sehepunkte 6 (2006), Nr. 6

Eric J. Engstrom / Volker Hess / Ulrike Thoms (Hgg.): Figurationen des Experten

Wissenschaftliche Expertise ist aus dem modernen politischen Prozess nicht mehr wegzudenken. Kommissionen und Enqueten begleiten allenthalben die politische Entscheidungsfindung, wobei sich die beratenden Experten oft zwischen den Polen "Wissenschaft", "Politik" und "Öffentlichkeit" bewegen. Der Sammelband "Figurationen des Experten", der auf eine 2002 abgehaltene Tagung zurückgeht, richtet sein Augenmerk auf die Phase der Entstehung dieser Sozialfigur um 1800. Freilich mag es problematisch sein, die Berater jener Zeit als "Experten" im modernen Sinn zu bezeichnen, wie die Herausgeber auch einräumen. Eine solche Untersuchung aber öffne den Blick für die "Figurationen, d.h. auf die Interaktionsprozesse und Verflechtungsmuster, die das historische Ensemble für die Genese des Experten bildeten" (9). Der Band vereint sehr heterogene Beiträge, die ganz unterschiedlichen Ausprägungen des "wissenschaftlichen Experten" aus verschiedenen methodischen Blickwinkeln nachspüren, häufig allerdings mit einem besonderen Interesse an dem Verhältnis zwischen "Experten" und der sich neu formierenden Öffentlichkeit.

Aus medizinhistorischer Perspektive fragt zunächst Thomas Broman nach der Herausbildung von Expertensphären am Ende des 18. Jahrhunderts. Nachdem ärztliches Wissen spätestens seit der Antike stets auch als Expertenwissen gelten konnte, richtet sich Bromans Interesse auf die Veränderungen, denen der Begriff des "Experten" zum Ende des 18. Jahrhunderts unterworfen wurde, als "Öffentlichkeit" zu einem zentralen Merkmal der Aufklärung in Deutschland wurde. In umfangreichen einleitenden Passagen ist Broman um Abgrenzung gegenüber verschiedenen Auffassungen vom Status des "Expertenwissens" bemüht, ohne dass es ihm immer gelingt, seine Position stringent und nachvollziehbar zu machen. Soviel scheint aber nach der Lektüre dieses mitunter mäandrierenden Beitrages deutlich: Im Umfeld einer sich im 18. Jahrhundert neu herausbildenden öffentlichen Sphäre, die von "Kritik" und einem florierenden Nachrichtenwesen geprägt war, sahen sich Ärzte zunehmend vor das Problem gestellt, ihren Status als Experten zu wahren, nicht zuletzt gegenüber einer breiten und erfolgeichen medizinischen Ratgeberliteratur, deren Autoren keineswegs immer einen medizinischen Hintergrund vorweisen konnten. "Die Lösung dieses Problems erfolgte [...], indem die Ärzte ihre heilkundlichen Anordnungen (die meistenteils auf dem gesunden Menschenverstand beruhten) mehr oder weniger als theoretische Schlussfolgerungen ihres Expertenwissens inszenierten" (37). Auch Ulrike Thoms rekonstruiert an einem medizinhistorischen Beispiel - der Arzneimittelaufsicht während der ersten Jahrzehnte nach 1800 in Preußen - das Verhältnis zwischen verschiedenen Expertengruppen und einer (engeren) Fachöffentlichkeit. Wichtig ist hier wie auch in anderen Beiträgen das Ergebnis einer keinesfalls als statisch zu verstehenden Expertise - diese war vielmehr einem ständigen Aushandlungsprozess unterworfen, der auch von der Entstehung neuer Disziplinen bzw. deren wechselnder Abgrenzung voneinander beeinflusst wurde.

