sehepunkte 6 (2006), Nr. 2

Herbert Molderings: Kunst als Experiment

Paris, vermutlich Frühjahr 1914: Marcel Duchamp lässt drei, gut einen Meter lange, horizontal gehaltene Fäden aus einem Meter Höhe fallen. Mit Firnis fixiert er die zufällig gefundenen Fadenverläufe auf drei Leinwänden: die so genannten 3 Stoppages étalon, die Kunststopf-Normalmaße. Ein künstlerisches Experiment, Bilder des Zufalls, ein, wie Herbert Molderings einleitend bemerkt, "Gründungswerk der Ästhetik des Zufalls" (7). Und zugleich viel mehr als dies! Rückblickend betrachtet sind diese drei Fäden, wie Molderings auf knapp 200 Seiten detailliert herausarbeitet, "Duchamps erstes wissenschaftskritisches Kunstwerk" (115). Es habe Duchamps "neuen Stil des experimentellen visuellen Denkens" begründet, "eine Form der künstlerischen Imagination, die vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Logik absurde Konstellationen von Vorstellungen erprobt" (95). Allerdings habe es sich um kein Experiment im wissenschaftlichen Sinne gehandelt, sondern um einen "künstlerischen 'Versuch'" und um das "Ergebnis künstlerischer Gedanken über den unendlichen Status der Linie im Kontext der euklidischen und nicht-euklidischen Geometrie und den Zufall als Form erzeugenden Faktor" (74). Dabei sei die experimentelle Durchführung von größter Wichtigkeit für Duchamp gewesen. Erst der konkrete Versuch habe es erlaubt, die Geometrie nicht als theoretische Wissenschaft, sondern contra definitionem als Experimentalwissenschaft zu praktizieren. Ohne die "Passage der idealen geometrischen Linie durch den realen physikalischen Raum im Versuch verliert das pseudowissenschaftliche Experiment Duchamp[s] seinen Sinn und seinen Witz" (52). Molderings kann sich diesbezüglich auf einen bislang entlegen publizierten Brief Duchamps an seinen Schwiegersohn Paul Matisse berufen, in dem Duchamp erklärte, die Fäden absorbierten beim Fall die dritte Dimension und die geraden Linien würden zu gekrümmten, ohne jedoch ihren Adelstitel zu verlieren: das Meter.

Doch der Reihe nach: Obwohl Molderings' Buch in insgesamt sieben Kapitel gegliedert ist, zeichnen sich bei der Lektüre im Wesentlichen zwei argumentative Hauptlinien ab. Im ersten Teil geht Molderings der komplexen und langjährigen Entstehungsgeschichte der 3 Stoppages étalon nach. Er beschreibt diese gleichsam als 'work in progress'. Ursprünglich als "Gemälde" gedacht (besser würde man vielleicht von Tableau sprechen) sei Duchamp 1914 noch von "der Idee eines Werks als gegenständlichem Protokoll einer Zufallsoperation" (76) ein Stück weit entfernt gewesen. Im Laufe der Zeit aber hätten die 3 Stoppages étalon nicht nur formale Veränderungen erfahren (nämlich die Entfernung der tragenden Keilrahmen, die Beschneidung der Leinwände und Montage auf Glasstreifen), sondern seien zu Demonstrationsobjekten gewandelt worden. Sie sollten fortan, so Molderings, als Beleg der Anti-Malerei-Haltung Duchamps in die Geschichte eingehen. Ihr Präsentationsort sei nun nicht mehr die Wand gewesen, sondern die Instrumentenkiste. Die vierzigjährige Entstehungsgeschichte dieses 'work in progress' sei 1953 zu ihrem Ende gekommen, als Duchamp dem Ensemble zwei hölzerne Messlatten mit der Aufschrift "1 Metre" hinzufügte. 1914 hingegen seien die 3 Stoppages étalon eben noch kein Werk der Objektkunst und kein Materialsatz einer Versuchsanordnung gewesen, als die sie heute im Museum of Modern Art befänden, sondern schlicht Gemälde.

