sehepunkte 6 (2006), Nr. 9

Gottfried Schramm: Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte

Das schön geschriebene Buch ist bescheiden und anspruchsvoll zugleich. Bescheiden ist es, weil der Verfasser immer wieder betont, es sei nur ein "großer Essay", er stelle seine Thesen nur zur Diskussion und sie sollten keine "Gesetzmäßigkeiten", sondern nur "ungefähre Gemeinsamkeiten" bezeichnen. Anspruchsvoll ist es aber schon durch die Tatsache selbst, dass überhaupt ein sorgfältig komponiertes Buch daraus gemacht worden ist, und auch durch die Behauptung, dass es sich bei den sehr weit auseinanderliegenden "Wegscheiden" denn doch um eine "durchlaufende Geschichte" der gesamten jüdisch-christlich-europäischen Geschichte handele.

Die fünf "Wegscheiden" sind die Entstehung der monotheistischen Religion durch Moses, die auf den sozusagen dissidentischen Pharao Echnaton zurückzuführen sei, die Entstehung oder besser Formung des Christentums etwa 30-50, die Entstehung des Protestantismus 1510-1530, die amerikanische Revolution 1760-1780, und die russische revolutionäre Bewegung unter den Intellektuellen der Jahre 1860-1880. Zehn Gemeinsamkeiten, als Ergebnisse leserfreundlich an den Anfang gestellt, sind, kurz zusammengefasst, dass die Neuerer bisher Bestehendes nicht abschaffen, sondern nur auf seinen Wesenskern zurückführen wollten; dass der entscheidende Vorgang jeweils nur einen kurzen Zeitraum umfasste; dass das Bisherige nicht verschwand, sondern weiterexistierte; dass egalitäre Vorstellungen zugrunde lagen; dass das Neue absolute Wahrheit für sich beanspruchte und mit missionarischen Vorstellungen einher ging; dass es nicht in Gebieten hoher "Kulturdichte" stattfand, sondern von der Peripherie ausging; dass das Bisherige nicht im Abstieg begriffen, sondern nach wie vor vital war; dass herausragende Gestalten jüngeren Lebensalters die treibenden Kräfte waren; dass die Bewegung nicht von einer Zentrale, sondern gleichzeitig von verschiedenen "autonomen" Stellen ausging; dass es Texte mit verbindlichem Anspruch gab.

Man sieht, wie auch Schramm selbst sagt, dass nicht alles auf alles zutrifft, jedoch sind die Gemeinsamkeiten so groß, dass man als gutwilliger Leser sagen kann, gelegentliche Abweichungen, die am schärfsten bei den russischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts hervortreten, seien die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Man sieht ebenfalls, dass die Quellenbasis sehr unterschiedlich ist. Am fragilsten ist sie bei dem ersten Kapitel, dem die hochkomplexen Zeugnisse der Amarna-Texte und des Pentateuch zugrunde liegen und bei dem sich Schramm in besonderem Maße auf die wissenschaftliche Literatur verlassen muss. Ähnlich ist die Situation im zweiten Kapitel. Die Texte des Neuen Testaments und insbesondere die Evangelien sind in ihrem historischen Aussagewert für das Leben Jesu von sehr fraglichem Wert, und auch hier war fachlicher Rat besonders notwendig. Schramm nennt zu Beginn des Buches seine Gewährsmänner, zwei für jedes Kapitel, und eindrucksvoll ist, dass er im Verlauf des Buches gelegentlich von Kontroversen zwischen ihm und den jeweiligen Fachkollegen berichtet und sich gegebenenfalls gegen sie stellt. Im Übrigen ist die wissenschaftliche Literatur sparsam herangezogen worden, Arbeiten der Gewährsmänner nehmen oft durchaus prominente Plätze ein.

Zwei weitere Bemerkungen über die Zufälligkeit der Quellenlage zum Anfang, zum Teil auch von Schramm erwähnt, und über die Kontingenz der historischen Erkenntnis zum Ende des Buches: Die Amarna-Episode wurde nach ihrem Ende von den Ägyptern sofort wieder verdrängt und erfolgreich aus dem Bewusstsein gestrichen mit dem Ergebnis, dass auch die neuzeitliche Wissenschaft von ihr zunächst nichts wusste. Erst seit den endgültigen Ausgrabungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat man genaue Vorstellungen von ihr, und seit dieser Zeit griff in der westlichen Welt der Echnaton- und erst recht der Nofretete-Kult (im säkularen Sinne) um sich. Wohl die meisten Ägyptologen stehen dem sehr skeptisch gegenüber und nennen Echnaton distanzierend mit seinem eigentlichen pharaonischen (gräzisierten) Namen Amenophis (IV.). Schon deshalb ist also Vorsicht geboten, dass man sich über die ganz spezifische neuzeitliche Rezeption im Klaren sein und sie berücksichtigen muss. Es kommt hinzu, dass diese Funde einmalig sind, und ohne nun dem alten Archäologenspruch "Einmal ist keinmal" absolute Geltung beizumessen, muss doch in die Überlegungen einbezogen werden, dass eines Tages weitere Entdeckungen gemacht werden könnten, die ein völlig anderes Bild ergäben - allerdings auch solche, auf die die Fortsetzung zuträfe, die da lautet: "Zweimal ist immer".

