sehepunkte 5 (2005), Nr. 9

Renate Dürr / Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hgg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit

Dieser auf eine Tagung im Herbst 2003 zurückgehende Sammelband verfolgt, wie das Herausgeberteam einleitend betont, ein ambitioniertes Ziel: Es geht um nichts weniger als die Bestimmung eines Epochensignums. In der "sich gegenseitig verstärkenden Expansion in andere geografische Räume und neue Erkenntnishorizonte" (8) sehen Dürr, Engel und Süßmann ein solches Grundprinzip, das die europäische Frühe Neuzeit von anderen historischen Epochen und Weltregionen abhebt. Exemplarisch wird diese Verschränkung der Erkundung und Aneignung ferner Weltgegenden mit der Ausdehnung des Wissenshorizonts durch das Frontispiz von Francis Bacons Instauratio magna von 1620 repräsentiert, auf dem zwei Schiffe den Aufbruch zu neuen Ufern symbolisieren.

Die siebzehn Beiträge wurden von den Herausgebern zu drei Themenblöcken gruppiert. Die fünf Beiträge der ersten Sektion widmen sich den "Grundlagen" unter der Fragestellung: "Expansion als zentrales Kennzeichen der Frühen Neuzeit?" Felicitas Schmieder behandelt zunächst die mittelalterlichen Voraussetzungen der europäischen Expansion, wobei sie sich auf den Wandel der christianitas-Idee von einem defensiven zu einem expansiven Konzept zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert konzentriert. Christoph Auffarth zeigt am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert, dass unbekannte Welten im mittelalterlichen Denken bereits als "Möglichkeitsräume" (44) vorhanden waren, bevor sie tatsächlich entdeckt wurden. Anhand von Weltkarten aus dem 16. und 17. Jahrhundert führt er vor, wie diese Räume durch neue Erkenntnisse ausgefüllt wurden. Der Sinologe Achim Mittag untersucht die Geschichtsschreibung und Kartografie der Ming-Zeit, um geistige Voraussetzungen der chinesischen Expansion unter der nachfolgenden Qing-Dynastie aufzuspüren. In der Geschichtsschreibung manifestierte sich einerseits "eine starke Tendenz zur Abgrenzung gegenüber den 'Barbaren'" (83), womit vor allem die Mongolen gemeint waren, andererseits das Bestreben, die Völker an der südlichen und südwestlichen Peripherie in das nationale Geschichtsbild zu integrieren. In der Kartografie spiegelt sich Mittag zufolge eine "enorme Erweiterung des geographischen Wissens" (88) im Reich der Mitte. Jan Kusber argumentiert, dass die rasche Expansion des Moskauer Reiches im 16. und 17. Jahrhundert mit einem sehr viel langsameren Wandel der Wahrnehmung und Verarbeitung dieser territorialen Ausweitung einherging. Die Sektion beschließt ein Aufsatz Ralf Elgers über die Interpretation der Verdrängung der Mauren aus Spanien durch einen nordafrikanischen Gelehrten des frühen 17. Jahrhunderts. Am Beispiel Ahmad al-Maqqaris zeigt sich Elger zufolge, "wie die europäische Expansion muslimischen Betrachtern einen großen Teil Unbefangenheit im Umgang mit dem Anderen [...] raubte" (127).

Die zweite Sektion "Wissensdrang: Momente sich gegenseitig beeinflussender Expansionsbewegungen" vereint sieben Beiträge. Eckhard Lobsien demonstriert, wie die von antiken Philosophen diskutierte Hypothese einer Vielzahl möglicher Welten im Zuge der Epikur-Rezeption des 16. und 17. Jahrhunderts von Giordano Bruno, Pierre Gassendi und Walter Charleton wieder aufgegriffen wurde. Am Beispiel von Autoren wie Cyrano de Bergerac und John Milton führt er anschließend vor, wie die Literatur die Thematik unendlicher Welten aufgriff, um "den rhetorisch-performativen Charakter allen Wissens aufzuzeigen" und den gelehrten Diskurs "ironisch-skeptisch vorzuführen" (143). John M. Headley zeigt anhand der Relationi universali des italienischen Gelehrten Giovanni Botero, wie säkulare Europavorstellungen und Ansätze zu einem Kulturrelativismus gegen Ende des 16. Jahrhunderts in ein christlich-universal geprägtes Weltbild Eingang fanden. In französischen Berichten aus dem Osmanischen Reich, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts verfasst wurden, macht Ulrike Ilg eine "Öffnungsbewegung gegenüber außereuropäischen Kulturen" (190) aus. Auf der Grundlage von sechs Fallstudien beleuchtet Cathérine Jami die Komplexität der Interaktionen zwischen europäischen Jesuitenmissionaren und chinesischen Gelehrten und hinterfragt die Annahme, dass die Chinesen lediglich Empfänger neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Europa gewesen seien.

