sehepunkte 5 (2005), Nr. 11

Michael Bollé / Karl-Robert Schütze (Hgg.): Heinrich Gentz (1766-1811), Reise nach Rom und Sizilien, 1790-1795

Die Erwartungen an Reisetagebücher sind hoch, weil man in ihnen etwas zu finden hofft, durch das sich das Werk des Künstlers gerade in den Teilen erschließt, auf die man keine sichere Antwort weiß und die sich mit den vergleichenden Methoden der Kunstgeschichte auch nicht ermitteln lassen. Tagebücher versprechen authentische Beobachtungen, das Sehen und Urteilen mit den Augen des Zeitgenossen, weil man hier die ungefilterte Wahrheit im Denken des Künstlers vermuten darf. Tagebücher können aber auch enttäuschen, wenn sie nicht mehr sind als ein Nachweis dessen, was gesehen wurde, nicht mehr sind als ein hier und da kommentiertes Itinerar ohne jedweden literarischen oder wissenschaftlichen Anspruch. Ähnlich hoch sind die Erwartungen an Reiseskizzen: Ist da vielleicht schon eine der Ideen für die späteren Bauwerke angelegt, welche Details interessierten den Architekten, die sich möglicherweise im gebauten Œuvre wieder finden lassen? Aber auch hier kann man ernüchtert werden, wenn viele Skizzen bloß Kopien aus den aktuellen Stichwerken sind und nur wenige eigene Beobachtungen und selbstständige Entwürfe zu finden sind.

Gentz war nicht der erste Architekt, der nach Rom und nach Sizilien fuhr; Süditalien und die antiken Tempel auf Sizilien standen seit den Sechzigerjahren des 18. Jahrhunderts immer öfter auf dem Reiseprogramm. Gentz konnte sich also bei der Wahl der Zielorte auf die Beschreibungen seiner Vorgänger und zum Teil auf eine ausgearbeitete Guidenliteratur berufen. Für Norditalien, die Toskana und Rom dürfte ihm, wie Goethe bei seiner Reise, die "Historisch-kritische Nachrichten von Italien" (3 Bde., 1. Aufl. Leipzig 1770/71) von Johann Jakob Volkmann die wichtigsten Informationen gegeben haben. Für Paestum beruft sich Gentz auf P. A. Paolis "Rovine della citta di Pesto ..." (Rom 1784), für Sizilien und Süditalien auf J. P. L. L. Houëls "Voyage pittoresque des isles de Sicilie, de Malte et de Lipari... " (4 Bde. Paris 1782-1787) und J. H. Bartels "Briefe über Calabrien und Sizilien" (3 Bde., Göttingen 1787-1792). Aus diesen und anderen Quellen, die oft mit guidentypischen Gemeinplätzen und Superlativen aufwarten, denen auch Gentz aufsitzt, wird in den Tagebüchern zitiert, kopiert und exzerpiert, wobei der junge Reisende zuweilen Bauten miteinander verwechselt. Gleichzeitig finden sich aber auch immer wieder eigene Urteile von Gentz, der etwa an der Medici-Kapelle in San Lorenzo nichts Besonderes finden kann oder sich in Palermo mit der "sarazenischen" Baukunst beschäftigte und deren Unterschiede zur "gothischen Bauart" beschrieb (159). Lange Passagen der Tagebücher sind aber auch nichts als Tratsch über Persönlichkeiten des künstlerischen, höfischen und wirtschaftlichen Lebens oder über den Italiener oder Sizilianer an sich - und somit von höchstem Interesse für die allgemeine Kulturwissenschaft.

Für die Architekturgeschichte im Speziellen sind natürlich die Eintragungen des Tagebuchs am interessantesten, bei denen sich Gentz über die zeitgenössische Architektur äußert. Für das nördliche Italien und Neapel bleibt das Tagebuch in dieser Hinsicht überraschend still, erst in Palermo scheint Gentz bemerkt zu haben, dass auch in Italien noch gebaut wird und die Baugeschichte nicht mit der Renaissance endete. Intensiv setzt er sich mit dem kompakt-kubischen Bau der Scuola Botanica, dem Eingangsgebäude zum botanischen Garten Palermos, von Léon Dufourny von 1789 auseinander. Seine Kritik richtet sich auf die Gesamtform wie auf die Details, von denen ihm viele einfach nur "plump" erscheinen (78 f.). Vorausweisend auf die in seinem Hauptwerk, der Neuen Münze in Berlin (1800), streng beachtete und durchgeführte architektonische Charakterlehre, ist seine Kritik an der deplatzierten Verwendung der schweren dorischen Ordnung an einem Gebäude, "das mitten in einen Garten unter Blumenbeeten und leichten Pflanzen angelegt ist." (159). Gentz' Sprache ist meist nüchtern und sich oft wiederholend, literarische Qualität erreicht er lediglich bei der Schilderung des Aufstiegs auf den Ätna.

