideale und der Aufklärungsarbeit einer von 1783 bis 1798 bestehenden Geheimgesellschaft, der sogenannten 'Berliner Mittwochsgesellschaft'." (11) Gründung, Verlauf und Ende der inzwischen vielfach untersuchten Berliner Mittwochsgesellschaft soll aber zugleich als Modell dienen für die "geistige Befindlichkeit" der Spätaufklärung sowie für deren "nur bedingt und restriktiv aufklärerischen Ideen und Gedankenkonstrukte". (12) Der Autor sieht sich zu der Auffassung geführt, dass die Mitglieder der Gesellschaft zwar über grundlegende Fragen nicht einig waren, aber darin übereinstimmten, dass "eine wie auch immer gestaltete Aufklärung nur restriktiv vorgehen könne und dass eine uneingeschränkte Aufklärung, besonders auch über Gegenstände der Religion, weder wünschenswert noch dem Wohle der Bevölkerung oder dem Staatswohl zuträglich sei, ja dass eine restriktiv gehandhabte, und in vielerlei Hinsicht limitierte Aufklärung dem wohlverstandenen Interesse des Volkes dienlich sei". (13) Diese "elitäre und keineswegs egalitäre Haltung" sieht der Autor als eine der Grundüberzeugungen der Gesellschaft wie der gesamten Berliner und preußischen Aufklärungsbewegung. Eine weitere These ist, dass das Ende der Aufklärung ihrer "inneren Auszehrung" geschuldet war, da sie einem neuen Drang nach Innerlichkeit, nach Individualität, nach Gefühlstiefe, und nach vertiefter, verinnerlichter Religiosität", fern von der "sterilen Kälte" der Vernunft, weichen musste. (14) Dabei produzierte doch eines der Mitglieder sogar einen Bestseller Über den Werth der Gefühle im Christenthum. Die erstaunlich traditionellen und konservativen Bewertungen der Berliner, der preußischen und der deutschen Aufklärung werden aber keineswegs aus der Untersuchung der überkommenen Texte gewonnen, deren Analyse (215-298) erst nach einem umfangreichen allgemeinen Kapitel über die preußische Aufklärung (17-162) sowie einer ebenfalls wenig Neues bringenden Darstellung der Geschichte, Verfassung und der Mitglieder (163- 214) einsetzt. Sie folgen vielmehr einer bestimmten preußenkritischen Position, die seit den 1980er Jahren durch Eckhart Hellmuth entwickelt wurde und Gefahr läuft, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Position wird auch von Reinhard Meyer vertreten, von dessen Aufsatz (1987) der Autor den Titel übernahm.

Dass die genannten Wertungen vom Autor keineswegs aus der Untersuchung des historischen Materials zur Berliner Mittwochsgesellschaft gewonnen wurden, wird z.B. deutlich, wenn die Darstellung der in der Gesellschaft produzierten Texte und ihrer Diskussion den Autor zu anderen Schlussfolgerungen gelangen lässt als man nach dem Einführungskapitel erwarten sollte. So moniert der Autor im Einführungskapitel die Selbstlimitierung der Autoren im Entwurf des Allgemeinen Gesetzbuches und findet es "kein Ruhmesblatt der preußischen Aufklärung, dass man durch diese Prinzipien auch die Leibeigenschaft und die Gutsuntertänigkeit von Teilen der ländlichen Bevölkerung noch für eine geraume Zeit konservierte" (92-93), andererseits zeigt er gerade, wie die Gesetzbuchautoren den Auftrag zu einem Allgemeinen Gesetzbuch durch eine geschickte politische Strategie dem absoluten Monarchen allererst abgetrotzt haben (101), d.h. sich keineswegs selbst limitiert haben. Sie haben übrigens auch darauf bestanden, die Gleichheit der Menschen in die Präambel aufzunehmen und die Leibeigenschaft als ein erworbenes Verhältnis zu verstehen. Die politischen Verhältnisse Preußens umzustürzen und die Leibeigenschaft aufzuheben, lag offensichtlich nicht in der Macht der Gesetzbuchautoren. [1] Moehsens Aufsatz über Brakteaten scheint der Autor nicht gelesen zu haben, da er diesen als "im engeren Sinne wissenschaftlich" (262) einordnet; tatsächlich behandelt auch dieser ein politisch-rechtliches Thema, die Steuerfreiheit des Adels, die übrigens - gegen die politischen Gegebenheiten in Preußen - von Moehsen bestritten wird.

