Rezension über:

Peter Gatrell: A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I (= Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies), Bloomington, IN: Indiana University Press 2005, xiv + 317 S., ISBN 978-0-253-21346-4, USD 24,95
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Rezension von:
Georg Wurzer
Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Georg Wurzer: Rezension von: Peter Gatrell: A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I, Bloomington, IN: Indiana University Press 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/9942.html


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Peter Gatrell: A Whole Empire Walking

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Das von dem britischen Geschichtsprofessor Gatrell vorgelegte Paperback stellt eine Neuauflage seiner Monografie von 1999 dar, die mit einer Reihe von Fachpreisen ausgezeichnet wurde. Sie ist einem Thema gewidmet, dem bisher in der Forschung wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Dies ist umso erstaunlicher, da es sich bei den Flüchtlingen in Russland im Ersten Weltkrieg um ein Massenphänomen handelte, wie der Autor insbesondere mit den Statistiken in seinem Anhang deutlich macht. Es werden Zahlen von bis zu 7,5 Millionen Betroffenen genannt.

In seiner Einleitung definiert der Verfasser die Ziele seiner Untersuchung. Die Analyse der Flüchtlingsproblematik füge nach Gatrell der Erforschung der Revolution von 1917 ein weiteres Element hinzu. Darüber hinaus wird der Einfluss des Krieges bei der Schaffung einer neuen sozialen Kategorie betrachtet, die nicht in die herkömmliche gesellschaftliche Schichtung des zarischen Russland passte. Der Autor führt aus, dass er sowohl die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmung der Flüchtlinge untersuchen will. Bis zu welchem Grad verliehen die Flüchtlinge ihren Erfahrungen Sinn in Bezug auf ihre nationale Identität? Die Flüchtlinge lösten die Revolution von 1917 nicht aus, trugen aber dazu bei, den Staat genauso wie die Gesellschaft zu destabilisieren. Danach beschäftigt sich Gatrell in acht Kapiteln mit verschiedenen Aspekten der Situation der Flüchtlinge. In jedem Kapitel werden die Ergebnisse in einem entsprechenden Abschnitt noch einmal gesondert präsentiert, was die Lesbarkeit des Werkes erheblich erhöht. Das erste Kapitel untersucht die politischen und militärischen Entscheidungen, die eine Vertreibung der Einwohner des Frontbereichs in das Innere Russlands nach sich zogen. Eindringlich macht der Autor deutlich, wie vor allem Angehörige von ethnischen Minderheiten zu Flüchtlingen gemacht wurden, in erster Linie die Juden, denen eine geheime Sympathie für die Mittelmächte unterstellt wurde. Anschaulich schildert Gatrell die Leiden auf dem Weg nach Osten. Im folgenden Abschnitt stellt er die Organisation der Hilfe für die Flüchtlinge dar und verdeutlicht, wie diese zu einem Spielball des Konflikts zwischen gesellschaftlichen und staatlichen Initiativen wurden. Unter staatlichem Druck waren die gesellschaftlichen Vereinigungen schließlich gezwungen, sich von der Hilfsarbeit zurückzuziehen. Das dritte Kapitel ist der Ansiedlung der Flüchtlinge und ihrer Unterstützung vor Ort gewidmet. Vor allem der Unterschied zwischen Stadt und Land wird hervorgehoben. Sinnfällig wird das Entstehen von privaten und öffentlichen Hilfsaktionen geschildert, wobei hier einige Stellen aus dem vorigen Kapitel wiederholt werden. Das vierte Kapitel hat die Konstruktion des Bildes des Flüchtlings in den Massenmedien und der öffentlichen Meinung des Russischen Reiches überhaupt zum Gegenstand. Die Flüchtlinge wurden als hilflose Opfer geschildert. Besondere Aufmerksamkeit wurde in der zeitgenössischen Publizistik auf die soziale Deklassierung der Flüchtlinge gelegt. Selten wurden sie als gleichberechtigte Bürger portraitiert. Eine scharfe Grenze wurde zwischen ihnen und den vyselency gezogen, unter denen die zwangsweise evakuierten deutschen Siedler verstanden wurden, die praktisch rechtlos waren. Daraufhin betrachtet der Autor den sozialen und rechtlichen Status des Flüchtlings. Dann folgt ein - besonders gelungenes - Kapitel über die in der damaligen Wahrnehmung virulente Geschlechterproblematik unter den Flüchtlingen. Es erinnert daran, dass die meisten Flüchtlinge weiblich waren. Damals wurde vor allem die sittliche Gefährdung der Flüchtlingsfrauen und -mädchen hervorgehoben und davor gewarnt, dass sie der Prostitution anheim fallen könnten. Durch den Krieg wurden die überkommenen Geschlechterrollen erschüttert. Im Folgenden analysiert Gatrell die schlechte Lage der Vertriebenen auf dem Arbeitsmarkt. Nur ein geringer Prozentsatz von ihnen befand sich im arbeitsfähigen Alter und oft wurde ihnen nur ein Bruchteil der üblichen Löhne bezahlt. Die Flüchtlinge galten teilweise als arbeitsscheu. Das siebte Kapitel hat die Konstruktion der "nationalen Identität" zum Gegenstand. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor den Bemühungen der nationalen Vertriebenenverbände die Besonderheiten ihrer Ethnie zu erhalten und ihre Assimilation mit den Großrussen zu verhindern. Dem Verfasser gelingt es, die spezifische Lage jeder Nationalität von Flüchtlingen anschaulich zu beschreiben. In dem letzten Kapitel untersucht Gatrell die Rolle der Flüchtlinge in den Revolutionen des Jahres 1917. Er analysiert aber weniger ihre Teilnahme an der revolutionären Bewegung als die Versuche der jeweiligen Nationalitäten, eigene Staaten und Regierungen zu bilden.

