Rezension über:

Klaus Wisotzky: 125 Jahre Historischer Verein für Stadt und Stift Essen (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Essen; Bd. 117), Essen: Klartext 2005, 272 S., ISBN 978-3-89861-593-8, EUR 25,00
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Rezension von:
Stefan Pätzold
Stadtarchiv Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Pätzold: Rezension von: Klaus Wisotzky: 125 Jahre Historischer Verein für Stadt und Stift Essen, Essen: Klartext 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/10768.html


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Klaus Wisotzky: 125 Jahre Historischer Verein für Stadt und Stift Essen

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In einem Lokal am Kopstadtplatz in Essen trafen sich am Abend des 27. Oktobers 1880 insgesamt 32 Bürger der Stadt, um - wie es im Gründungsaufruf hieß - einen "Lokalverein für die Erforschung der heimischen Geschichte und Konservirung der vorhandenen Denkmäler" ins Leben zu rufen. Man stimmte den von einem Ausschuss zuvor erarbeiteten Statuten zu und wählte einen neunköpfigen Vorstand. So entstand der "Historische Verein für Stadt und Stift Essen". Im Jahr 2005 feierte er sein 125-jähriges Bestehen.

"Jubiläen sind zumeist auch der Anlass, Rückschau zu halten. In der Regel wird eine Festschrift herausgegeben, in der die Erfolge der zu feiernden Institution geschildert werden. Dunkle Kapitel der Geschichte werden schnell übergangen, wenn sie überhaupt Erwähnung finden. Der Historische Verein weicht bewusst ab von dieser Art der Vergangenheitsschilderung. Er will keine Jubelschrift vorlegen, sondern will seine Geschichte kritisch betrachtet wissen". Zu diesem Auftrag und Anspruch bekennt sich in seinem Vorwort (7) der Verfasser der Festschrift Klaus Wisotzky. Der Leiter des Essener Stadtarchivs, der zugleich stellvertretender Vorsitzender des Historischen Vereins sowie Herausgeber der 'Essener Beiträge' ist, benennt damit den Maßstab, an dem sein Werk zu messen ist.

Vor einer Bewertung des Buches hat freilich die Beschreibung seines Inhalts zu stehen. Klaus Wisotzky legt seine Darstellung chronologisch an. In neun Kapiteln überblickt er die Vereinsgeschichte. Im ersten Abschnitt beschreibt er "Die Vereinsgründung und die ersten Aktivitäten" (9-37). Es folgen die Kapitel (2.) "Der neue Vorsitzende Dr. Konrad Ribbeck - Der Historische Verein in den Jahren 1894-1914" (39-82), (3.) "Der Historische Verein in der Weimarer Republik" (83-102), (4.) " ,... der lebenden Generation Halt und Stärkung geben' - Der Historische Verein in den Jahren 1930-1945" (103-146), (5.) "Die langen 1950er Jahre" (147-172), (6.) "Neuanfang in schwieriger Zeit" (173-190), (7.) "Krisenhafte Zeiten" (191-203), (8.) "Der Historische Verein heute" (205-216) und (9.) "Impressionen von der 125-Jahr-Feier" (217-226). Am Ende des Bandes findet man ein Schlusskapitel, ausführliche Quellen- und Literaturhinweise, einen Personenindex, einen umfänglichen Anhang über "Die Vortragsveranstaltungen des Historischen Vereins 1880-2005" sowie die Nachweise für die zahlreichen in den Text eingestreuten Abbildungen (227-271).

Innerhalb dieser Kapitel widmet Wisotzky seine Aufmerksamkeit durchgängig den gleichen, immer wieder begegnenden Gesichtspunkten, die er aber nicht schematisch abarbeitet: Neben den prägenden Persönlichkeiten, zumeist den Vorsitzenden und einigen (wenn auch nicht allen) Mitgliedern des Vorstandes, behandelt er die Veränderungen der Mitgliederzahl des Vereins sowie dessen soziale Zusammensetzung, Merkmale und Zeitgeist der jeweiligen Epoche sowie deren Wirkung auf Selbstverständnis und Vereinsleben sowie die Rolle des Vereins innerhalb des kulturellen Lebens der Stadt. Breiten Raum nimmt überdies die Schilderung der Vereinsaktivitäten ein, also der Vortragsveranstaltungen, Exkursionen und besonders der Herausgabe der 'Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen' (später: 'Essener Beiträge').