Das Buch endet mit kurzen Betrachtungen über den endgültigen Zusammenbruch des Sowjetsystems, also sozusagen dessen, was Schramm richtigerweise als Fortsetzung und wenn auch sehr spezifische Erfüllung der revolutionären Gedankengänge der von ihm behandelten Phase des 19. Jahrhunderts betrachtet. Ich habe den Eindruck, dass dieser Zusammenbruch nicht ohne Auswirkungen auf seine Würdigung der gesamten russischen Geschichte der letzten anderthalb Jahrhunderte geblieben ist, wie auch dessen gelegentliche Erwähnung im Text vermuten lässt. Man hätte natürlich gerne gewusst, wie sein Blick auf diese Epoche aussah oder ausgesehen hätte, wenn das Buch vor dem Ende der Sowjetherrschaft abgeschlossen worden wäre. Er meint jetzt, "bei so vielen und gravierenden Schwächen darf der traurige Ausgang nicht überraschen", und wenn er fortfährt, man könne darüber "rätseln, warum so wenige Menschen im Osten wie im Westen die nahende Katastrophe vorausgesagt haben", dann hat offenbar auch er sie nicht kommen sehen, und auch ihn hat sie überrascht. Wie also wäre vorher seine Beurteilung ausgefallen, wenn er es mit einem - scheinbar - stabilen Sowjetsystem zu tun gehabt hätte?

Viele Erkenntnisse Schramms leuchten unmittelbar ein, man erfährt viel Neues, was deshalb nicht überraschen kann, weil nun wirklich niemand beanspruchen darf, ein Kenner aller fünf Vorgänge zu sein, und auch deshalb muss - von den eben gemachten kurzen Bemerkungen abgesehen - eine Detailauseinandersetzung im Rahmen dieser Rezension unterbleiben; dazu wären umfangreiche Arbeiten erforderlich. Zu einer seiner zehn "Gemeinsamkeiten" aber doch einige Bemerkungen, weil sie mich teils besonders überzeugt hat, teils überraschend war. Er sagt wohl mit Recht, dass das, wogegen sich die neuen Bewegungen jeweils gewandt hatten, keineswegs im Niedergang begriffen, sondern im Gegenteil stabil und vital war. In der Tat, das war so, und das erkennt man eben daran, dass das Alte nicht durch das Neue abgelöst wurde, sondern weiter bestand - der Polytheismus, das Judentum, der Katholizismus, der englische Parlamentarismus. Daher auch die weitere Gemeinsamkeit, dass es "Wegscheiden" waren, also eine Gabelung der Entwicklung im Sinne seiner dritten Gemeinsamkeit stattfand. Nur in Russland liegt es wohl anders, oder sollte man die augenblickliche Situation als Zeichen für die Lebenskraft des Alten werten?

Hier überrascht nun den allgemein historisch Gebildeten oder wenigstens Interessierten, wie sehr Schramm betont, dass das zaristische Russland keineswegs ohnehin ein verfaultes oder untergehendes System gewesen sei, sondern wie tief greifend, ernst und ernst zu nehmen die Reformen seit der Bauernbefreiung durch Alexander II. (nicht I., wie bezüglich des Attentats auf ihn durch einen Druckfehler auf 340 zu lesen ist) gewesen seien. Oder sollte das auch eine Betrachtung ex eventu sein? Ich glaube nicht.

Alles in allem wird hier ein äußerst interessanter Versuch einer neuen Geschichtsdeutung vorgelegt, der das Zeug hat, an die Seite früherer großer Konzepte zu treten. Seine "Gemeinsamkeiten" lösen sich vollständig von allen anderen Kategorien, die jetzt hier nicht aufgezählt werden müssen. Nicht nur die bisherigen Deutungen und deren Kategorien werden einfach und stillschweigend über Bord geworfen, auch die bisher gängigen Periodisierungen mit ihren Epochen und Geschichtsabschnitten und die entsprechenden Einschnitte im historischen Geschehen. Die Französische Revolution etwa wird zwar durchaus bemerkt, aber nur in dem Sinne, dass die amerikanische ihr vorausgegangen ist, sonst fehlt sie. Schramm schreibt europazentrisch, schon das ist eine mutige Tat, für die er sich anerkennenswerter Weise nicht entschuldigt, aber es fällt doch auf, dass Ostasien inexistent ist, ebenso wird via Echnaton, Moses und Jesus die gesamte Antike übersprungen oder findet nur akzessorische Erwähnung. Der gelegentlich Zeitgeschichte betreibende Althistoriker beklagt sich hier nicht, sondern bemerkt es nur. Sehr zu wünschen ist also eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser neuen Sicht auf die Geschichte. Was mag dabei herauskommen?

Rezension über:

Gottfried Schramm: Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte. Ein Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 391 S., ISBN 978-3-525-36730-8, EUR 36,90

Rezension von:
Wolfgang Schuller
Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Schuller: Rezension von: Gottfried Schramm: Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte. Ein Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/09/7186.html


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