sehepunkte 6 (2006), Nr. 9

Patricia A. Emison: Creating the "Divine" Artist

Der Dichter Ariost hätte es vielleicht noch mehr als Dante verdient, Seite an Seite mit dem Protagonisten Michelangelo im Titel von Patricia Emisons Buch genannt zu werden. Nahm doch Michelangelos Ruhm als 'göttlicher Künstler', so erfahren wir, nicht nur einen entscheidenden Aufschwung mit der kurzen Erwähnung in der Liste antiker und moderner Künstler, die Ariost der dritten und letzten Überarbeitung seines Bestsellers Orlando furioso einfügte (1532): "Michel più che mortal Angel divino". Literat und Künstler verband zudem die Erfahrung, ihre Werke und ihre persona durch eine neue "print culture" rezipiert und umgeformt zu sehen (140). Wobei beide mit Vorstellungen von "rulelessness, indecorousness, and modernity in general" (137) in Verbindung gebracht wurden. Alle drei Kriterien trugen wesentlich zum Gehalt des Begriffs divinus in der Renaissance bei. Versucht man, dessen 'mäanderndes' Bedeutungsspektrum, wie es Emison entwickelt, zusammenzufassen [1], gelangt man (nicht ganz überraschend) zu einer Eigenschaft, die durch die Natur, d. h. als exzeptionelle Begabung oder aber durch ('göttliche') Inspiration, eingegeben scheint, und die nicht durch Übung, Nachahmung oder durch das Regelwissen einer Kunst zu erlangen ist. Es handelt sich um ein letztlich nicht rationalisierbares Vermögen, das quasi in Parallele zur göttlichen Schöpferkraft herausragend Neues hervorzubringen und zugleich das normative Vorbild der Antike zu überwinden vermag (vgl. 50, 123, 168, 232 und 251; zur Verbindung mit den Konzepten von grazia und sprezzatura 40-51). Auch wenn Michelangelo die Auszeichnung divinus nicht als Erster erlangte, sondern mit Dichtern und Denkern wie Homer, Platon, Dante und Petrarca, sporadisch mit einigen Musikern und Quattrocento-Künstlern und dann im 16. Jahrhundert etwa noch mit Tizian, Aretino und Ariost selbst teilen musste, so verbindet sich die Vorstellung vom 'Göttlichen' in der Renaissance doch besonders mit ihm.

Freilich wäre der Anspruch von Emisons Buch mit dem Hinweis auf eine kunsthistorische Diskursanalyse oder aber eine Sozialgeschichte des Renaissance-Künstlers im Spannungsfeld von beginnendem 'Genie-Kult' und tradierter Geringschätzung manueller Arbeit noch zu eng gefasst: Letztlich geht es um nichts weniger als die derzeit vielfach geforderte grundlegende Revision unserer methodischen Herangehensweisen an Kunst und Künstler der Frühen Neuzeit, speziell um eine Revision unserer Vorstellungen vom Zusammenwirken (allgemeiner) Wahrnehmungs- und Sprachkategorien, sozialer Stellung und (individueller) Kunstproduktion dieser Zeit. Vor diesem Hintergrund soll exemplarisch gezeigt werden, dass die omnipräsenten Künstlerpanegyriken nicht allein als Ansammlung rhetorischer, zumeist aus der Antike übernommener und post festum an die Produzenten und ihre Werke herangetragener Lobtopoi verstanden werden dürfen, von deren formelhaften 'Etikettierungen' sich der moderne Forscher weitgehend zu befreien habe, sondern dass diese im Gegenteil in ihrem Zusammenspiel mit der Kunstproduktion als entscheidende Faktoren und zugleich als wichtige Annäherungsmöglichkeiten an das komplexe Spektrum der zeitgenössischen Kunstwahrnehmung und -wertschätzung zu verstehen sind (vgl. 15f.). In einem Satz zusammengefasst (347f.): "The thesis of this book has been straightforwardly this: that in simplifying the history of reputation we have flattened the period."