Im zweiten Teil sind es vor allem mögliche wissenschaftstheoretische Einflüsse, die Molderings in Zusammenhang mit den drei Duchampschen Meter-Äquivalenten interessieren und denen er akribisch nachspürt. Seinen intellektuellen Impuls habe Duchamps künstlerischer Versuch, wie Molderings bereits in vorherigen Publikationen hat aufzeigen können [1], vor allem aus dem Konventionalismus des französischen Mathematikers Henri Poincaré erhalten. Poincaré hielt die angeblichen Gesetze der Naturwissenschaften für mehr oder weniger bequeme Konventionen, für getroffene Verabredungen ohne Anspruch auf Alleingültigkeit. Die Längeneinheit des Meters sei, so Poincaré, eine auf der euklidischen Geometrie beruhende Konvention. Mit seinen verminderten Metern befragte Duchamp dieses Längennormal auf seine Relativität hin. Molderings: "Das mit den 3 Stoppages étalon sichtbar gewordene Verfahren, nach wissenschaftlichen Standards absurde Experimente in die Tat umzusetzen, um die Konventionalität und Relativität wissenschaftlicher Axiome zu visualisieren, wurde 1913-14 zur 'Richtschnur' von Duchamps künstlerischem Denken. Erst im Rückblick wurde er sich über die Nachhaltigkeit dieses Prinzips in seinem Werk klar, sodass er zu der Feststellung gelangte, dies sei sein 'wichtigstes Werk' überhaupt, da es den Moment festhielt, als er die 'Triebfeder seiner Zukunft' berührte. Die 3 Stoppages étalon sind sowohl Bilder eines Experiment als auch experimentelle Bilder. Sie vermischen nicht nur die geometrische und physikalische Logik, sondern auch die wissenschaftliche und ästhetische Logik" (53). Die 3 Stoppages étalon stellen also, wie Molderings bereits in seinem zum Standardwerk aufgestiegenen Buch "Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus" festgestellt hat, aus dem Geiste des Konventionalismus geborene "topologische Äquivalente" [2] zum linearen Urnormal dar, der seit der Meter-Konvention von 1875 in Sèvres bei Paris aufbewahrt wird. Duchamps topologische Äquivalente zum geometrischen Meter seien mithin Sinnbilder von Metern eines amorphen, eben nicht euklidischen Raums, also eines Raums, der keine metrischen und projektiven Eigenschaften habe. Molderings vermag diese Perspektive mit dem Rückgriff auf Poincarés 1913 erschienene "Letzte Gedanken" zu stützen. Poincaré führte darin aus, dass die deformierte Kopie einer Figur - beispielsweise einer Linie - vom Standpunkt der metrischen und der projektiven Geometrie aus nicht äquivalent zur ursprünglichen Figur sei, wohl aber vom topologischen. Mit den 3 Stoppages étalon sei allerdings, so Molderings, die Theorie des Konventionalismus bis zur Absurdität überdreht worden. Duchamp habe hier den grundsätzlichen Wert der Wissenschaft als Mittel zur Erkenntnis paraphysisch bezweifelt und ihr nur noch eine rein technisch-praktische Funktion zugestanden. In dieser Hinsicht stehe Duchamp eher in der Tradition des Skeptizismus und namentlich in jener Édouard Le Roys.

Duchamps Kunst ab 1913 sei ein Produkt der Krise des Wahrheitsanspruchs der klassischen euklidischen Geometrie und der damit einhergehenden Öffnung des Denkens hin zu einer unendlichen Vielzahl möglicher anderer Geometrien: die humorvolle (ja ironische, wie Molderings insistiert) Infragestellung des Primats wissenschaftlicher Vernunft durch die Adaption wissenschaftlicher Ideen. Vollkommen zu recht wirft der Autor der US-amerikanischen Forschungsliteratur vor, bislang den ironischen und wissenschaftskritischen Impetus der Kunst Duchamps ignoriert oder minimiert zu haben - ein Vorwurf, der sich insbesondere an Craig Adcock und Linda Henderson richtet, die Duchamps Werke mehr oder weniger als "Illustrationen wissenschaftlicher Fragestellungen oder Thesen" (54) dargestellt haben. [3] Was die Ironie betrifft, so hatte Duchamp bereits 1945 gegenüber Harriet und Sidney Janis verlauten lassen, Ironie sei "ein spielerischer Weg, um etwas zu akzeptieren." [4] Mit seiner spezifischen Art der Ironie, der Meta-Ironie, der Ironie der Indifferenz oder Bejahungs-Ironie, habe Duchamp, so schließt Molderings, den Sachverhalt, den diese in Frage stelle, nicht zu vernichten versucht, sondern als der eigenen Behauptung gleichwertig bestehen lassen und ihn zugleich in einem anderen Licht gezeigt. "Duchamps Kunst", so resümiert der Autor, "ist eine Kunst, die Fragen stellt, keine Kunst, die, weil sie die Antworten bereits kennt, die gegnerische Position verhöhnt" (130).

