sehepunkte 5 (2005), Nr. 9

Stefanie Lieb: Der Rezeptionsprozeß in der neuromanischen Architektur

Die Architekturgeschichte des deutschen Historismus ist noch keineswegs geschrieben - trotz mancher Einzelstudien. Man durfte daher auf die groß angelegte Kölner Habilitationsschrift von Stefanie Lieb gespannt sein, denn hier wird erstmals "der Rezeptionsvorgang von Einzelformen" (7) für den Bereich der Neuromanik behandelt. So unspektakulär dieses Thema auf den ersten Blick klingen mag, trägt es doch entscheidend dazu bei, die Architektur einer Epoche zu erschließen, in der die "so schön ornamentierten historischen Stilhülsen" [1] und der jeweilige architektonische Kern nicht unbedingt eine Einheit bilden. Die Bedeutung der Fragestellung Liebs erweist sich weiterhin darin, dass sie mit ihrem Thema zentralste Probleme der deutschen historistischen Architektur anschneidet: Stilwahl, Denkmalpflege, Ikonologie der Architektur, Verhältnis von Original und Kopie, nicht zuletzt politische Aspekte der Reichseinigung.

Nach einem einleitenden Forschungsbericht (7-15) erläutert die Verfasserin ihre umfangreiche, aber klare Fragestellung (16-27). Besonders wichtig ist dabei ihre gelungene "Charakterisierung der Neuromanik" (16-19). Hervorzuheben ist weiterhin ihre Abgrenzung der Neuromanik vom "Rundbogenstil", den sie völlig zu recht als eigenen historistischen Stil bezeichnet. Bereits in diesen Anfangspassagen arbeitet Lieb die Bedeutung der "Restaurierungen romanischer Bauten" heraus, denn hier wird das Material für die spätere Rezeption bereitgestellt: Gerade die restaurierten und neu geschaffenen Bauten, Bauteile und Formen sollten sich für eine weitere Verwendung als geeignet erweisen. Nach einer Begründung für die Objektauswahl (27) folgen Ausführungen zur "Begriffsklärung" (28-46), die für die Methodik des Hauptteils grundlegend sind. In erster Linie geht es um den von Lieb in Anführungsstriche gesetzten Begriff des "Historismus"; ebenfalls in Anführungsstriche setzt sie "Stil" und "Einzelform". Auf diesen Seiten gibt Lieb zuerst einen Überblick über die sehr komplexe Entwicklung des Sprachgebrauchs, um dann ihre eigene, sowohl klare als auch pragmatische "Begriffsfestlegung" (45-46) zu wagen. Auf diese Begriffe wird man sich in Zukunft berufen dürfen.

Den zentralen Teil der Arbeit bildet eine Reihe von exemplarischen Einzeluntersuchungen (47-262). Alles entscheidend war die Auswahl der Objekte - vor allem des ersten Objektes: Lieb beginnt mit der Wartburg. Kein anderer Bau hätte diesen Platz einnehmen dürfen, denn hier wurde bereits seit den ausgehenden 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts ein Bau restauriert, dem aufgrund seiner kaum überbietbaren nationalen und konfessionellen Bedeutung ein zentraler Platz im Bewusstsein der Zeitgenossen zukam. Die Wartburg lag im Gebiet des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, und ihre Wiederherstellung war nicht zuletzt ein politisches Projekt. Die ersten konkreten Gedanken für die Restaurierung der Wartburg stammten von dem heute nur noch wenig bekannten romantischen Maler Carl Alexander Simon (1805-1859), ein Künstler, den man in vielem durchaus mit Philipp Otto Runge vergleichen darf. Simon vermittelte der Weimarer Großherzogin Maria Paulowna, einer russischen Kaisertochter, und ihrem Sohn, dem Erbgroßherzog Carl Alexander, den Gedanken, die Burg zu einem nationalen Identifikationsort umzugestalten. Im Hintergrund stand die Idee - salopp gesprochen -, eine Art unsterblichen Ersatz für den 1832 gestorbenen Goethe zu schaffen. Die Tatsache, dass die zentralen Bauteile der Wartburg romanische Stilformen zeigten, spielte dabei anfänglich eine durchaus untergeordnete Rolle. Carl Alexander sollte die Wartburg zu einer zentralen Aufgabe seines Lebens machen, und nach seinem Regierungsantritt (1853) intensivierte er die Bautätigkeit an der Burg. Sein wichtigster Architekt wurde Hugo von Ritgen (1811-1889), der für seine Aufgabe bestens geeignet war, da er nicht nur ein befähigter Architekt, sondern auch ein ausgewiesener Kunsthistoriker war. Die Neuromanik erweist sich bereits damals als "wissenschaftlicher" Stil. Gleichzeitig ist sie aber auch ein politischer Stil, wie Lieb ebenfalls nachweist, u. a. durch den Hinweis auf Carl Alexanders berühmte Grundsteinlegungsurkunde für den Bergfried (1853). Der Großherzog verwies in diesem Text auf die "historisch- und politisch-faktische Bedeutung" der Burg, ihre Rolle für die "Entfaltung des Geistes und namentlich der Poesie" sowie ihre Bedeutung in konfessioneller Hinsicht. In Stichworte übersetzt, könnte man dafür auch sagen: Landgrafschaft Thüringen und Kurfürstentum Sachsen, Minnesang, aber auch Goethe, hl. Elisabeth und Luther; nicht ausgeschlossen ist aber auch das Wartburgfest von 1817. Tatsächlich verliehen alle diese Aspekte der Neuromanik eine Durchschlagskraft, wie sie sie in anderen europäischen Ländern, trotz mancher vergleichbarer Bauten, nicht erlangen konnte. Neuromanik konnte von Anfang an als Stil des "ganzen" Deutschlands verstanden werden.