Ebenfalls die "Öffentlichkeit" als zentrales Widerlager jeden "Expertentums" thematisieren die Beiträge von Susanne Deicher und Andrea Hofmeister. Deichers Beitrag geht von einer viel rezipierten Schrift Wilhelm von Humboldts aus dem Jahr 1792 aus: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen". Der Autorin gelingt es jedoch in den Augen des Rezensenten nicht, die Inhalte dieses Textes überzeugend mit seinen Entstehungsbedingungen zu verbinden und auf die Begriffe "Öffentlichkeit" und v. a. "Experten" zurück zu beziehen. Demgegenüber entwickelt Hofmeister eine wesentlich deutlichere Problemstellung, wenn sie nach der Herausbildung einer "Öffentlichkeitspolitik" in Preußen um 1800 und der Rolle von Experten in diesem Politikfeld fragt - "Öffentlichkeit" war hier nicht nur Gegenpart, sondern auch Gegenstand der Expertise. Wichtigstes Ergebnis ihres Beitrages ist wohl die Rekonstruktion eines Status' der "Unabhängigkeit" jeder Expertise, die sich in den Jahrzehnten nach 1800 auch gegenüber einem preußischen Staat herausbildete, der sich mehr und mehr von den reformerischen Impulsen der ersten Jahre verabschiedet hatte. Gleichwohl war es auch schon im spätabsolutistischen, nicht erst im demokratischen Staat möglich, dass eine städtische Öffentlichkeit zum kritischen Adressaten von Reformen wurde, ganz analog zur Rolle des Zeugen eines naturwissenschaftlichen Experimentes, wie Anna Märker in ihrem lesenswerten Beitrag über die Reformkonzepte des Grafen Rumford in Bayern in den Jahren vor 1800 zeigt.

Den Bergbauexperten wendet sich in vergleichender Perspektive Jakob Vogel zu; er fragt nach der historischen Genese des modernen Bildes vom Experten als einer "unabhängige[n], von allen staatlichen wie privaten Interessen freie[n] Persönlichkeit [...], die sich durch ihr wissenschaftlich-technisches, akademisch anerkanntes Spezialwissen, aber auch durch eine weitreichende praktische Erfahrung in einem bestimmten Tätigkeitsfeld" (79) auszeichne. Zunächst untersucht Vogel die herausragende Bedeutung der 1765 im sächsischen Freiberg gegründeten Bergbauakademie, die ein kameralistisches Wirtschaftsmodell als Basis vermittelte und dieses mit einem breiten Ausbildungsprofil kombinierte, das sowohl mathematisch-naturwissenschaftliche als auch praktische Aspekte der Bergbautechnik umfasste. Am aufschlussreichsten ist sodann der vergleichend vorgehende Abschnitt, in dem Vogel die vielfältigen Anpassungsprozesse des Freiberger Modells in Preußen, Österreich und Frankreich herausarbeitet: Je nachdem beispielsweise, ob in Staaten, die dieses Modell adaptierten, die Salzgewinnung zum traditionellen Kanon des Bergbaus gehörte oder nicht, entwickelte sich das Profil des Bergbauexperten ganz unterschiedlich. Dieser Umstand lässt Vogel - hierin dem Beitrag von Thoms vergleichbar - das Bild einer "stabilen" Expertise, eines fest gefügten Feldes der Expertise zurückweisen und dieselbe vielmehr als Ergebnis eines je unterschiedlich verlaufenden historischen Prozesses verstehen.

Ähnlich wie Vogel arbeitet auch Stefan Brakensiek die Dynamik heraus, der Expertenkonfigurationen unterliegen können: Am Beispiel der Agrarexperten und ihrem gesellschaftspolitischen Einfluss um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert demonstriert er schlüssig zunächst die "Entstehung eines diskursiven Feldes" seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hier waren es sowohl Kameralisten als auch engagierte Amateure, deren Konzepte zur Anhebung des Bodenertrages auch bei einer Reihe von deutschen Fürsten auf Interesse stießen. Die Vernetzung über wissenschaftliche Gesellschaften wie auch insbesondere die Ausschreibung von Preisfragen spielten eine besondere Rolle bei der Konstituierung dieser Expertengruppen. Nach einer Krise des Agrardiskurses im Gefolge der Französischen Revolution (als die deutschen Fürsten Eingriffen in die Agrar- und damit die Gesellschaftsordnung weitaus zurückhaltender gegenüberstanden) erlangten Agrarexperten wie Albrecht Daniel Thaer im Preußen der Reformzeit zu überragendem Einfluss, den Brakensiek vor dem Hintergrund einer in ihrer Reichweite kaum zu überschätzenden Rezeption Adam Smiths deutet: Die Orientierung der landwirtschaftlichen Produktionsweise an der Rentabilität des Betriebes entkleidete den Agrarbetrieb anderer Aufgaben, die ihm im Gefüge einer vormodernen Sozialordnung noch zugeschrieben worden waren, und zeichnete den Landwirt in erster Linie als gewinnorientierten Unternehmer. Für die Jahrzehnte nach 1820 konstatiert Brakensiek sowohl eine Professionalisierung als auch eine Bürokratisierung, die der Autor als "Einhegung" der Expertise durch eine immer weiter um sich greifende Bürokratie versteht - eine bürokratische Durchdringung der Gesellschaft, die aber auch, anders als noch vor 1800, die Durchsetzung von Agrarreformen auch sicherstellen konnte.