Herbert Molderings kommt mit dem vorliegenden Buch das unbestreitbare Verdienst zu, die Entstehungsgeschichte dieses bislang erstaunlich enigmatisch gebliebenen Werks ausgeleuchtet und es in die künstlerische Entwicklung Duchamps eingeordnet zu haben. Dabei leistet er weitaus mehr, als sich Molderings in der Einleitung selbst aufgibt: Nicht nur wird der überzeugende Nachweis erbracht, dass die 3 Stoppages étalon in einer engen Beziehung zu modernen Geometrien und Wissenschaftstheorien stehen; vielmehr wird der Versuch unternommen, den wissenschaftsskeptizistischen Gedankenkosmos Duchamps präzise abzustecken. Als allenfalls geringfügiges Manko erweist sich bisweilen die Nachvollziehbarkeit der bibliografischen Angaben. Die von Molderings teilweise eigenständig besorgten Übersetzungen fremdsprachiger Zitate ins Deutsche gewähren im Haupttext zwar dankenswerter Weise eine flüssige Lesbarkeit. Zugleich aber ist nicht immer klar, auf welcher Grundlage diese Übersetzungen beruhen, zumal sich grundsätzlich die Frage stellt, ob es aus kunstwissenschaftlicher Warte überhaupt sinnvoll ist, Quellen ins Deutsche zu übertragen. Wenn beispielsweise Linda Henderson 1983 schreibt: "[...] Stein described meeting the young Duchamp, who talked 'very urgently about the fourth dimension'." [5], und sich der Gertrude Stein zitierende zweite Halbsatz in der deutschen Übertragung bei Molderings als Stein-Zitat (aber mit bibliografischer Referenz auf Henderson!) auf wundersame Weise zu einem vollständigen und syntaxerweiternden Satz ausgewachsen findet - "Der junge Duchamp ist besessen von der 4. Dimension" (20) -, dann ist dies quellenkundlich nicht unproblematisch. Derlei Detailkritik markiert indes allenfalls eine Marginalie und sollte das Lesevergnügen an dieser wunderbaren Studie nicht schmälern.


Anmerkungen:

[1] Siehe u. a. Herbert Molderings: Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus [1983], 3. überarb. Aufl., Düsseldorf 1997; Herbert Molderings: Une Application humoristique de géométrie non-euclidienne. In: Étant donné Marcel Duchamp, Nr. 4, 2002, 158-160; Herbert Molderings: Ästhetik des Möglichen. Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps. In: Gerd Mattenklott (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen der Erfahrung im Vergleich. Hamburg 2004, 103-136.

[2] Molderings (1983) 1997 (wie Anm. 1), 44.

[3] Craig Adcock: Marcel Duchamp's Notes form the Large Glass. An N-Dimensional Analysis, Ann Arbor 1983; Ders.: Conventionalism in Henri Poincaré and Marcel Duchamp. In: Art Journal, Vol. 44, Nr. 3, New York 1984, 249-258; Linda Dalrymple Henderson: The Fourth Dimension and Non-Euclidian Geometry in Modern Art. Princeton 1983; Dies.: Duchamp in Context. Science and Technology in the Large Glass and Related Works, Princeton 1998.

[4] Marcel Duchamp laut einer Gesprächserinnerung Harriet und Sidney Janis', zit. In: Harriet und Sidney Janis: Marcel Duchamp, Anti-Artist [1945], Wiederabdruck in: Joseph Masheck (Hrsg.): Marcel Duchamp in Perspective [1975], Neuauflage, Cambridge 2002, 30-40, hier 36.

[5] Henderson 1983 (wie Anm. 2), 130.

Rezension über:

Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 Kunststopf-Normalmaße« (= Passerelles; 8), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, 192 S., ISBN 978-3-422-06528-4, EUR 14,00

Rezension von:
Lars Blunck
Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Lars Blunck: Rezension von: Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 Kunststopf-Normalmaße«, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/02/8945.html


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