sehepunkte 7 (2007), Nr. 10

Annika Boentert: Kinderarbeit im Kaiserreich 1871-1914

Ebenso wie heute in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas die Mitarbeit von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft als selbstverständlich hingenommen wird, war Kinderarbeit auch in Europa jahrhundertelang ein Faktum, das erst spät in Frage gestellt wurde. Versucht man vor diesem Hintergrund die Entwicklungslinien der Kinderarbeit in Deutschland genauer nachzuzeichnen, stößt man bald auf größere Forschungslücken. So ist die Arbeit von schulpflichtigen Kindern in Fabriken und Werkstätten bereits mehrfach zum Gegenstand historischer Untersuchungen gemacht worden. Über die quantitativ viel häufigere Kinderarbeit außerhalb von Fabrik und Gewerbe wurde dagegen bisher - nicht zuletzt aufgrund der eingeschränkteren Quellenlage - nur selten geforscht. Dieses Forschungsdesiderats nimmt sich Annika Boentert in ihrer 2004 von der Universität Bielefeld angenommenen Dissertation an. In ihrer Studie, die sie als Stipendiatin des Graduiertenkollegs "Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten, Klassen und Eliten" bei dem Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser angefertigt hat, versucht sie, die verschiedenen Bereiche der Kinderarbeit vergleichend zu betrachten. Dabei geht es ihr zum einen um die Entwicklung der Kinderarbeit im Zuge der Industrialisierung in Deutschland. Zum anderen steht die "systematische Identifikation derjenigen Faktoren, die diesen Prozess maßgeblich beeinflusst haben" (13), im Mittelpunkt.

Der zeitliche Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Zeitraum zwischen der Verabschiedung der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund 1869 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Die Anfänge einer staatlichen Regulierung der Kinderarbeit lassen sich zwar in Preußen als dem Vorreiter unter den deutschen Staaten bis 1839 zurückverfolgen, doch konzentrierten sich die frühen gesetzlichen Regelungen lediglich auf einen kleinen Teilbereich der Kinderarbeit, auf die Fabrikarbeit. Die weitaus häufigere Mitarbeit von Kindern in der Hausindustrie, im Dienstleistungsgewerbe und in der Landwirtschaft blieb noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts "ohne jede reichsgesetzliche Beschränkung" (13). Erst im Deutschen Kaiserreich fand eine intensive öffentliche Debatte über Vor- und Nachteile der Kinderarbeit statt. Wichtige Gesetze zum Schutz arbeitender Kinder wurden zwischen 1871 und 1914 verabschiedet: die Gewerbeordnungsnovellen von 1878 und 1891 und das so genannte "Kinderschutzgesetz" von 1903.

Schwerpunktmäßig beschäftigt sich Boentert mit den "Noch-nicht-14jährigen" (16), für die in der Regel die Schulpflicht noch galt. Aus methodischen Erwägungen heraus hat sie für ihre Studie eine institutionentheoretische Perspektive gewählt, wobei sie zwischen "formellen" und "informellen Institutionen" (31) unterscheidet und den Prozess des institutionellen Wandels im Kaiserreich in vier Phasen gliedert: 1. in die Zeit zwischen Verabschiedung der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes und Einführung der obligatorischen Fabrikinspektion (Kapitel 3: 1869-1878); 2. die Jahre bis zum Verbot der Beschäftigung schulpflichtiger Kinder in Fabriken (Kapitel 4: 1879-1891); 3. die Phase der Ausdehnung der Schutzbestimmungen auf Werkstätten und hausindustrielle Produktionsstätten bis zum Jahre 1903 (Kapitel 5) und 4. die letzte Dekade vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in der vereinzelt auch die landwirtschaftliche Kinderarbeit zum Gegenstand öffentlicher Kritik wurde (Kapitel 6). Der Darstellung des institutionellen Wandels im Kaiserreich sind eine ausführliche Einleitung und ein Rückblick auf die Vorgeschichte der Kinderarbeit in den deutschen Staaten bis 1869 vorangestellt. Die Kapitel 3-6 folgen im Wesentlichen einer chronologischen Gliederung, wobei für alle Entwicklungsphasen gleichlautende Leitfragen gestellt wurden: Wie entwickelte sich im jeweiligen Zeitraum die Kinderarbeit in den verschiedenen Wirtschaftszweigen? In welchem Maße beeinflussten Konjunkturlage und technologischer Fortschritt die Beschäftigung junger Arbeitskräfte? Wie erfolgreich waren die staatlichen Restriktionen? Wer setzte sich aus welchen Gründen und mit welchem Erfolg für einen Ausbau der gesetzlichen Rahmenbedingungen ein? Zu überraschenden Ergebnissen gelangt die Verfasserin bei einem Blick auf die gesetzlichen Bestimmungen gegen Kinderarbeit in anderen Ländern: "Verglichen mit den Regelungen, die um 1900 in anderen Staaten bestanden, verfügte das Deutsche Reich [...] über außergewöhnlich weitreichende und differenzierte Bestimmungen zum Schutz arbeitender Kinder" (353).