Auch hinsichtlich der Haltung der Gesellschaft zur Volksaufklärung bzw. Zensur bescheinigt ihr der Autor (im Abschnitt über die preußische Zensur, 110ff.) zunächst, sie hätte sich selbst limitiert, indem die Mitglieder gegen eine generelle Freiheit der Presse und Aufklärung des Volkes votiert hätten. (Die kühne Behauptung, wonach es in Preußen vor 1743 gar keine Zensur gegeben habe, scheint aus der Abwesenheit von Zensurdekreten geschlossen worden zu sein (110)). Im Abschnitt über die Aufklärungsdiskussion in der Gesellschaft wird dann eingeräumt, dass immerhin Moses Mendelssohn eine unlimitierte Pressefreiheit gefordert habe (224), allerdings nahezu allein stand; sodann wird in der Darstellung der Diskussion der Pressefreiheit auch Nicolai (286) angeführt, der als Verleger und Herausgeber ein natürliches Interesse an einer unumschränkten Pressefreiheit gehabt hätte, und schließlich wird auch noch Dohm als entschiedener Vertreter der Pressefreiheit genannt (284, 295). Aber auch von Irwing und Diterich hatten sich Mendelssohns Votum weitgehend angeschlossen. Andere Mitglieder haben zwar Zensur akzeptiert, waren aber ebenfalls an ihrer Limitierung und an einer möglichst breiten Aufklärung interessiert. Ein Mangel der Darstellung gerade dieser politischen Themen ist die Vernachlässigung des politischen Kontextes. Zwar wird am Ende auch noch allgemein die Französische Revolution angeführt, aber die dadurch beeinflusste politische Entwicklung in Preußen spielt keine Rolle, ist aber zum Verständnis der Diskussion wichtig.

Auch den historischen Zusammenhang der Diskussion über Aufklärung zur Preisfrage der Akademie zum Volksbetrug scheint der Autor nicht zu kennen. Er weiß auch nicht, dass und warum Friedrich seiner Akademie diese Frage vorgelegt hat, obwohl die Arbeiten von Werner Krauss im Literaturverzeichnis angeführt sind. Der Abschnitt über die Berliner Akademie enthält nichts Neues, behauptet aber fälschlich, Euler wäre nach dem Tode von Maupertuis dessen Nachfolger, d.h. Präsident der Akademie geworden. Darüber hinaus führt der Autor Mühlpfordt statt Hegel an, um den dreifachen Sinn des Wortes "aufheben" zu erklären! (159)

Die viel diskutierte Frage nach der Geheimhaltung in der Gesellschaft wird auch hier im Zusammenhang mit Geheimgesellschaften diskutiert, obwohl der Autor richtig betont, dass die Gesellschaft als solche keineswegs geheim war und natürlich keine Arkanpraxis kannte (178), sondern nur Stillschweigen über die in ihren Sitzungen vorgetragenen Meinungen wahren wollte (169). Dass die Gesellschaft deswegen Probleme bekommen hätte oder verleumdet worden wäre, wird behauptet, aber nicht belegt. Angesichts seiner Feststellungen über die Zensur im Preußen Friedrichs II. erstaunt die Naivität einigermaßen, mit der der Autor nach dem Zweck dieser Diskretion fragt, - "denn in den Sitzungen wurden, [...], keine Dinge besprochen, die das Licht der Öffentlichkeit hätten scheuen müssen." (178) Dass Privatpersonen überhaupt die Politik und die Gesetzgebung ihres Staates diskutierten, war bereits eine Überschreitung dessen, was erlaubt war. Soviel zur Selbstlimitierung der Berliner Aufklärung. [3]

