Rezension über:

Günther Schulz / Markus A. Denzel (Hgg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit; Bd. 26), St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 2004, 537 S., ISBN 978-3-89590-145-4, EUR 48,00
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Rezension von:
Marcus Funck
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Nikolaus Buschmann
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Funck: Rezension von: Günther Schulz / Markus A. Denzel (Hgg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003, St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/7528.html


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Günther Schulz / Markus A. Denzel (Hgg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert

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Noch vor einem Jahrzehnt wurde allerorten darüber geklagt, dass die Geschichte des deutschen Adels im 19. und 20. Jahrhundert ein Schattendasein friste, ein zusammenhängender Forschungskontext nicht existiere. Die Klagen wurden erhört. Mittlerweile haben sich kontinuierlich arbeitende Forschungsgruppen zur Adels- und Elitengeschichte formiert, sind einige Fachtagungen durchgeführt und deren Ergebnisse publiziert worden. Im Zuge dessen sind eine ganze Reihe vorzüglicher und vielbeachteter Studien zur jüngeren Adelsgeschichte erschienen.

Von den dabei entwickelten Fragestellungen seien drei kurz erwähnt, zumal sie auch dem vorliegenden Sammelband - zumindest auf dem Papier - Struktur und Kontur verleihen sollten. In Anknüpfung an einen Gedanken von Rudolf Braun werden erstens Strategien und Techniken des "Obenbleibens", also der Bewahrung von Herrschaftspositionen unter jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen, untersucht. Eine solche Herangehensweise erfordert die Einbettung der Adelsgeschichte in allgemeine politische und gesellschaftliche Strukturen jenseits des Adels, was für das 19. und 20. Jahrhundert bedeutet, dass die Geschichte des Adels in der "bürgerlichen Gesellschaft" als eine Beziehungsgeschichte zwischen Adel und Bürgertum konzipiert werden muss. Daneben gilt, zweitens, die Aufmerksamkeit der Historiker in zunehmendem Maße auch den Mechanismen und Institutionen, welche in einer Zeit beschleunigter sozialer Differenzierung den inneradligen Zusammenhalt gewährleisteten und diese soziale Gruppe von außen im Grunde bis heute als vergleichsweise homogen erscheinen lassen. Drittens schließlich hat man unter dem Stichwort "Wiedererfindung" jene Anpassungsleistungen des Adels in den Blick genommen, die aus dem historischen gewachsenen Reservoir der Adelskultur schöpften und auf den Adel als eine vielgestaltige und wandelbare soziale Gruppe verweisen. Eine vierte Fragestellung, die meines Erachtens im Zentrum einer Geschichte des Adels in Deutschland stehen sollte, wird in der allzu knappen Einleitung der Herausgeber leider nicht erwähnt und hat demnach auch kaum Niederschlag in den Beiträgen gefunden, nämlich die nach der Demokratiefähigkeit der deutschen Adelsgesellschaft vor allem seit 1900.

Neben die allzu knappe Einleitung der Herausgeber sind zwei Beiträge gestellt, die unterschiedlicher nicht ausfallen könnten: Eckart Conze gelingt es, weiterführende Forschungsperspektiven und -konzeptionen für die deutsche Adelsgeschichte zu entwickeln und diese mit allgemeinen politik-, gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen vor allem im 20. Jahrhundert zu verknüpfen. Deutlich konturiert er die Adelsgeschichte als ein eigenständiges Forschungsfeld, das jedoch fest in der allgemeinen Geschichte verankert bleibt und nicht zur Spielweise für verschrobene Experten verkümmert. Hannes Stekl hingegen bietet eine reine Verlaufsgeschichte des (deutsch-)österreichischen Adels in einem Staat, der nach 1918 keinen Adel mehr kennen wollte. Gerade dieser Umstand ermöglicht es Stekl, die Mechanismen sozialer und kultureller Distinktion sowie die adligen Konzeptionen zur Rückeroberung der Teilhabe an politischer Herrschaft sehr differenziert und plausibel herauszuarbeiten, wenngleich sein Urteil über das Verhältnis des österreichischen Adels zum Nationalsozialismus vielleicht doch zu wohlwollend ausfällt.