Boentert hat für ihre Studie neben den stenographischen Reichstagsprotokollen insbesondere Akten des Reichskanzleramtes und des Reichsamtes bzw. des Reichsministeriums des Innern und zeitgenössische sozialwissenschaftliche Publizistik ausgewertet. Als "besonders wertvoll für die Beurteilung der Motive, die zum Ausschluss schulpflichtiger Kinder aus den Fabriken führten" (33), haben sich dabei die Jahresberichte der Fabrikinspektoren und Gewerbeaufsichtsbeamten erwiesen. Offen muss die Frage bleiben, warum nicht auch Quellen aus Wirtschafts- und Industriearchiven herangezogen worden sind.

Überzeugend wird herausgearbeitet, dass sich die Kinderarbeit im Deutschen Reich ohne die aktive Gestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen sehr viel langsamer gewandelt hätte. Spätestens Ende der 1870er-Jahre war mit der Entscheidung für einen Ausbau des Arbeiterschutzes ein "parteiübergreifender Minimalkonsens" (430) erreicht. Maßgeblich dazu beigetragen hat neben dem politischen Einflussverlust der Liberalen der Einstellungswandel in der Zentrumsfraktion, in der sich die Vertreter des sozialen Katholizismus mit ihrer Überzeugung durchzusetzen vermochten, dass die soziale Frage nicht länger nur unter religiös-karitativen Gesichtspunkten diskutiert werden dürfe, sondern durch staatliche Initiativen zum Arbeiterschutz ergänzt werden müsse. Obwohl eine Reihe von - zumeist ökonomischen - Argumenten entkräftet werden musste, galt die Fabrikarbeit von Kindern bereits in den Reichstagsdebatten der 1880er-Jahre als politisch nicht mehr opportun. Zumindest für die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten verstand es sich spätestens um 1885 von selbst, dass Kinder "nicht in die Fabrik, sondern in die Schule oder auf den Spielplatz gehörten" (431). Das Verbot der Fabrikarbeit von Kindern wurde somit in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich - deutlicher als in vielen anderen Staaten - zu einer "Konsequenz der allgemeinen Schulbildung" (432). Schwer tat man sich mit der gesellschaftlichen und politischen Ächtung von Kinderarbeit außerhalb der Fabriken. Die Mitarbeit der Kinder im Haushalt und in der Landwirtschaft galt nicht als "Arbeit" im landläufigen Sinne, und man schreckte vor vermeintlichen Eingriffen in die väterliche Autorität zurück.

Insgesamt handelt es sich bei Boenterts Studie um einen wichtigen und gut lesbaren Beitrag zur Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland. Das selbst gesteckte Ziel einer Gesamtdarstellung der verschiedenen Formen von kindlicher Erwerbsarbeit wird allerdings nicht eingelöst; zu oft erfolgt ein Hinweis auf die unzureichende Quellenlage und die nicht verfügbaren Daten. Die Studie kann jedoch als Anregung für weitere Untersuchungen zur Kinderarbeit jenseits von Fabrik und Werkstatt dienen.

Rezension über:

Annika Boentert: Kinderarbeit im Kaiserreich 1871-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 475 S., ISBN 978-3-506-71357-5, EUR 49,90

Rezension von:
Michaela Bachem-Rehm
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Empfohlene Zitierweise:
Michaela Bachem-Rehm: Rezension von: Annika Boentert: Kinderarbeit im Kaiserreich 1871-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/10/11292.html


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