Stefan Haas beobachtet die wechselseitige Stabilisierung des medizinischen Expertensystems und des politisch-administrativen Systems in Preußen um 1800. Vor dem Hintergrund eines sich seit 1740 verdichtenden Diskurses zur Frage des "Scheintodes" traten zunehmend medizinische Experten auf den Plan, die Kriterien zur näheren Bestimmung der Grenze zwischen Leben und Tod anboten und vor allem nach Anzeichen suchten, wie sich der dem Anschein nach leblose (aber vielleicht im Kern doch noch lebendige) menschliche Körper vom toten Körper sicher unterscheiden lasse. Diese Mediziner, unter ihnen C.W. Hufeland, suchten insbesondere den Verfall des toten Körpers im Zeitverlauf als ein solches Kriterium zu etablieren, was nur auf der Grundlage einer mehrtägigen Aufbahrung möglich war - dieses Vorhaben wiederum kollidierte mit der verbreiteten Praxis, die Gestorbenen so rasch als möglich zu beerdigen. Durchsetzen ließ sich die Aufbahrung daher nur mittels des politisch-administrativen Systems. Dieses war in der Reformzeit nach 1806 seinerseits daran interessiert, Handlungsfelder wie das der Bestattungsrituale neu zu besetzen, weshalb es sich gerne der medizinischen Expertise bediente, ohne dass es dem politisch-administrativen System in erster Linie darum gegangen wäre, die Bestattung Scheintoter zu verhindern. Sehr deutlich kann der Autor in diesem Beitrag zwei Dinge zeigen: Zum einen die Funktion des Experten, politisch-administrative Entscheidungen zu legitimieren, und zum anderen das Bedürfnis des politischen Systems, Entscheidungen an andere Orte zu verlagern, um Legitimität zu gewinnen.

Karl Hildebrandt schließlich skizziert in seinem klar strukturierten Beitrag zentrale Wegmarken der Statistik um 1800 vor allem in Deutschland, England und Frankreich. Eine wesentliche Verschiebung im Charakter der Statistik setzte zu dieser Zeit ein, als es immer weniger private Datensammler waren, die für statistische Überblicksdarstellungen zu einem Staatswesen verantwortlich zeichneten, sondern staatliche Beamte, die Zuarbeit für statistische Großprojekte leisteten. Dieser Prozess ist als Teilprozess der Herausbildung des modernen Verwaltungsstaates zu verstehen. Besonders augenfällig wird der Wandel am Beispiel der französischen Departementalstatistik skizziert, die der französische Innenminister in den Jahren nach 1800 zu implementieren suchte, dabei aber noch auf eine Reihe von Hindernissen stieß.

Ohne dass hier alle Beiträge gleichgewichtig vorgestellt werden konnten, lässt sich konstatieren, dass der Band als ganzer interessante Einblicke in die Entstehungsphase des Verhältnisses zwischen Expertenwissen, Politik und Öffentlichkeit bietet. Es ist lohnend, sich diese frühen Entwicklungen auch dann zu vergegenwärtigen, wenn der zeitliche Schwerpunkt aktueller Forschungen zum Phänomen "Expertentum" eher auf gegenwartsnäheren Epochen liegt. Unklar bleibt allein, weshalb der Beitrag von Joachim Westerbarkey ("Illusionsexperten") aufgenommen wurde: Vorwiegend auf einer Literaturbasis aus den 1970er-Jahren reißt der Autor feuilletonistisch Möglichkeiten der Verstellung und Täuschung an, ohne dass ein Erkenntnisgewinn sichtbar würde.

Rezension über:

Eric J. Engstrom / Volker Hess / Ulrike Thoms (Hgg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte; Bd. 7), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 229 S., ISBN 978-3-631-51846-5, EUR 42,50

Rezension von:
Michael C. Schneider
Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Michael C. Schneider: Rezension von: Eric J. Engstrom / Volker Hess / Ulrike Thoms (Hgg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/06/8095.html


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