Bei aller Kritik an den Tagebüchern darf nicht vergessen werden, dass Gentz gerade erst 24 Jahre alt war, als er die fünfjährige Auslandsreise antrat. Es ist den leider nur fragmentarisch erhaltenen Tagebüchern anzumerken, wie der junge Gentz sich auf der Reise weiterbildet und immer stärker zu einem eigenen Urteil findet. Allerdings ist gerade aus den letzten Jahren der Reise fast nichts überliefert, das "römische Skizzenbuch" bringt nur kurze Annotate vor allem zu den antiken Bauten, lange Zitate aus Palladio, Exzerpte anderer Theoretiker und eine Übersetzung der ersten Kapitel des Vitruv, hinzu kommen weitere Tagebucheintragungen der sizilianischen Reise. Von Gentz' Aufenthalten in Paris und London 1784/95 erfährt man leider nichts. Der einzige Teil der Reiseaufzeichnungen, die für andere Leser gedacht waren, ist die "Londoner Reinschrift", die Gentz für seinen Vater schrieb. Ausführlich wird hier die Geschichte Sizilien nach Bartels wiedergegeben, die wichtigsten antiken Bauten beschrieben und hier und da hat Gentz auch philosophische Gedanken über Natur und Kunst (167) und die ein oder andere Anekdote eingestreut.

Die Herausgeber haben die Reiseaufzeichnungen sorgsam ediert und mit zahlreichen Anmerkungen zu den von Gentz besuchten Bauten und Personen versehen. Sehr ansprechend ist die Auswahl der Abbildungen; entweder wurden zeitgenössische Stichpublikationen herangezogen oder, wenn keine Abbildungen aus Gentz' Zeit zu finden waren, alte Fotografien aus dem späten 19. Jahrhundert ausgewählt, die zwar nicht immer den Zustand des 18. Jahrhunderts wiedergeben, diesem jedoch - besonders bei den sizilianischen Tempeln - näher sind als moderne Aufnahmen. Michael Bollés äußerst sachkundiger Kommentar zeichnet die Reise und ihre Stationen nach und stellt Gentz' Beobachtungen in den zeitgenössischen Kontext; sachlich und eher zurückhaltend werden die selbstständigen Beobachtungen von Gentz beschrieben. Auch zieht Bollé aus der Beurteilung mancher Bauten und Stile keine voreiligen Schlüsse auf Gentz' später realisierte Bauten, vielmehr sieht er den Hauptertrag der Reise in Gentz' Lehrtätigkeit an der Berliner Akademie und in dem "Elementarzeichenwerk" (1806), das die Grundlage für die Architektenausbildung an der Bauakademie war. Weiter zu diskutieren bleibt die von Bollé vorgeschlagene, zwar gut begründete aber nicht überzeugende Umdatierung und Umbenennung des großen Projektgemäldes zu einem fürstlichen Landschloss von Gentz.

Kleine Aufsätze von Karl Robert Schütze zu dem Mitreisenden Porzellanmaler Jean Ernest Clauce und von Detlev Kreikenbom zu Gentz' Begleiter, den Archäologen D. W. O. Uhden, Auszüge aus Léon Dufournys Sizilienreise von 1789 und ein sorgsam angefertigtes, für eine Textedition unersetzliches Register schließen den ansprechend gestalteten Band ab. Bollé und Schütze haben nicht nur eine wichtige Quelle zur Architektur "um 1800" erschlossen, sondern verhelfen auch einem Architekten, der völlig zu Unrecht im Schatten des "großen" Schinkel steht, wieder zu größerer Anerkennung.

Rezension über:

Michael Bollé / Karl-Robert Schütze (Hgg.): Heinrich Gentz (1766-1811), Reise nach Rom und Sizilien, 1790-1795. Aufzeichnungen und Skizzen eines Berliner Architekten, Berlin: Willmuth Arenhövel 2004, 408 S., 391 Abb., ISBN 978-3-922912-57-6, EUR 78,00

Rezension von:
Klaus Jan Philipp
Hochschule für bildende Künste, Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Jan Philipp: Rezension von: Michael Bollé / Karl-Robert Schütze (Hgg.): Heinrich Gentz (1766-1811), Reise nach Rom und Sizilien, 1790-1795. Aufzeichnungen und Skizzen eines Berliner Architekten, Berlin: Willmuth Arenhövel 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/11/8294.html


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