Lieb stellt die Restaurierung der Wartburg sehr werk- und quellennah dar; hervorzuheben ist dabei ihre außerordentlich genaue architektonische Terminologie. Sie bleibt aber nicht dabei stehen, den Bauverlauf nachzuzeichnen, sondern sie bezieht selbstverständlich auch die Ausmalung der Räume mit in ihre Betrachtung ein. Erheblichen Raum nehmen auch die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ein. Es handelt sich - nicht nur bei den Passagen zur Wartburg - um eine kunsthistorische Arbeit im umfassendsten Sinne des Wortes.

Die Wartburg musste den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie bilden, weil sich tatsächlich die im weiteren besprochenen Bauten - die Kaiserpfalz in Goslar, die Burg Dankwarderode in Braunschweig, das Schloss von Neuschwanstein und das Kaiserschloss von Posen - nur verstehen lassen, wenn man das Eisenacher Vorbild berücksichtigt. Diese Tatsache gilt sowohl für die restaurierten mittelalterlichen wie auch für die völlig neu konzipierten Anlagen. Lieb vermag mit ihren jeweils sehr sorgfältigen und quellennahen Darlegungen diese Beziehungen überzeugend aufzuzeigen, ohne dabei in Überinterpretationen zu verfallen.

An die um die Wartburg zentrierten Passagen schließt die Verfasserin Untersuchungen über die riesige Antoniusbasilika in Rheine (196-262) an, die in den Jahren zwischen 1899 und 1906 errichtet wurde. Es gelingt Lieb dabei, ein bisher kaum beachtetes Hauptwerk der neuromanischen Architektur sehr eindrücklich zu analysieren. Das Beispiel dieses Baues bot sich deshalb besonders an, weil die Vorbilder, auf die sich der Architekt Johann Franziskus Klomp (1865-1946) berief, wirklich deutlichst erkennbar sind: vor allem St. Michael in Hildesheim, aber auch der Paderborner Dom sowie St. Patrokli und St. Petri in Soest, hinzu kommen noch weitere sehr gut identifizierbare Bauten. Anschließend folgt noch die Analyse des Regierungsgebäudes in Koblenz (243-262), das ungefähr zur selben Zeit wie die Antoniusbasilika ausgeführt wurde.

Im abschließenden dritten Teil der Arbeit zieht Lieb die Summe aus den vielen von ihr dargelegten Einzeluntersuchungen. Auch hier bleibt sie sehr nahe an den Quellen, nie stellt sie unbelegte Behauptungen auf. Zuerst behandelt sie die Rolle von Auftraggebern und Architekten. Großen Wert legt sie ferner auf die Bedeutung von Studienreisen und Literatur. Besonderes gelungen erscheinen dem Rezensenten auch die Passagen über die denkmalpflegerischen Aspekte (293-299). Romanische Architekturformen wurden - und werden - gern intensiv ausgedeutet. Derartiges spielte im 19. Jahrhundert eine ganz entscheidende Rolle, wie Lieb schon bei den einzelnen Bauten, vor allem bei der Wartburg, herausgestellt hat. Die den letzten Teil abschließenden Untersuchungen beschäftigen sich mit den Übertragungstechniken. Dieser Aspekt ist, das wird sehr gut deutlich, besonders wichtig, denn die Erscheinung der restaurierten und neukonzipierten Bauten wird nicht unerheblich dadurch bestimmt, ob man gezeichnete oder fotografierte Vorlagen benutzte oder ob die ausführenden Handwerker Gipsmodelle zur Hand hatten. Lieb gelingen an dieser Stelle besonders bemerkenswerte Passagen, zumal sie einige schöne Beispiele von Entwürfen oder eben auch Abgüssen auffinden konnte. Entscheidend ist aber natürlich, dass sich die neuromanischen Architekten eben doch nicht als Kopisten verstanden, sondern eine "eigenständige schöpferische Methode" (334) anwandten.

Die Arbeit von Lieb zählt sicherlich zu den wichtigsten Arbeiten, die in der letzten Zeit auf dem Gebiet der Erforschung der deutschen historistischen Architektur erschienen sind. Besonders hervorzuheben ist neben der quellennahen Arbeit vor allem die unideologische Vorgehensweise der Verfasserin. Nicht zuletzt macht der unprätentiöse Stil des Buches die Lektüre zu einem lehrreichen Vergnügen.


Anmerkung:

[1] Joseph Bayer: Moderne Bautypen, in: ders.: Baustudien und Baubilder. Schriften zur Kunst. Aus dem Nachlass hg. von Robert Stiassny, Jena 1919, 280-295, hier 281; Vgl.: Werner Oechslin: Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architektur, Zürich 1994.

Rezension über:

Stefanie Lieb: Der Rezeptionsprozeß in der neuromanischen Architektur. Studien zur Rezeption von Einzelformen in restaurierter romanischer und in neuromanischer Architektur (= Kölner Architekturstudien; Bd. 82), Köln: Kunsthistorisches Institut 2005, 370 S., ISSN 0940-7812, EUR 38,00

Rezension von:
Christian Hecht
Institut für Kunstgeschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
Christian Hecht: Rezension von: Stefanie Lieb: Der Rezeptionsprozeß in der neuromanischen Architektur. Studien zur Rezeption von Einzelformen in restaurierter romanischer und in neuromanischer Architektur, Köln: Kunsthistorisches Institut 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/09/8477.html


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