Mit diesem Spektrum der von ihm angesprochenen Gesichtspunkte berührt Klaus Wisotzky gleich mehrere Themen der lokalen wie der überregional orientierten Forschung. Das Werden und den Wandel eines städtischen Geschichtsvereins darzustellen, ist ein wesentlicher Beitrag zur Erforschung der Genese von Geschichtsvereinen im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und zugleich auch zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der bürgerlichen (Geschichts-) Kultur jener Epoche. Auf entsprechende jüngere Untersuchungen zu diesen Aspekten verweist der Verfasser, ohne sich freilich zu den in ihnen geführten Diskussionen zu äußern (11 f.).

Wisotzkys Buch ist darüber hinaus ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Essener Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie des Umgangs der Bürgerinnen und Bürger Essens mit ihr. Hier schöpft der Stadtarchivar aus dem Vollen. Wer sich für das Zustandekommen und den spezifischen Charakter von Institutionen, Aktivitäten und Publikationen zur Essener Stadtgeschichte während der vergangenen 125 Jahre interessiert, findet bei Wisotzky Hinweise und Informationen in Hülle und Fülle (etwa zu Konrad Ribbecks Geschichte der Stadt Essen (58-63), zu Wilhelm Sellmanns Essener Bibliographie (185 f.) oder zum Ruhrlandmuseum (201-203)).

Die umfangreichsten Kapitel sind den Aktivitäten des Vereins in der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und dem 'Dritten Reich' gewidmet. Gerade im letzten dieser Abschnitte wird an den klaren Urteilen des Verfassers deutlich, dass er die Absicht hat, Dinge offen anzusprechen, die um eines ausgewogenen Urteils willen gesagt werden müssen. Zum Beispiel: "Der gern zitierten Vereinserzählung nach drohte nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Gleichschaltung, gar das Verbot und die Auflösung des Vereins [...]. Für diese Aussage aber fehlte jeglicher Beleg. [...] Ein solches Dokument hat es höchstwahrscheinlich gar nicht gegeben, denn - so ist kritisch zu hinterfragen - warum sollten die Nationalsozialisten einen Verein auflösen, der sie hofierte und der bereit war, sich den neuen Verhältnissen anzupassen" (114).

Auch an der Haltung des Vorstandes und der Mitglieder während späterer Phasen der Vereinsgeschichte übt Wisotzky Kritik, etwa wenn er "das Verdrängen der eigenen Schuld und [...] das Ergehen ins Selbstmitleid" während der unmittelbaren Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre (153) thematisiert oder aber im Hinblick auf die Entwicklung des Vereins in den siebziger Jahren feststellt: "Trotz aller Anstrengungen und der engagierten Arbeit der Vorstandsmitglieder verlor der Historische Verein an Bedeutung" (188). Denn er setzte sich mit seinen Aktivitäten "deutlich ab von dem aktuellen Geschichtsinteresse, das bestimmt wurde von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Erforschung der Arbeits- und Lebenswelt der Arbeiterschaft" (190).

Die Sammlung dieser kritischen Stellen soll nun keineswegs den Eindruck erwecken, Klaus Wisotzky sei ein notorischer Kritikaster. Nichts wäre falscher und läge dem Berichterstatter ferner. Die Textstellen sollen vielmehr die Tugend des Verfassers und den großen Vorzug seiner Darstellung hervorheben: den Willen und die Fähigkeit zu kritischen und eigenständigen Urteilen. Wisotzky, der stellvertretende Vorsitzende, schreibt für 'seinen' Verein aus professioneller Distanz eine wissenschaftlich fundierte und ausgewogene Festschrift, die dem Verein und dessen Anliegen einen sehr guten Dienst leistet. Ein solches Buch herauszubringen, das klar gegliedert, in angenehmem Stil geschrieben und gut bebildert ist, erweist sich als aller Ehren wert. Wisotzky wird - nach dem von ihm selbst im Vorwort eingeführten Maßstab - seiner Aufgabe vollkommen gerecht.

Stefan Pätzold