Zur Anlage des Bandes: Die folgenden sechzehn Beiträge sind in drei kaum plausibel voneinander abgegrenzte Abschnitte unterteilt, in denen kulturelle, ökonomische und soziale Aspekte der Adelsgeschichte beleuchtet werden. Diese starre Gliederung kann schon allein deshalb nicht funktionieren, weil gerade der Adel als Untersuchungsgegenstand die wechselseitige Verschränkung dieser Analysekategorien verlangt. Warum der erste Abschnitt mit dem nichts sagenden (und unzutreffenden) Titel "Ästhetik" und nicht beispielsweise mit "Adelskultur" überschrieben ist, bleibt ein Geheimnis der Herausgeber. Auffallend ist auch, dass ein eigener, eigentlich unverzichtbarer Abschnitt zur politischen Geschichte des Adels im 20. Jahrhundert fehlt. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Neun Beiträge befassen sich mit dem hohen Adel, nur sieben mit dem niederen Adel; gerade einmal drei Beiträge befassen sich mit Aspekten der Geschichte des nordostdeutschen Adels, nur einer indirekt mit der politischen Wirkungsmacht der "Ostelbier" am Ende der Weimarer Republik. Sicherlich ist es zu begrüßen, dass die alte "Junkerforschung" mit ihrer Konzentration auf den ostelbischen Raum von differenzierteren Ansätzen abgelöst worden ist. Doch wird mit einer derart unausgewogenen Auswahl und der weitgehenden Ausblendung der politisch bedeutsamsten Adelsgruppe in Deutschland Adelsgeschichte (dann auch zu Recht) an den Rand des Faches gedrängt.

Dabei bezeugen einzelne Beiträge doch die innovative Forschungsdynamik der modernen Adelsgeschichte. Ewald Frie portraitiert knapp - man sollte daher besser gleich zu seiner Marwitz-Biografie greifen - die Eigenheiten und Wandlungen der brandenburgischen Adelskultur während der "Sattelzeit" und betont dabei die "stete Selbstveränderung" des Adels. Ilona Buchsteiner, Axel Flügel und Christoph Franke liefern für Mecklenburg, Sachsen und Bayern wertvolles, weil noch immer kaum systematisch aufgearbeitetes Datenmaterial zu Besitzverhältnissen, Berufswahl, demografischem Verhalten etc., das allerdings in allen drei Fällen stärker an allgemeine Fragestellungen hätte rückgebunden werden müssen. Siegfried Grillmeyer, an Bourdieus Theorie der Kapitalsorten geschult, untersucht am Beispiel der hochvermögenden und mit ihrem Vermögen (nach der Logik des bürgerlichen Marktes) verschwenderisch umgehenden Familie Thurn und Taxis die wechselseitige Verschränkung von symbolischem und kulturellem Kapital als etwas Eigenes der Adelsgeschichte. Am Beispiel von drei Biografien skizziert Karina Urbach die politischen Handlungsspielräume süddeutscher Standesherren insbesondere im Kaiserreich, aber auch - endlich - deren Avancen an die aufkommende Neue Rechte und den Nationalsozialismus. Stephan Malinowski schließlich tritt, den ökonomischen und sozialen Abstieg beträchtlicher Teile des Adels nach 1918 beschreibend, als agent provocateur auf: Die Entstehung eines quantitativ beträchtlichen "Adelsproletariats", das gleichzeitige Festhalten des Kleinadels an einem spezifisch adligen Herrschafts-Habitus und die weiterhin wirksame charismatische Ausstrahlung des adligen Kulturmodells waren - neben partieller ideologischer Übereinstimmung - wichtige Faktoren im Radikalisierungsprozess weiter Teile des Adels, die diese am Ende der Weimarer Republik an den Nationalsozialismus heranführten.

Insgesamt fehlt dem Band Kohärenz, die mittels konsequent durchgehaltener Fragestellungen und einer sinnvollen, thematisch strukturierten Konzeption vielleicht hätte erzielt werden können. Wer sich einen Überblick über die Forschungslage in der Adelsgeschichte verschaffen möchte, sollte besser zu den vorliegenden Monografien der Autoren oder zu anderen Sammelbänden [1] greifen.

Zwei Nachbemerkungen noch: Möglicherweise sahen sich manche Autoren durch den genius loci (Schloss Büdingen) und die Gastgeber (Fürsten Ysenburg) dazu verpflichtet, dem Forschungsgegenstand erhöhte Ehrerbietung zu erweisen. Doch sollte dabei nicht vergessen werden, dass der professionelle Historiker in wenigstens gleichem Maße der kritischen Distanz gegenüber dem Forschungsgegenstand verpflichtet sein sollte. An die Adresse des Verlages ergeht schließlich der Hinweis, dass es sich bei WinWord nicht um ein Setzprogramm handelt. So mancher ärgerliche, die Lesbarkeit einschränkende Formatierungsfehler hätte sich nach einer genaueren Durchsicht des Manuskripts möglicherweise abstellen lassen.


Anmerkung:

[1] Heinz Reif (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland I und II. Entwicklungslinien und Wendepunkte, Berlin 2000 / 2001; Silke Marburg / Josef Matzerath (Hg.): Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln 2001; Eckart Conze / Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004.

Marcus Funck