Vor dem Literaturverzeichnis (313-348) und dem erfreulichen Abdruck weiterer Vorlesungen der Gesellschaft und ausgewählter Voten (349-424, Auswahlkriterien werden nicht gegeben) wird noch in einem besonderen Kapitel der wenig überzeugende Nachweis versucht, dass durch Engel und sein Studium bei Tetens der Einfluss des englischen Empirismus in die Gesellschaft und dadurch in die preußische und deutsche Aufklärung vermittelt wurde, als ob Locke nicht seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Halle, d.i. Preußen, studiert wurde, wie ja auch Hume bekanntlich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts von Lessing, Mendelssohn, Garve, Merian u.a. in Preußen diskutiert wurde. [4] Die Literatur, insbesondere zur Berliner Aufklärung [5], ist nur unzureichend ausgewertet worden, die meisten Titel aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg stammen aus den 1970er und 1980er Jahren (nur 4 aus diesem Jahrhundert), trotz der Zunahme an einschlägigen Publikationen in den letzten zwanzig Jahren. Das Verzeichnis ist sehr deutschlastig, selbst die viel diskutierte Standardmonographie von Jonathan Israel (Radikale Aufklärung, 2001) fehlt.


Anmerkungen:

[1] Wie bewusst und aktiv die Autoren den ihnen gegebenen Rahmen bei der Ausarbeitung des Gesetzbuches ausgeschritten und überschritten haben, zeigt neuerdings Peter Weber: "Was eben jetzt noch zu sagen oder zu verschweigen sei, müsst ihr selbst entscheiden." Publizistische Strategien der preußischen Justizreformer 1780 bis 1794, in: Ursula Goldenbaum: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697-1786. Sieben Fallstudien, Berlin 2004, 729-812.

[2] Vorbildlich dagegen der überraschende Vergleich der politischen Programme Mirabeaus und der Berliner in: Peter Weber: Mirabeau und die Berliner Aufklärer - Zur preußischen Reformideologie im französischen Kontext. In: Französische Kultur - Aufklärung in Preußen. Berlin 2001, 89-99 (Nachdruck in: P. Weber: Literarische und politische Öffentlichkeit. Studien zur Berliner Aufklärung, Berlin 2006, 169-182).

[3] Es ist keineswegs der erste Abdruck aus diesen Papieren (wie auf Seite 349 behauptet). Wie der Autor (317) selbst sagt, ist Moehsens Vorlesung über Aufklärung mitsamt allen Voten, insbesondere Mendelssohns über vollständige Zensurfreiheit, dem sich von Irving und Diterich anschlossen, bereits von Ludwig Keller abgedruckt. In: Die Berliner Mittwochs-Gesellschaft. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. V (1896), 67-94 (beginnend auf 73). Die Statuten sind öfter abgedruckt.

[4] Siehe Heinrich Schepers: Andreas Rüdigers Methodologie und ihre Voraussetzungen, Köln 1959.

[5] Folgende einschlägige Publikationen zur Berliner Aufklärung wurden vom Autor nicht berücksichtigt: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin, 1989; Steven Loewenstein: The Berlin Jewish community: enlightenment , family, and crisis 1770-1830, 1994; Ursula Goldenbaum : "Nul Auguste pour protecteur" - Conscience bourgeoise et loyaut, du fontionnaire dans la Societé du mercredi [...] à Berlin. In: Pierre Penisson (Hg.): La crise des Lumières. Revue germanique internationale. Sonderheft. 3/1995, 127-141; Goldenbaum/Alexander Košenina (Hg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien zur Aufklärung. Bd. 1 (1999); Bd. 2 (2002); Dina Emundts (Hg.): Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung,2000; Cord-Friedrich Berghahn: Moses Mendelssohns 'Jerusalem': ein Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte [...], 2001; Sigrid Habersaath: Verteidigung der Aufklärung: Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten, 2001; Volker Gerhardt u.a. (Hg.): Kant und die Berliner Aufklärung. 5 Bd., 2001; Britta L. Behm: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin, 2002; Mark Pockrandt: Biblische Aufklärung: Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack und Friedrich Samuel Gottfried Sack, 2003.

Ursula Goldenbaum