sehepunkte 7 (2007), Nr. 10

Andreas Zellhuber: "Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu..."

Bisher fehlen Monografien zu einigen der wichtigsten Institutionen des NS-Regimes, darunter auch etliche Ministerien. Dem "Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete" (RMfdbO) unter Alfred Rosenberg widmet sich nun die Dissertation von Andreas Zellhuber. Ältere Arbeiten thematisierten andere Organisationen aus dem Umfeld Rosenbergs - eine fast klassisch zu nennende Studie von Reinhard Bollmus wurde jüngst wiederaufgelegt. [1] Dabei waren gerade diese Behörde und die ihr untergeordneten Zivilverwaltungen in den Reichskommissariaten Ostland (Estland, Lettland, Litauen und das westliche Weißrussland) und Ukraine mit der Behandlung der unterworfenen Bevölkerung der westlichen Sowjetunion befasst.

Nach der Darlegung der Vorkriegsentwicklung von Rosenbergs Variante der nationalsozialistischen Ostpolitik, die auf ein Ausspielen der anderen Nationalitäten der Sowjetunion gegen die Großrussen abzielte, geht Zellhuber auf die Gründung und Gliederung des Berliner Ministeriums sowie der Reichskommissariate ein. Danach charakterisiert er die Personalzusammensetzung, um anschließend relativ kurz mit der Teilnahme des RMfdbO am Holocaust ein zentrales Feld nationalsozialistischer Vernichtungspolitik anzusprechen.

Breiteren Raum nimmt die Darstellung der Kompetenz- und Machtkämpfe mit anderen Institutionen des NS-Staates ein, so mit dem SS- und Polizeiapparat Himmlers, den Wirtschaftsbehörden Görings sowie anderen Ministerien, aber auch mit den Rosenberg eigentlich unterstellten Reichskommissaren Lohse und Koch. Dabei werden die wechselvollen Verhältnisse zu Wehrmacht und SS ebenso wie die unsichere Position Rosenbergs gegenüber Hitler und den ihm vorgeschalteten Kanzleien unter Lammers und Bormann charakterisiert. Eine kurze, aber sehr treffende Darstellung erfährt auch die Auflösung des Ministeriums, das gegen Kriegsende bereits von den Zeitgenossen als das "Ministerium für die nicht mehr besetzten Ostgebiete" verspottet wurde und das u. a. versuchte, eine neue Daseinsberechtigung bei der "Ostarbeiterbetreuung" zu erlangen.

Leider bezieht die Arbeit die seit über einem Jahrzehnt bekannten, umfangreichen und zugänglichen Bestände des Reichsministeriums nicht ein, die sich in der ehemaligen Sowjetunion, v. a. im so genannten Moskauer Sonderarchiv befinden - was umso mehr erstaunt, da Zellhuber das bereits 1993 von Götz Aly und Susanne Heim publizierte Findmittel erwähnt (161, 371). Damit bleiben z. B. die Personalakten der einheimischen Kollaborateure und damit die Scharnierfunktion dieser Personengruppe unberücksichtigt.

Etwa drei Dutzend Kurzbiografien der wichtigeren deutschen Akteure werden anhand von Informationen aus der Sekundärliteratur kurz skizziert (allerdings ohne Einbeziehung der entsprechenden Personalakten des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv). Von anderen, etwa Dr. Heinrich Härtle, die "wichtigste Figur im Reichsministerium in dessen Endphase" (128), fehlt leider eine Kurzbiografie. Offen bleiben teilweise auch die Ergebnisse von Disziplinarverfahren, die in beschriebenen institutionellen Konflikten als Mittel der "NS-Kampfspiele" (290) angewendet wurden; auch diese hätte man mithilfe der Bestände des ehemaligen BDC im Bundesarchiv in Berlin klären können (274, 329). Die Nachkriegsvita der führenden Beamten, die den entsprechenden Strafverfahren zu entnehmen gewesen wäre, bleibt meist im Dunkeln. Ferner werden manchmal der Tonfall wie der Geist der zeitgenössischen Quellen und der Nachkriegsapologetik zu wenig gebrochen.

Das Scheitern des Ostministeriums resultierte nicht allein aus den ausführlich beschriebenen, im Endeffekt fast immer verlorenen Kompetenzkämpfen, die sowohl in der Person des Ministers als auch in strukturellen Defiziten eines zusammengewürfelten Territorialministeriums begründet waren. Außerdem liegt das Hauptaugenmerk der Forschung seit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" nicht mehr auf den hier ins Zentrum gestellten Machtspielen in Berlin und dem Kompetenzgerangel vor Ort, die für die einheimische Bevölkerung nur von untergeordneter Rolle waren. Die vom Ministerium geleitete Zivilverwaltung entfaltete ihre zerstörerische Wirkung in der Umsetzung der nationalsozialistischen Ostpolitik vor Ort.

Zellhubers Arbeit lädt zu weiteren Untersuchungen über diesen wichtigen NS-Verwaltungskomplex ein, da nun die organisatorischen und ideologischen Grundstrukturen geklärt sind.


Anmerkung:

[1] Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, 1970 (2., um einen bibliografischen Essay von Stephan Lehnstaedt erw. Auflage. München 2006).

Rezension über:

Andreas Zellhuber: "Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu...". Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941-1945 (= Berlin & München. Studien zu Politik und Geschichte; Bd. 3), München: Ernst Vögel 2006, XI + 414 S., ISBN 978-3-89650-212-4, EUR 36,00

Rezension von:
Giles Bennett
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Giles Bennett: Rezension von: Andreas Zellhuber: "Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu...". Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941-1945, München: Ernst Vögel 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/10/11846.html


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