Maximilian Bergengruen beschreibt das Verhältnis von ars und natura bei Paracelsus und seinen Anhängern als "Theorie der Expansion des Menschen in die Natur" (215). Er zeigt auf, dass Paracelsus an aristotelische und neuplatonische Argumentationen anknüpfte, die bereits von spätmittelalterlichen Denkern neu kombiniert wurden. Die häretischen Tendenzen der paracelsistischen Konzeptionen einer Einheit des Menschen mit der Natur und Gott wurden nach Bergengruen gleichsam in die Naturwissenschaften ausgelagert. Jürgen Kleins Beitrag greift den bereits in der Einleitung zum Kronzeugen für die doppelte Expansionsbewegung der Frühen Neuzeit erhobenen Francis Bacon wieder auf und erörtert die politischen Aspekte von dessen Konzeption der Welterkenntnis sowie die Expansionsmetaphorik in seinem Wissenschaftsprogramm. Michael Kempe beschreibt, wie die frühneuzeitlichen Naturwissenschaften als Expansionen in unterschiedlichste Bereiche gedeutet werden können: als Erkundungen des Weltraums (mittels des Teleskops) und des Mikrokosmos ebenso wie als Vorstöße in unterirdische Welten, Untersuchungen des menschlichen Körpers und "naturgeschichtliche Expansionen des Raumes" (265). Diese Ausdehnung der Wissenschaften ging zumindest vor 1750 jedoch nicht mit einer Ablösung religiöser Deutungsmuster einher: Vielmehr bemühten sich die Physikotheologen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gerade um eine Harmonisierung von Naturerkenntnis und religiösen Denkmustern, die Kempe am Beispiel des Schweizer Naturforschers und "Sintfluttheoretikers" Johann Jakob Scheuchzer exemplifiziert.

Die dritte, wiederum fünf Beiträge umfassende Sektion ist mit "Innereuropäische Konkurrenz: zwischen Expansionsbeschleunigung und Expansionskritik" überschrieben. Daniel Damler untersucht ausgehend vom Rechtsstreit der Erben des Kolumbus mit der spanischen Krone das Verhältnis von Herrschaftsanspruch und Herrschaftspraxis im spanischen juristischen Diskurs des 16. Jahrhunderts. Er demonstriert, wie der bereits von französischen Juristen des Spätmittelalters infrage gestellte Anspruch des Kaisers und des Papstes auf Weltherrschaft argumentativ weiter ausgehöhlt wurde. Susanna Burghartz geht der Frage nach, warum um 1600 gerade Berichte über gescheiterte koloniale Unternehmungen beliebt waren, und rekonstruiert aus den Reiseberichten von Ulrich Schmidel, Walter Raleigh und Robert Harcourt einen "Diskurs des Scheiterns" (310), in dem das schiere Überleben als Zeichen göttlicher Erwähltheit gedeutet und angesichts der Konkurrenz mehrerer Kolonialmächte Kritik an den europäischen Rivalen geübt werden konnte. Wie Burghartz analysiert auch Kirsten Mahlke koloniale Legitimierungsstrategien um 1600. Ihr Protagonist, der Jurist und Hebraist Marc Lescarbot, konstruierte in seiner Histoire de la Nouvelle France aus etymologischen und national-religiösen Argumenten eine gemeinsame Abstammung der Franzosen und der Indianer vom biblischen Volk Israel. Daraus leitete er eine besondere Sendung der Franzosen ab, die gemeinsam mit den Indianern Nordamerikas die Utopie eines neuen Frankreich verwirklichen sollten. Den Utopiegedanken verfolgt Iris Gareis im Kontext der spanischen Expansion: Er manifestierte sich zunächst in Vorstellungen von Amerika als irdischem Paradies bei den Entdeckern und Eroberern, sollte später in indianischen Modellgemeinden unter kirchlicher Leitung verwirklicht werden und wurde schließlich von Autoren wie dem Inka Garcilaso de la Vega mit indigenen Traditionen zur Vorstellung eines vorkolonialen Goldenen Zeitalters verschmolzen. Die Sektion und den Band beschließt Tanja Michalskys Analyse der Landschaftsbilder, die der Niederländer Frans Post zwischen ca. 1638 und 1644 in Brasilien malte. Posts Gemälde sind demnach nicht nur als realistische Wiedergaben brasilianischer Szenerien zu betrachten, sondern halten zentrale Orte niederländischer Eroberung und Inbesitznahme fest und legitimieren diese Aneignung.

Wie nimmt sich die eingangs formulierte These, die doppelte - geografische und wissenschaftliche - Expansion sei ein Charakteristikum der europäischen Frühneuzeit gewesen, im Lichte dieser Beiträge aus? Auffällig ist jedenfalls, dass mehrere Autoren (Schmieder, Auffarth, Bergengruen, Damler) die geistigen Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit betonen und die Beiträge der Sinologen Mittag und Jami nahe legen, die Verschränkung geografischer und wissenschaftlicher Expansion sei durchaus auch in anderen Weltregionen zu beobachten. Nicht in allen Beiträgen wird überdies deutlich, wie der Expansionsbegriff von anderen Deutungskonzepten der Frühen Neuzeit, insbesondere dem Pluralisierungskonzept, abzugrenzen ist. Somit bieten die Beiträge zwar eine anregende Lektüre und weisen interessante Querverbindungen auf, sind aber nur begrenzt geeignet, einen paradigmatischen Epochenbegriff zu untermauern. Abschließend sei angesichts nicht weniger Druck- und Satzfehler sowie einiger Unstimmigkeiten im Anmerkungsapparat nicht verschwiegen, dass der Band von einer gründlicheren Schlussredaktion profitiert hätte.

Rezension über:

Renate Dürr / Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hgg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 34), Berlin: Duncker & Humblot 2005, 392 S., ISBN 978-3-428-11701-7, EUR 54,00

Rezension von:
Mark Häberlein
Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Empfohlene Zitierweise:
Mark Häberlein: Rezension von: Renate Dürr / Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hgg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit, Berlin: Duncker & Humblot 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/09/7886.html


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