In seinem Schluss stellt der Autor seine Ergebnisse über die Bildung der Identität der Flüchtlinge noch einmal deutlich heraus. Die Flüchtlinge ließen sich weder in die herkömmliche Struktur der sozialen Schichtung noch in den revolutionären Klassenbegriff einordnen. Alle waren vom sozialen Abstieg betroffen. Ihr Status war ungesichert und von Eventualitäten abhängig. Angesichts der Not wurde das Nationalbewusstsein stärker. Man versuchte, das verlorene Heimatland symbolisch wieder zu erlangen. Die Flüchtlinge waren sozial gegliedert, weshalb man nicht von einer einheitlichen Gruppe sprechen kann. Eine gemeinsame Erfahrung wurde auf der Ebene der Ethnizität konstituiert. Aber auch die Ethnizität konnte von anderen Identitäten wie der Klassenzugehörigkeit überlagert werden. Eine einheitliche Identität als Flüchtling gab es somit nicht. Es entstand ein neuer Diskurs.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass das in einem anregend zu lesenden Stil gehaltene Werk eine lehrreiche Lektüre darstellt. Wünschenswert wäre gewesen, dass der Autor die Lebensbedingungen in der Heimat der Flüchtlinge vor der Vertreibung zumindest kurz vorgestellt hätte, sodass sichtbar geworden wäre, auf welcher Basis die sich dann von ihm dargestellten Prozesse entwickelt haben. Gatrell stützt sich auf eine erstaunliche Vielfalt von Quellen. Allerdings birgt sein Anspruch, das Flüchtlingsproblem im Russischen Reich im Ersten Weltkrieg in seiner ganzen Breite darzustellen, auch eine Schwäche in sich. Da sich die Voraussetzungen der armenischen Flüchtlinge sehr stark von denen der mittelosteuropäischen unterschieden, wäre es angemessen gewesen, sie auszuklammern und zum Gegenstand eines eigenen Forschungsprojektes zu machen. Die Abschnitte zu den Armeniern lesen sich in dem vorliegenden Band störend in dem Gesamtfluss der Argumentation. Interessant wäre eine vergleichende Betrachtung der Situation der Flüchtlinge mit der der zahlreichen Kriegsgefangenen der Mittelmächte gewesen, die ein überwiegend vergleichbares Schicksal teilten. Ungeachtet dieser Desiderata kann von einer gelungenen Untersuchung gesprochen werden, die die internationale Anerkennung, die ihr zuteil wurde, uneingeschränkt verdient hat.

Georg Wurzer