Ähnlich wie beim frühneuzeitlichen Streit um den Dichter Ariost und sein Werk (im Vergleich zu Torquato Tasso) stehen auch bei Emisons Buch die innovative Fragestellung und das reiche Material außer Frage; umso kontroverser dürften dagegen Aufbau, Argumentationsstruktur und eine Reihe von Details gesehen werden: So kreisen etwa alle Überlegungen Emisons dergestalt um das Epitheton divinus, dass die wenigen, sehr langen Kapiteln mit teils weit ausholenden Zusammenfassungen von Bekanntem und zahlreichen Exkursen höchste Anforderungen an die Konzentration des Lesers stellen. Zumal die Aufteilung der Kapitel in - grosso modo -Theorien zu natura und ars, sozialgeschichtlicher Stellung der Künstler, Vergleich mit Dichtern, Vergleich mit Musikern und zweimal Forschungsgeschichte zusätzlich verlangt, zentrale Thesen über viele Seiten hinweg zusammen zusehen (etwa die wichtigen Ausführungen zu künstlerischer Begabung bzw. zum Verhältnis von Liebe, Sexualität und Kreativität, 118f., 158ff., 228f.).

Inwiefern eine wissenschaftliche Aufarbeitung von komplex-verschlungenen Zusammenhänge ihrerseits diese Strukturen abbilden darf oder ob die Leistung nicht gerade darin besteht, auf einer höheren Analyse-Ebene (oder mit Foucault: in einer 'archäologischen Tiefen-Schicht') die möglicherweise von den Zeitgenossen selbst in dieser Klarheit gar nicht erkannten Leitkonstellationen offen zu legen, mag von jedem Leser unterschiedlich eingeschätzt werden. Unabdingbar bleibt jedoch, dass die Diskurs-Zugehörigkeiten präzise nachvollziehbar werden - was bei Emison in mehrerer Hinsicht erschwert wird. Wenn vor allem am Beispiel Michelangelos und seiner Werke eine "history of reputation" entwickelt wird, so fließen in dieser zumindest drei Aspekte zusammen: (1.) Die jeweiligen Vorstellungen des Künstlers zu seiner aktuellen Lebenssituation und seinen Werken in Arbeit, (2.) die nachträgliche und umfassende Selbststilisierung des alternden Michelangelo (in dieser Form für Künstler neuartig), und dann (3.) die unterschiedlichen Rezeptionsmodi und 'Instrumentalisierungen' des Divino durch andere, mehr oder weniger nahe stehende Zeitgenossen. Das bedeutet aber nicht nur, dass für jede Quelle zu diskutieren ist, worin genau ihr Aussagewert liegt, was bei Emision nicht konsequent geschieht. Das bedeutet auch, dass die Erkenntnisse aus der Rezeption nicht einfach auf die Deutung der Werke Michelangelos rückprojiziert werden dürfen, wie es etwa Emisons verstreute Bemerkungen zur Neuen Sakristei mehrfach suggerieren (160f., 247, 262f.).

Aber noch an anderer Stelle charakterisieren 'unklare Diskurse' die Arbeit von Emison - bei ihrem Umgang mit der Sekundärliteratur. Zwar diskutiert die Autorin gleich an drei Stellen die ältere Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts: die Rezeption des Terminus divinus, Michelangelos (Nach-)Ruhm und die Idee vom Renaissance-Künstler als Genie in der Einleitung und im Epilog, sodann in einem eigenen Appendix die "Historiography of Ingegno". Tatsächlich verschleiert diese demonstrative Forschungskritik jedoch mehr dass als sie erhellt. Denn zu den eigentlich zentralen Punkten: der Vorstellung vom 'göttlichen Künstler' sowie dem Zusammenspiel von fama und künstlerischer Produktion, wird der Forschungsstand nur bis zu Panofsky und den Wittkowers referiert, alle neueren Ansätze dagegen scheinen zunächst ignoriert. Namen wie M. Baxandall, D. Summers, M. Kemp oder J. L. Koerner fallen erst im Appendix zu ingegno. Die wegweisende Forschungsdiskussion zum Verhältnis von künstlerischer Wirklichkeit, (kunst-)literarischer Fiktion und dem Zusammenspiel von Rezeption und Produktion, die am Beispiel der Carracci geführt wurde und wird, kommt überhaupt nicht in den Blick. Vielleicht an keiner Stelle des Buches zeigen sich die methodischen, argumentativen und strukturellen Schwächen so deutlich wie am Umstand, dass der für die gesamte Darstellung von Emison zentrale Terminus ingegno, der zunächst mehrfach ohne erkennbare Problematik zur Sprache kommt, erst als eine Art Nachtrag kritisch analysiert wird. Bei alledem sind die Konvergenzen zwischen Emisons Unternehmen und David Summers Michelangelo and the Language of Art von 1981 unverkennbar, wenngleich sowohl Ausgangs- wie Zielpunkte in verschiedene Richtungen deuten: Summers will Michelangelos künstlerisches Denken rekonstruieren, das er aus dem 'Widerhall' in der zeitgenössischen Rezeption rückzuerschließen versucht. Emison entwickelt in erster Linie eine "history of thought about art and artists" der Renaissance, wobei Michelangelo als zentrales Beispiel dient. Skizzierte Summers Michelangelos Denken zwischen den Polen von "Order" und "Fantasy", so entwickelt Emison nun die Alternativen von ars/scientia und (divinum) ingenium /furor. Dabei soll überhaupt nicht bestritten werden, dass Emison wichtige neue Materialien und Gedanken einbringt. Nur hätte sich von Anfang an eine andere 'Einstiegshöhe' in die Problematik finden lassen angesichts der differenzierten Forschungsdiskussion um Summers Thesen. [2]

Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Literatur und ihren Ergebnissen hätte man sich im Übrigen noch an anderen Stellen gewünscht: Warum wird die spektakuläre 'erste' Erwähnung 'göttlicher Künstler' der Antike in Ristoro d'Arezzos Composizione del Mondo von 1282 nur ganz beiläufig vorgestellt (87)? [3] Warum wird Rosso Fiorentinos Brief an Michelangelo von 1526, in dem dessen Werke als "cosa divinamente facta" bezeichnet werden, gar nicht besprochen? [4] Stellt man alle früheren Erwähnungen 'göttlicher' Künstler zusammen, könnte es fast scheinen, die Bedeutung gerade Ariosts für das Konzept des divinus verdanke sich vor allem der Akzentsetzung Emisons. Und wenn es auf Seite 266 zusammenfassend heißt, der Status des Künstlers habe sich zwischen Brunelleschi und Michelangelo radikal gewandelt und dies resultiere insbesondere aus den 'mobilen' Lebensumständen der Republiken Florenz und Venedig im Gegensatz zum traditionsverbundenen und 'engen' Klima der Höfe, fühlt man sich an alte Handbuchweisheiten und die Anfänge der Kunstsoziologie erinnert, jedenfalls nicht an eine Revision unserer Sicht auf die Renaissance.

So bedauert man angesichts des reichen Fundus an Ideen und Material, den Emisons Buch enthält, nur umso mehr, dass die Autorin durch ihre Entscheidung, keine klaren Wege durch die selva oscura der zeitgenössischen Diskussionen und Vorstellungen zu schlagen, nicht nur dem Leser, sondern manchmal auch sich selbst die Sicht auf grundlegende Ideen verstellt hat - ein Problem, das in diesem Fall zwar nicht Ariost, aber immerhin bereits sein Konkurrent Tasso im Zusammenhang mit dem 'göttlichen Dichter' vermerkt hatte.

Anmerkungen

[1] Bemerkenswerterweise äußert sich Emison kaum zu den theologischen Implikationen des Begriffs, dazu etwa U. Langer: Divine and Poetic Freedom in the Renaissance. Nominalist Theory and Literature in France and Italy, Princeton 1990.

[2] Beginnend mit der Rezension von E. Cropper. In: Art Bulletin, 65, 1983, 157-162.

[3] M. Donato: Un "savio depentore" fra "scienza delle stelle" e "sutilitô" dell'antico : Restoro d'Arezzo, le arti e il sarcofago romano di Cortona. In: Studi in onore del Kunsthistorisches Institut in Florenz per il suo centenario (1897-1997) (Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia: Quaderni http://www.kubikat.org/mrbh-cgi/kubikat_en.pl?t_acindex=x&index=SER&s1
=Annali+della+Scuola+Normale+Superiore+di+Pisa%2C+Classe+di+Lettere+e+
Filosofia+%3A+Quaderni
; 4. Ser. 1996, 1/2), Pisa 1996, 51-78.

[4] Dazu St. J. Campbell, "Fare una Cosa Morta Parer Viva": Michelangelo, Rosso, and the (Un)Divinity of Art. In: Art Bulletin, 84, 2002, 595-620.

Rezension über:

Patricia A. Emison: Creating the "Divine" Artist. From Dante to Michelangelo (= Cultures, Beliefs and Traditions. Medieval and Early Modern Peoples; Vol. 19), Leiden / Boston: Brill 2004, xv + 388 S., ISBN 978-90-04-13709-7, EUR 112,00

Rezension von:
Ulrich Pfister
Institut für Kunstgeschichte, Universität Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Pfister: Rezension von: Patricia A. Emison: Creating the "Divine" Artist. From Dante to Michelangelo, Leiden / Boston: Brill 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/09/9828.html


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